Arno Holz-Schule

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Antreten zum Dichten
Etwas mehr dazu …

Zum 150. Geburtstag von Arno Holz
am 26. April 2013

Antreten zum Dichten!
Lyriker um Arno Holz

Rolf Wolfgang Martens
Ludwig Reinhard (d. i. Reinhard Piper)
Robert Reß
Georg Stolzenberg
Paul Victor

Mit Nachwort herausgegeben
von Robert Wohlleben

Oktav, 160 Seiten. Preis kart. 13 Euro
ISBN 978-3-942901-07-9

Reinecke & Voß

Im März 2013 bei
Reinecke & Voß, Leipzig.


Das Regiment Sassenbach (1897 bis 1903)
Lyrik aus der literarischen Werkstatt um Arno Holz
von Robert Wohlleben

Justice does not happen by chance;
indeed, something that subjective
may never have happened at all.

Ward Keel

1898 und 1899 erschienen im Verlag von Johann Sassenbach, Berlin, unter anderem sieben Hefte mit Gedichten: »Neues Leben« von Georg Stolzenberg in zwei Heften (1903 folgte ein drittes) [1], »Farben« von Robert Reß [2], »Meine Jugend I« vom späteren Verleger Reinhard Piper unter dem Pseudonym Ludwig Reinhard [3], »Befreite Flügel« von Rolf Wolfgang Martens [4], »Phantasus«, erstes und zweites Heft, von Arno Holz [5]. Alle Gedichte darin sind ohne Reim und ohne festes Versmaß, ihre Zeilen sind auf Mittelachse angeordnet.

Die beiden Hefte »Phantasus« von Arno Holz finden auch heute noch im literarischen Bewußtsein eine Schublade: groß genug für das Reclam-Bändchen Nr. 8549 [6]. Die Gedichte der anderen dagegen sind vergessen. In der Literaturwissenschaft fanden sie keine Gnade: »Unfreiwillige Parodien« nennt Gerhard Schulz sie im Nachwort zur kleinen »Phantasus«-Ausgabe bei Reclam [7], und Helmut Scheuer beklagt 1971 »die banale assoziative Technik in holprigen Versen« [8].
 

Gedicht zwischen den Kriegen

Ein Gedicht des Holz-Schülers Robert Reß führt in die Zeit kurz vor 1900. Das Gedicht kann zeigen, wie die literarische Methodik der »Holz-Schule« darauf angelegt war, mit einem Minimum an Mitteilungen auf komplexe Befindlichkeiten durchblicken zu lassen:

Auf der Schützenwiese
zwischen Menagerieen, Riesendamen und Seiltänzern,
unter sich ein Postament von Granit,
steht
»das Vaterland«.

Eine schwarze, gusseiserne Puppe mit Augen aus Fensterglas.

Bunte Papierfähnchen zu ihr hinauf
schwenken Kinder.

Würdige Herrn in Frack und Orden
schwitzen feierliche Reden.
Sie glotzt ins Leere.

Sie ist ein Riesenofen,
der uns alle verbrennen wird. [9]

Das personifizierte Vaterland der Kaiserzeit waren die Germania-Statuen in ihrer ganzen gründerzeitlichen Pracht. Robert Reß hat gerade Gänsefüßchen dafür übrig. Er kontert die schweißtreibenden Rituale des Chauvinismus mit dem Volksvergnügen – dazwischen die Kinder. Einige von ihnen waren vielleicht bei Langemarck. Fünfzehn Jahre danach. Wo ein Lexikon wie der knappe Pierer von 1888–1893 zwanzig Einzeldaten bei der Beschreibung der Deutschlandallegorie auf dem Niederwalddenkmal braucht, kommt Reß mit ein paar Materialmerkmalen der Statue aus: schwarz, gußeisern, Fensterglas.

Anders – nicht besser! – geht er mit den Anbetern dieses Symbols um: Es sind »Herrn« und nicht etwa Männer, sie tragen »Frack« und nicht etwa schwarzes Tuch, ihre Äußerungen sind »feierliche Reden« und nicht Blabla: Reß ›schenkt‹ ihnen ihre Sprache und ihren Wahn. Und DAS ›sitzt‹: »würdige Herrn« und Rummel mit Riesendamen – Freak-Show hier wie da.

Dazwischen die Kinder: Hier sagt Reß schlicht, was sie tun. Die »Herrn« und ihre »Puppe« zeigt er in aller Fratzenhaftigkeit. Nicht so die Kinder, die da mit Firlefanz und Brimborium für den Sturm – ins Maschinengewehrfeuer! – konditioniert werden.

