Zu www.fulgura.de mit Navigations-Kolumne

Ernst-Jürgen Dreyer:
Sie werden wie gar nichts / Zusammen scheitern

 

»Schau mal, Papa, ein Basilisk!«
»Nein mein Sohn, ein Basilisk ist eine römische Kirche – was du da siehst, ist eine Odaliske.«

Nicht jedem Dichter bietet sich die Gelegenheit, anhand der Übersetzung eines seiner Gedichte zu erfahren, wie unzugänglich ab einem gewissen Grad der Verdichtung die Sprache – und sicher jede – dem Ausländer wird, auch dem, der die Sprache des Dichters scheinbar ausreichend beherrscht. Diese Unzugänglichkeit rührt daher, daß die Dichter in ihrer Sprache tiefer zu Hause sind, als ein »basic vocabulary« sich träumen läßt; sie tummeln sich in den idiomatischen Geheimgängen, Schrunden und Falten der Muttersprache und merken gar nicht, daß sie ausgetretene Wege meiden; sie rufen Bedeutungen hervor durch die Konstellation der Wörter, und sie bedienen sich auch ganz im Gegenteil wieder einer saloppen Ausdrucksweise, die an speziellem Ort wie ein Pfeilschuß ins Schwarze wirken kann. So endet Goethes Gedicht »Ins Weite« mit den Zeilen

 

Sie wissen gar nichts
Von stillen Riffen;
Und wie sie schiffen,
Die lieben Heitern,
Sie werden wie gar nichts
Zusammen scheitern.

Das »wie gar nichts« der vorletzten Zeile ist von der Treffsicherheit eines derart gängigen Idiomatikons, daß selbst das Stilwörterbuch des Duden es nicht verzeichnet. Immerhin gibt Wahrig im letzten Viertel einer Kolumne von Beispielen zum Stichwort »nichts« an

 

Er verschlang das Stück Kuchen wie nichts (umgangssprachlich)

und erklärt:

 

sehr schnell.

Das kann man sich noch transitiv vorstellen: Er verschlang das Stück Kuchen (so schnell), als äße er nichts. Aber ein transitives Verb ist gar nicht nötig; und Goethes »gar« verstärkt die idiomatische Wendung noch so, daß sie mit »sehr schnell« nicht mehr zu fassen ist: Sie werden, sagt der Vers, bombastisch scheitern, sie werden auf eine Weise scheitern, wie es »gar nicht« auszudrücken ist. – Dem Ausländer dürften solche Stellen zu unüberwindlichen Hindernissen werden, obwohl kein Deutscher sie mißverstehen kann (der ungebildete am wenigsten). Ich war mir nicht bewußt, in meinem Gedicht »Prosa-Übersetzung von Lyrik« gleich im ersten Vers ebenfalls undurchdringlich idiomatisch zu verfahren – bis ich das Gedicht Ende 2006 ins Russische übersetzt fand.

 

(A: Original)

Prosa-Übersetzung von Lyrik

nach einem Motiv von George Calinescu

Was die Seele führt an Laven,
Bildern, Klängen, die sich ballen,
die zu Caven und Enclaven
ausglühn, ausblühn zu Kristallen,

das erklären uns die Braven
zu Gedanken, die den Schnallen
spanischer Stiefel sich versklaven,
strengen Moden zu Gefallen.

Ewige Ideen! – rosa
dämmert Morgen überm alten
Kerker, den wir endlich stürmen!

Und es löst sich zu Gewürmen
auf und nebuloser Prosa,
was da Form war und basalten.

für Ursula Bociort

Zwar konnte ich die Übersetzung nicht lesen, aber die Wörter »lawinam« in Vers 1 (für »Laven«) und »poeti« in Vers 6 (für »die Braven«) stimmten mich mißtrauisch, und eine Rückübersetzung ins Deutsche förderte folgende Metamorphose meines Gedichts zutage:

 

(B: Rückübersetzung)

Das, was die Seele zu Lawinen,
Erscheinungen, Geräuschen und Gemälden führt,
die diesen ähnlich in Höhlen und Enklaven
zu Kristallen aufblühen,

erklären uns die Dichter,
die die Sonette Gesetzen unterworfen haben,
ähnlich den Schnallen eines alten
irgendwann früher modernen Stiefels.