In der Patriotismusfarce sieht Reß den nihilistischen Abgrund, den mörderischen und selbstmörderischen Aspekt. Die »Puppe« ist in Wahrheit ein Moloch (2. Kön. 23, 10).

Matrosen der Kaiserlichen Marinein Tsingtau um 1900

Matrosen der Kaiserlichen Marine
in Tsingtau um 1900
(Photograph: C. Takahashi;
Postkarte des Altonaer Museums)

 

Anhaltspunkte für die grimmige Prognose, für die Kriegsfurcht gab es zur Genüge. Nur wenige Fakten aus der Zeit des Gedichts: Bei der Niederschlagung der Witboi-Nama 1894 und der Zwartboi-Hottentotten 1897 sowie bei der Besetzung Kiautschous 1897 *) hatte das Deutsche Reich blankgezogen. 1898 wurde der weitere Ausbau der Kriegsflotte beschlossen. Im übrigen begünstigte die Industrie zu Ende des 19. Jahrhunderts eine rasante Technologieentwicklung und veränderte die Realität. Die großen Städte wuchsen monströs, zum Beispiel Berlin von 1870 bis 1900 um mehr als eine Million auf 1,9 Millionen Einwohner. Das soziale Klima **): Eine Gesetzesvorlage von 1899 sah härtere Strafen bis hin zu Zuchthaus für Streikführer vor (diese »Zuchthausvorlage« kam im Reichstag allerdings nicht durch).
 

Holzsche Experimente: »einfach und natürlich«

Kurz vor der Jahrhundertwende sammelte Arno Holz in Berlin seine ›Schule‹ um sich, wie er das nannte. Damit setzte er erweitert fort, was er mit Paul Ernst (1866 bis 1933) begonnen hatte: 1895 bis 1897 arbeitete Holz eng mit Paul Ernst zusammen. Ernst war nach Berlin gekommen, um – nach seinen Worten – endlich ein Dichter zu werden. Holz war damals kaum produktiv. Der Kampf um den literarischen Naturalismus war abgeflaut. Arno Holz fühlte sich zunehmend entmutigt und enttäuscht. Im Verlauf der Zusammenarbeit mit Paul Ernst fand Holz aber wieder zu neuer Produktivität. Die »Sozialaristokraten« und – ab 1896 – verstärkte lyrische Arbeit sind das Ergebnis. [10]

Anfang der neunziger Jahre hatte Arno Holz den Ansatz zu einer Gedichtform gefunden, mit der er Konventionalisierungen in der zeitgenössischen Lyriksprache »überwinden« wollte. Gedichte sollten »so natürlich und einfach als nur irgend möglich« sein. [11] 1899 erschien die theoretische Schrift mit dem anspruchsvollen Titel »Revolution der Lyrik«. Darin begründete Holz die Überwindung der überkommenen Lyriksprache zugunsten eines motivgerechten Sprechtons. Dabei ging es ihm um »Erneuerung der Technik, Verschmähung aller alten Mittel auch auf diesem Gebiet«. [12] An dieser Bemerkung von 1894 wird deutlich, wie stark er mit dem Wandel der gesellschaftlichen Wirklichkeit, mit dessen Tendenzen im Rapport war.

Nägel mit Köpfen: Werkstatt für Lyrik

Ab 1897 kam um Arno Holz eine Gruppe schreibender Freunde zusammen. Der Gesangslehrer Robert Reß (1871 bis 1935) sowie der Klavierlehrer und Komponist Georg Stolzenberg (1857 bis 1941) gehörten als Kern dazu. Ferner Rolf Wolfgang Martens (1868 bis 1928), den Reinhard Piper in seinen Erinnerungen einen »Beinahe-Millionär« nannte. [13] Der junge Buchhandelsgehilfe und spätere Verleger Reinhard Piper (1879 bis 1953) wurde hinzugezogen. [14] Auch der Dichter Paul Ernst (1866–1933) gehörte zeitweise dazu.

um 1900

Um 1900
Stehend v.l.n.r.: Oskar Jerschke, Robert Reß, Reinhard Piper
Sitzend rechts: Arno Holz; daneben Emy Reß

Die Gruppe traf sich regelmäßig in der Dachkammer von Arno Holz. Sie war auf die Prinzipien der Holzschen Lyrikkonzeption eingeschworen. Für Arno Holz war sie seine »Schule«. Reinhard Piper nannte die Gruppe umgangssprachlich »Corona«. [15] Nach dem Erscheinen der Gedichte im Verlag Sassenbach kam in der Gruppe die Benennung »Regiment Sassenbach« auf. [16]

Reinhard Piper deutet in seinen Erinnerungen eine Arbeitsweise an, bei der die Gruppenmitglieder ihre Gedichte »einander mitgeteilt« haben [17] – ob es so egalitär zugegangen ist? Im selben Zusammenhang grenzt sich Piper nämlich ab: »Holz war herrschsüchtig und trat sehr diktatorisch auf.« [18] Er hat Arno Holz aber auch als Lehrer erlebt, dem er nachhaltige Sprachschulung verdankte. [19]

Die Rolle von Arno Holz bei der Arbeit an den »mitgeteilten« Texten ist absolut dominant im folgenden Erinnerungsfetzen von Georg Stolzenberg: »Beklommen sehe ich ihm zu, erwarte den bekannten Griff nach dem Faber, um mit klugem Strich Kurzes noch kürzer zu ballen und das Zuschieben: ›So, nu lesen Se ’t mal!‹« [20]

Einen kleinen Einblick in Holzens Art, in Texte einzugreifen, gibt ein Brief an Stolzenberg: »Ihr pp. Poem, das mir so gefiel, fing, wenn ich nicht irre, ›Seit du mich verließest, glaubte ich an kein Glück mehr‹ an. Wir änderten dann ›Ich glaubte an kein Glück mehr‹. Aber auch DIE Zeile will mir, wenigstens noch nicht ganz, gefallen, und ich schlage Ihnen daher DEFINITIV als Anfang folgende vor: ›Ich glaubte nicht mehr an ein Glück‹«. [21]

Holz erinnert sich an die Arbeitssitzungen mit Paul Ernst; sie dürften ähnlich verlaufen sein wie die Treffen des »Regiments Sassenbach«: »Dann kam meine Kritik. Jedes Wort, jeder Hauch! Mit allen Drums und Drans! Jedes Tüpfelchen setzte ich Ihnen auseinander! Bis dann oft schließlich keine Zeile mehr blieb.« [22] In einem nachgelassenen Manuskript von Paul Ernst sind verschiedene von Arno Holz veranlaßte Streichungen in Ernstschen Texten verzeichnet; Ernst bemerkt dann zu den darüber hinausgehenden Änderungen, »daß Holz nach der Verlesung erklärte, das und das wirke nicht, daß ich dann ihn verließ und etwas anderes suchte; verschiedentlich […] habe ich eine Stelle sehr oft umgeändert, bis Holz die Wirkung auf sich constatierte«. [23]
 

Alchemist, Chirurg, Puppendoktor …

Die gemeinsame Arbeit mit Arno Holz als dem Meister der Werkstattgruppe umschreibt dieser selbst:

Auf meinen Probiertisch,
unter die Schusterkugel,
schleppen die jungen, täppischen Riesen mir ihre Missgeburten.

Die leblosen Gliederchen hängen schief, die Aeuglein drehn sich nicht,
lauter Alräunchen!

Hier renke ich ein Rückgrat ein,
dort trepaniere ich eine Schädeldecke,
mit einem Zwirnsfaden, kunstvoll, knipse ich ein Bein ab.

Dann nehme ich ein Prieschen,
rücke die schwarze Hornbrille und stelle die Lampe zurecht.
So.
Nun stippe ich in den Farbentopf.

Polichinell, der noch zu gebildet aussieht, kriegt als Nase eine Leberwurst,
Colombinchen, noch immer nicht schön genug, ein Zinnobermäulchen,
ein quäkendes Engelsküken, hilft ihm Alles nichts, einen Perlmutterpopo! [24]

In seinem Verständnis seiner Rolle überlagern sich also verschiedenste Funktionen: Mechaniker, Chirurg, Puppendoktor, Kostümbildner, schließlich auch Magier oder Alchemist, der die Homunkuli der anderen zum Leben erweckt. Er sitzt am ›Probiertisch‹, in einem Labor also – in der Humorigkeit stecken ernsthafte Mitteilungen.