Ewige Ideen! Mit zärtlichem rosa Aufgang
keimt der Morgen über dem alten
Gefängnis, welches wir erstürmen!

Und so: verwandelt sich
die Prosa, die härter als Basalt war,
in kriechendes Getier.

Gleich in Vers 1 hatte sich Subjekt in Objekt, Objekt in Subjekt verwandelt, und so hatte sich nahezu jedes Detail umgekehrt bis zum Schluß, wo im Deutschen die lyrische Form sich »zu nebuloser Prosa«, im Russischen aber »die Prosa, die härter war als Basalt«, in kriechendes Getier auflöst. Für den Dichter ein Anlaß, über die Mehrdeutigkeit der Sprache nachzudenken. Mehrdeutig sind offenbar schon die Wörter »führen« und »an«, denn sie scheinen sich zu einer Fortbewegung zu verbinden im Sinne von »jemand führt jemanden an einen Berg, an eine Schlucht, an einen gewissen Punkt.« Damit hat man schon jedes Wort falsch gedeutet, und übrigens würde man im Deutschen den anderen wohl eher »zu einem Berg, zu einer Schlucht« etc. führen. »Was die Seele führt an Laven« erschließt sich dem Deutschen aber über eine ganze Phalanx von Parallelwendungen wie

 

Was der Kaufmann führt an Waren

oder

 

Was der Berg führt an Goldadern.

Auch in diesen Wendungen ist ein Weg inbegriffen – eine Durchgangsbewegung: Was der Kaufmann an Waren führt, ist auf dem Weg vom Grossisten (oder vom Hersteller) zum Kunden; was der Berg an Goldadern führt, ist vulkanischen Ursprungs und auf dem Weg zum Bergmann (oder zur Erosion). Der Übersetzer, der »weiß«, was »führen« heißt, ist schon gescheitert; gerade die Wörter, die er kennt, werden ihm zur Klippe, denn er schlägt sie nicht nach. Schlüge er sie nach, so fände er eine Kolumne von Bedeutungen und unter der womöglich neunten – im Stilduden unter der Bedeutung 9.b – die Beispiele, die ihm weiterhülfen:

 

zur Zeit führt der Fluß Hochwasser; viel Geröll;
das Schiff hatte eine Ladung Erz geführt;
die Leitung führt keinen Strom.

Wenigstens kann man hieraus schon die transitive Bedeutung ablesen: Ist »der Fluß« (das Schiff, die Leitung) das Subjekt, »Hochwasser« bzw.»Geröll« (Erz, Strom) das Objekt, so kann im ersten Vers des Gedichts »die Seele« kein Akkusativobjekt, sondern einzig das grammatische Subjekt sein: Die Seele führt – nach Calinescu »Laven« (Akkusativ Plural von »Lava« und nicht etwa von »Lawine«): sie enthält diese und transportiert sie.

Aber schon droht die zweite Zweideutigkeit, in der Bedeutung der Präposition »an«. Daß »an« auf die Frage »wohin?« den Akkusativ, auf die Frage »wo?« den Dativ regiert – mit diesem »basic meaning« ist es ebensowenig getan wie mit der scheinbaren Selbstverständlichkeit des »Führens wohin«. Wieder muß sich der Übersetzer, Gewissenhaftigkeit vorausgesetzt, bis in die Mitte einer sechzehnpunktigen Bedeutungskolumne vorkämpfen, dann findet er – in Wahrigs Deutschem Wörterbuch – unter Bedeutung 7 – »versehen mit« – die hilfreichen Beispiele:

 

Es fehlt ihm an der nötigen Ausdauer;
reich an Erzen;
jung an Jahren;
haben Sie etwas an Sommerstoffen da?