Die ›Schüler‹ erkannten Arno Holz als den Werkstattleiter an. Die hierarchische Ordnung wurde humoristisch überspielt, indem alle Gruppenmitglieder einen Meistertitel bekamen. Fünf ›Meister‹ im Dachkammer-Gedicht von Arno Holz (riecht nach Parodie auf den George-Kreis mit nur einem Meister [25]). »Der Meister, der Meester, der Maëstro, der Maëstrino und der Maëstrillo«. [26] Nach den erweiterten Neufassungen des Dachkammer-Gedichts seit 1916 lassen sich vier der Titel klar zuordnen: Martens der »Meister«, Stolzenberg der »Maëstro«, Reß der »Maëstrino«, Piper der »Maëstrillo«. [27] Der berlinisch derbe »Meester« vermutlich Arno Holz selbst. Gerhard Schulz bringt den »Meester« des 1899 veröffentlichten Gedichts mit Max Wagner (1879 bis 1949) in Beziehung [28] – das ist jedoch falsch: Der Freund und Arno-Holz-Archivar Max Wagner kam erst kurz NACH 1900 mit Arno Holz in Kontakt. [29]
 

Lyrikwerkstatt als Sprachlabor

Bei den Arbeitssitzungen der Gruppe sorgte Holz dafür, daß die ›Schüler‹ an ihren Gedichten so lange weiterarbeiteten, bis sie den – von ihm geprägten – Kriterien der Gruppe standhielten. Das Ausprobieren von alternativen Entwürfen war wichtige Verfahrensweise in der Arbeit der Werkstattgruppe.

Eine Reihe von Motiven findet sich in verschiedenen Bearbeitungen: Abend am Grunewaldsee bei Martens, Piper und Holz, »Milljöh« bei Martens und Reß, der pathetische Panzerreiter bei Holz, Martens und Reß (und bei Stolzenberg in hinreißender »Verarschung«), Smalltalk auf leerlaufenden Gesellschaften bei Reß, Holz, Stolzenberg und Martens (und Paul Ernst), Tod der Mutter bei Reß und Stolzenberg (danke, KMR!), Paradiese hinter Zäunen oder Mauern …

So oft, wie die Parallelgedichte in den Heften der Gruppe begegnen, scheint mir: da hat sich die Gruppe ›Aufgaben‹ gestellt – Motive, die dann jeder für sich abzuarbeiten hatte (klar nachweisbar im Fall der Tiergarten-Gedichte von Holz und Ernst). [30]

Helmut Scheuer stellt die Werkstatt-Gruppe unter die Überschrift »Dichterkreis als Verehrergemeinde« und versucht, »der inneren Struktur von Abhängigkeiten« und »Herrschaftsstrukturen« auf die Spur zu kommen. [31] Die Holzsche Dominanz in der Dichtergruppe ist als Paradigma dafür genommen. Aber den ›Schülern‹ geschieht Unrecht, wenn zur Unterstreichung der These bei ihnen nur »die banale assoziative Technik in holprigen Versen« festgestellt wird. [32] Als Banalitätsbeleg teilt Helmut Scheuer ein Gedicht von Robert Reß mit [33] (das sich aber durchaus auch als »gekonnte« Groteske mit scharf paradoxen Zuspitzungen lesen läßt).

Helmut Scheuers Abstandnahme scheint nicht so weit entfernt von der Abfertigung in Richard M. Meyers zeitgenössischer Darstellung »Die deutsche Literatur des Neunzehnten Jahrhunderts« zu sein, wo an den jungen Dichtern (»diese neue Dilettantenschule«) »die unbewußte Weisheit, die die chaotischen Eindrücke zu einheitlicher Wirkung ordnet«, vermißt wird. [34]

Bei Meyer führte allerdings offener Dégoût die Feder, wie der folgende Angriff auf die Holz-Schule deutlich macht: »Schrecklich aber sind die, die ganz aus der Doktrin selig werden. Ein neuer Dichterhabitus ist Mode geworden: weiche bartlose Gesichter mit glattem, mauerartig anliegendem Haar und sehr weicher Stimme schauen aus samtkrägigen langen Röcken im Schnitt der Biedermeierzeit heraus. Von ihnen erscheinen jeden Tag Bändchen voll bedeutungsloser Impressionen; was man sonst dem Tagebuche anvertraute, muß nun unter den Titeln ›Meine Jugend‹, ›Neues Leben‹, ›Befreite Flügel‹, ›Farben‹ u. dgl. ins feindliche Leben hinaus.« [35] – Richard M. Meyers ausufernde Häme ist darin begründet, daß er Partei im damaligen heftigen Literaturstreit zwischen »Hauptmannianern« und »Holzianern« war.

In unvoreingenommener Sicht ist zunächst LABORMÄSSIGES EXPERIMENT das Muster für die Zusammenarbeit im »Regiment Sassenbach«: Bedingungen verändern und sehen, was herauskommt; welche Beschaffenheit das Material hat; wie sich das Werkzeug – der Kopf also – bewährt; wie zu Voraussagen zu gelangen ist.

In der Biographie von Arno Holz gab es Vergleichbares schon, als Johannes Schlaf und er sich seinerzeit von ihrem letzten »Sechser« Öl und Docht kauften, um im abgedunkelten Zimmer die für »Papa Hamlet« zu beschreibenden »Nachtlichteffekte« zunächst in natura zu produzieren. In späteren Jahren, bei der Arbeit am großen »Phantasus« kam Arno Holz dazu, Texte ingenieurmäßig durchzukalkulieren und zu montieren. Das sind alles Versuche, Wege zur ›Sprache im technischen Zeitalter‹ zu finden. [37]

Als späte Anspielung auf Werkstattarbeit ist Holzens Ausbau eines Gedichts von Hans Schlegel (1882 bis 1957) zu verstehen: »Kennst du das Land«. [38] Holz exemplifizierte dort für Hans Schlegel die »Dynamik« und »Statik« seiner späteren Phantasus-Lyrik.

Arno Holzens Bedeutung als Anreger, teils Ausbilder und letztlich Kontrollinstanz in der Werkstattgruppe ist deutlich. Es sieht nach allem so aus (gerade beim Vergleich der ›Parallelgedichte‹), als habe Holz die anderen Gruppenmitglieder gezielt dazu stimuliert, zu ganz persönlich geprägten Ergebnissen in ihrer Lyrik zu finden – zum EIGNEN Ton. Sein von der Gruppe akzeptiertes Lyrikkonzept war nicht mehr als eine Methode des ›Hinsehens‹ und der Arbeit an Mitteilungsstrukturen.
 

Der Jammer mit den Verkennungen

Zu ihrer Zeit sind die Gedichte des »Regiments Sassenbach« durchaus vom literarischen Publikum wahrgenommen worden. Eine Reihe von Gedichten hat zum Beispiel Hans Benzmann in seine recht verbreitete Anthologie »Moderne Deutsche Lyrik« aufgenommen; sie erschien bei Reclam, vermutlich 1904. Auch die Parodien Hanns von Gumppenbergs in seinem populären »Teutschen Dichterroß, in allen Gangarten vorgeritten« (1905) sind Beleg für den nicht geringen Bekanntheitsgrad.

Inkonsequent ging Albert Soergel in »Dichtung und Dichter der Zeit« von 1911 mit der Lyrik des »Regiments Sassenbach« um. Über viele Seiten geht er auf die Holzsche Theorie der »letzten Einfachheit« und »möglichsten Natürlichkeit« ein. Er sperrt sich aber gegen die Gedichte der ›Schule‹. Sein Stichwort am Rand: »Nachfolger und Nachahmer«: »Sie kopierte die Eigenart seines Rhythmus, sie übernahm Motive und variierte sie unglücklich, sie scheiterte an der Klippe der Trivialität und wirkte unfreiwillig auch mal komisch. Weniges haftet in der Erinnerung, wie einiges von Georg Stolzenberg […]. Dagegen wirken die Gedichte von Robert Reß und Reinhard Piper schon wie Parodien auf die Holzsche Form. Und bezeichnend: sie schweigen nach dem einen Buche.« [39]

In wenigen Sätzen versammelt Soergel eine ganze Reihe unhaltbarer Behauptungen. Mit ›Rhythmus‹ fängt es an. Der liegt ja bei Holz gar nicht als Regularität vor, die etwa konstant wiederkehrt und damit erst kopierbar wäre. Das Scheitern »an der Klippe der Trivialität« steht wie ein Tatsachenbefund da, ist aber nicht mehr als ein Soergelsches Geschmacksurteil – mit Wurzeln vielleicht in der Klopstockzeit mit ihren möglichst ›erhaben‹ angesetzten dichterischen Gegenständen. Da fallen die Streichholzschachtel von Robert Reß, Pipers Bonbontüte und viele andre Ausschnitte aus Mikrokosmen ja todsicher durch. Geschmacksurteil ist es auch, wenn da auf Soergel etwas komisch oder wie Parodie wirkt – hatte er keinen Humor? Krämerhaft die Abfertigung von Reß und Piper, weil sie nicht MEHR geschrieben haben: Seit wann macht es die Menge?! Ferner läßt sich bei Motivgleichheit oder -ähnlichkeit nicht – wie Soergel es tut – einfach davon ausgehen, daß die betreffenden Motive von Holz stammen. Er übersieht dabei die Möglichkeiten, daß Holz seinerseits ein fremdes Motiv variiert oder mit seinen ›Schülern‹ parallel gearbeitet hat.

Soergels ›griffige‹ Bewertungen bestimmen die literaturwissenschaftliche Wertung bis heute. So übernimmt Gerhard Schulz – nachdem er zunächst Reinhard Piper und dessen Pseudonym Ludwig Reinhard als ZWEI Dichter registriert hatte! (vom »Meester« zu schweigen) – im Nachwort zum Reclam-»Phantasus« pauschal: »Aber was hier herauskam, waren unfreiwillige Parodien.« [40]
 

Lyrik im technischen Zeitalter

Arno Holz und seine ›Schule‹ halten in miniaturisierten Skizzen fest, was für einen Augenblick im Bewußtseinsstrom vorbeitreibt und was dies im Bewußtsein anstößt. Da kann eine Streichholzschachtel, eine Litfaßsäule, eine Eisenbahnfahrt zum Motiv werden. Aber auch Träume, Gedankenspiele, Erinnerungen, Gefühlsabläufe gingen in die Gedichte ein. Auf dem »Probiertisch« wurde beobachtet, wie sich individuelles Bewußtsein im Industriezeitalter befand.

Jost Hermand sieht in seinem Nachwort zum Johnson-Reprint des »Phantasus« zu Recht eine »neue Welthaltigkeit« von Arno Holz angestrebt. Mit Bezug auf das zweite »Phantasus«-Heft stellt er zutreffend fest: »Das neue ›Weltbild‹, um das fast alle Lyriker dieser Ära ringen, soll hier nicht durch einen Rückfall ins Archaische erreicht werden, sondern durch eine immer stärkere Aufsplitterung und Facettierung aller erreichbaren Wissens- und Gefühlskomplexe, seien es nun Träume, Visionen, instinkthafte Regungen, konkrete Erlebnisse, Rückerinnerungen, Wissenschaftliches, Religiöses oder bloss Alltägliches. Das Ganze ist also ein erster Versuch der Bewusstbarmachung [!] aller verschiedenen Erlebnisbereiche, und zwar in ihrem unsortierten Neben- und Übereinander, was von fern den Freudschen Bemühungen in seiner ›Traumdeutung‹ (1900) entspricht.« [41]

Aber Hermand erkundet weder die Beschaffenheit dieser Bewußtseinsinhalte noch ihre Funktion fürs Verarbeiten von Realität in einem zwischen vielen Polen aufgebauten Feld. Er beschränkt sich auf die Einordnung in die philosophischen und literarischen Strömungen der Jahrhundertwende. Die Arbeit der ›Arno-Holz-Schule‹ – Bewußtsein FASSBAR zu machen – bleibt ganz außer Betracht. Die Tragweite der »Phantasus«-Konzeption Ende der neunziger Jahre kommt deshalb nicht recht in Sicht.

Die Lyrikkonzeption von Arno Holz und seiner ›Schule‹ bedeutet einen frühen Ansatz zur literarischen Methode des STREAM OF CONSCIOUSNESS. 1888 hatte in Frankreich Édouard Dujardin in seinem Roman »Les lauriers sont coupés« erstmals mit Bewußtseinsstrom als Algorithmus zur Texterzeugung experimentiert. 1901 erschien Arthur Schnitzlers Bewußtseinsstrom-Novelle »Leutnant Gustl«. Ein wichtiger Strang der Literatur des 20. Jahrhunderts – vertreten z.B. durch Alfred Döblin, James Joyce und Virginia Woolf – kündigt sich also auch in diesen frühen Versuchen der ›Holz-Schule‹ an.

Die Lyrik der ›Arno-Holz-Schule‹ ist in labormäßiger Werkstattarbeit entstanden. Das war ein modellhafter Versuch, Produktionsweisen des Industriezeitalters in die literarische Produktion einzuführen. An der Schwelle zur literarischen Moderne krempelte die Gruppe einfach um, was es an gefestigten Vorverständnissen gab von subjektgebundener Inspiration und vom ›stillen Kämmerlein‹ als Ort des Schöpfungsaktes.

Innenplakat von W. Jordan
Innenplakat von W. Jordan

1] Georg Stolzenberg: »Neues Leben«. Erstes Heft. Zweites Heft. Drittes Heft. Berlin: Sassenbach 1898, 1899, 1903.
2] Robert Reß: »Farben«, Berlin: Sassenbach 1899.
3] Ludwig Reinhard [d.i. Reinhard Piper]: »Meine Jugend I«, Berlin: Sassenbach 1899.
4] Rolf Wolfgang Martens: »Befreite Flügel«, Berlin: Sassenbach 1899.
5] Arno Holz: »Phantasus«. Erstes Heft. Zweites Heft. Berlin: Sassenbach 1898, 1899.
6] Arno Holz: »Phantasus«. Faksimiledruck der Erstfassung, hg. von Gerhard Schulz, Stuttgart 1968 (= RUB 8549/50, jetzt 8549).
7] Ebd., S. 147.
8] Helmut Scheuer: »Arno Holz im literarischen Leben des ausgehenden 19. Jahrhunderts (1883-1896)«, München 1971, S. 228.
9] Reß, a.a.O., S. 41.
10] Zur Beziehung zwischen Arno Holz und Paul Ernst vgl. Inge Zöllner: »Arno Holz und Paul Ernst. Der frühe ›Phantasus‹ und die ›Polymeter‹ – ein Beitrag zum Vergleich«, Mainz, Magisterarbeit 1983 (masch.).
11] Brief an Maximilian Harden. Vgl. Robert Wohlleben: »Der wahre Phantasus«, in: die horen, Nr. 116, 1979, S. 90.
12] Arno Holz: »Briefe«, hg. von Anita Holz und Max Wagner, München 1948, S. 95.
13] Reinhard Piper: »Vormittag«, München 1947, S. 225. (Martens hat noch mehr veröffentlicht, mindestens: »Störtebeker. Tragödie in fünf Akten«, Berlin: Sassenbach 1903.)
14] Ebd., S. 218.
15] Piper, a.a.O., S. 218 u.ö.
16] Georg Stolzenberg: »Arno Holz und ich«, Berlin-Friedenau 1937, S. 26.
17] Piper, a.a.O., S. 228 f.
18] Ebd., S. 228.
19] Ebd., S. 215 f.
20] Stolzenberg, Arno Holz und ich, S. 24.
21] Arno Holz: »Briefe«, a.a.O., S. 121. (Hervorhebungen von Arno Holz.)
22] Arno Holz: »Das Werk«, Bd. X, Berlin 1925, S. 407.
23] Zöllner, a.a.0., S. 88.
24] »Phantasus« (RUB), S. 105.
25] Vgl. auch Scheuer, a.a.0., S. 226.
26] »Phantasus« (RUB), S. 104.
27] Zuordnung nach Arno Holz: »Werke«, Bd. 3, Neuwied, Berlin-Spandau 1962, S. 56-260.
28] »Phantasus« (RUB), S. 111. [Späteres Bedenken: Meester = Paul Ernst?]
29] Vgl. dazu Scheuer, a.a.O., S. 230 (»1902«), sowie Bruno Sauer: »Arno Holz. Ausstellung zum 100. Geburtstag des Dichters«, Berlin 1963, S. 43.
30] Zöllner, a.a.O., S. 87; s. a. Robert Wohlleben: Der Leutnant im Tiergarten.
31] Scheuer, a.a.O., S. 223 ff.
32] Ebd., S. 228.
33] Ebd., S. 302: »Vgl. z.B. ein Gedicht von Reß aus ›Farben‹ (keine Seitenzählung): Aus der Sofaecke / predigt mein alter Grosspapa // ›Junge! / Dass Du nie heiratest!‹ // Entfaltet eine rote Kinderwindel / und schneuzt noch einen Placken Schnupftabak hinein. // Durch das Stübchen summen die Fliegen.«
34] Richard M. Meyer: »Die deutsche Literatur des Neunzehnten Jahrhunderts«, 3. Aufl., Berlin 1906, S. 868.
35] Ebd., S. 868 f.
36] Arno Holz: »Das Werk«, Bd. X, S. 253.
37] Vgl. auch Wohlleben, a.a.O., S. 96 f.
38] Arno Holz: »Kennst du das Land. Ein lyrischer Schriftwechsel mit Hans Schlegel«, hg. von Klaus M. Rarisch, Düsseldorf 1977. Dazu auch Robert Wohlleben: »Mignon und Merde. Oder: Über literarische Zusammenarbeit. Posthume Arno-Holz Miniatur bei den Eremiten«, in: die horen, Nr. 116, 1979, S. 117-119.
39] Albert Soergel: »Dichtung und Dichter der Zeit«, Leipzig 1911, S. 543-546.
40] »Phantasus« (RUB), S. 147.
41] Arno Holz: »Phantasus«, mit einer Einführung von Jost Hermand, New York, London 1968, S. XXXVI f. (s. auch S. XXIX).

Ohne das Motto und die Bilder erschienen in
Text+Kritik
Zeitschrift für Literatur

Nr. 121, Januar 1994, S. 105-113
edition text+kritik

Nachträglich hinzugegeben:

*) 1905 in Meyers Großem Konversations-Lexikon auf Seite 834 des 4. Bandes schneidig vermeldet:

 

Die Verletzung der Rechte eines Deutschen in Haiti durch die dortige Regierung wurde durch die Entsendung eines Kriegsschiffes rasch gesühnt. Auch in China, wo zwei deutsche Missionare ermordet worden waren, erzwangen deutsche Waffen Genugtuung und einen festen Stützpunkt für die deutsche Flotte: Kiautschou ward 14. Nov. 1897 besetzt.

**) Kennzeichnend fürs soziale Klima, was im Großen Meyer fünf Seiten vorher übers sogenannte Sozialistengesetz steht:

 

Im Winter 1889/90 stand die Verlängerung des Sozialistengesetzes zur Beratung. Die Regierung wollte es aus einem auf kurze Zeit bewilligten in ein dauerndes Gesetz verwandeln, aber die Nationalliberalen wollten für ein dauerndes Gesetz die Ausweisungsbefugnis nicht zugestehen, und so wurde 25. Jan. 1890 das ganze Gesetz abgelehnt.

Mit dem Sozialistengesetz hatte die Reichsregierung den sozialistischen Gärungen quasi durch Schwefeln mittels Gesetz beikommen wollen. Über dessen Zustandekommen, Stoßrichtung und Strafbewehrung weiß der Große Meyer im Band 18 von 1908 im Eintrag »Sozialdemokratie« zu berichten (Seite 634):

 

Die ganze Agitation war seit 1870 eine entschieden revolutionäre; mit großem Geschick wurden in der Presse die radikalen sozialistischen und politischen Anschauungen der S. erörtert und in den Arbeiterkreisen der Klassenhaß geschürt und revolutionäre Stimmung gemacht. Nachdem die Reichsregierung, um dieser Agitation, die zu einer ernsten Gefahr für den sozialen Frieden und das gemeine Wohl geworden war, wirksam entgegentreten zu können, im Reichstag vergeblich eine Verschärfung des Strafgesetzbuches versucht hatte, griff man nach den Attentaten von Hödel und Nobiling auf Kaiser Wilhelm (11. Mai und 2. Juni 1878), in denen man eine Folge jener Agitation erkennen mußte, zu dem Mittel eines Ausnahmegesetzes gegen die S., und es erging das zunächst nur bis zum 31. März 1881 gültige Reichsgesetz (Sozialistengesetz) vom 21 Okt. 1878 »gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der S.« Es suchte die gefährliche, das öffentliche Wohl schädigende sozialdemokratische Agitation zu unterdrücken. Es verbot daher bei Strafe Vereine, Versammlungen, Druckschriften sozialistischer, sozialdemokratischer oder kommunistischer Art; Personen, die sich die sozialdemokratische Agitation zum Geschäft machten, konnten aus bestimmten Landesteilen ausgewiesen, Wirten, Buchhändlern etc. konnte aus dem gleichen Grunde der Betrieb ihres Gewerbes untersagt werden; auch konnte über Bezirke und Orte, in denen durch sozialdemokratische Bestrebungen die öffentliche Sicherheit bedroht erschien, der sogen. kleine Belagerungszustand mit Beschränkung des Versammlungsrechts und Ausweisung ansässiger Personen verhängt werden. Das Gesetz wurde 1880 wiederholt, zuletzt bis 30. Sept. 1890 verlängert. Von diesem Tag ab trat es außer Kraft.

Motivgeflecht beim Regiment Sassenbach

Bedeutungslose Impressionen, unfreiwillige Parodien?
Die schwierige Rezeption der Gedichte
aus Arno Holz’ Lyrikwerkstatt
(bei signaturen-magazin.de)

Von Robert Reß gibts was zu HÖREN:

»Auf der Schützenwiese«

und
»Der Herr Privatdozent«

aus seinem Gedichtband »Farben« von 1899,
gesprochen von RW
und mit Gitarren begleitet von Bernd Liefke und Thomas Schmidt

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