In allen diesen Beispielen geht es um einen Vorrat – einen Vorrat, der vorhanden ist (2), einen Vorrat, den einer haben sollte, aber nicht hat (1), der im speziellen Fall gar nicht erwartet werden darf (3) oder nach dem sich jemand erkundigt (4). Im Gedicht ist dieser Vorrat indefinit, er kann größer oder kleiner sein; der Objektsatz »Was die Seele führt an Laven« entspräche in etwa dem Objektsatz

 

Zeigen Sie mir doch, was Sie an Sommerstoffen vorrätig haben.

Sonderbarerweise verhält es sich mit den Nomen »Bild« und »Klang« in Vers 2 ähnlich wie mit den Wörtern in Vers 1: auch ihre Bedeutung findet man im Wörterbuch nicht an erster Stelle. An erster Stelle geben sowohl Wahrig als auch Stilduden zu »Bild« die »Darstellung auf einer Fläche« an, obwohl doch das Bild urtümlicherweise dasjenige ist, was in der Seele »aufsteigt«, und dort gewiß nicht als »flächige Darstellung«, sondern als das, was aller Darstellung vorangeht und vorausgesetzt ist. Mit »aufsteigen« (wobei man sehr gut an die Lava denken kann) verknüpft Wahrig das »Bild« aber erst an dritter Stelle: »Vor meinem geistigen Auge steigen alle alten Bilder auf«; ähnlich, ebenfalls unter 3, das Dudensche Stilwörterbuch:

 

Vorstellung, Eindruck: Bilder der Vergangenheit stiegen vor ihm auf (gehoben), quälten, bedrängten ihn, verblaßten, versanken,

was ebenfalls an das Brodeln der Lava denken lassen könnte. – Auch das Wort »Klang« findet in beiden Wörterbüchern erst im letzten Drittel der Bedeutungskolumne zur Musik, so daß der Übersetzer scheinbar zu recht aus »Bildern, Klängen, die sich ballen« auf »Erscheinungen, Geräusche und Gemälde« schließt. Bilder und Gemälde, Klänge und Geräusche – das liegt scheinbar gar nicht weit auseinander, und man kann das Wort »Erscheinungen« als einen vom Übersetzer hinzuerfundenen Dachbegriff verstehen. Und doch führt die Aberration Übersetzung und Original schon diametral auseinander – erstens, weil die Fehldeutung von Vers 1 (die Verkennung des Zentralbegriffs »Lava«) nur Irrwege übrigläßt, zweitens, weil der Übersetzer versäumt hat, sich Rat aus der Überschrift des Sonetts zu holen. In dem Sonett ist, wie der Titel vorab klärt, von der »Prosa-Übersetzung von Lyrik« die Rede. Sieht man die Verse im Licht dieses Konus’, so kann es sich bei den Bildern nur um Sprachbilder, bei den Klängen nur um Sprachklänge handeln. Daß die Sprache der Lyrik eine Bildersprache ist, daran sei hier mit nur zwei Beispielen erinnert, mit Höltys Bach, der sich – mit einer grandios nüchternen Metapher –

 

durchs Gewinde des Veilchentals schraubt,

und mit Mörikes berühmten Versen

 

Gelassen stieg die Nacht ans Land,
Lehnt träumend an der Berge Wand.

Daß sich Klänge ballen können, diese Merkwürdigkeit erklärt sich, wenn man an die Klänge der Wörter denkt, ganz einfach – eine Klangballung ist zum Beispiel der Reim, und was in der Lyrik über den Reim hinaus an Klangballungen möglich ist, das können uns die Gedichte aller Zeiten lehren, zuvörderst Mörikes obige Zeile selbst mit ihrer Sprach-»Musik in A«: Gelassen… Nacht… Land. Aber Mörikes Adagio ist noch gar nichts – Clemens Brentano übertrifft es bis ins Kapriziöse –

 

Wie Kinder spielend in der Wiege liegen
Und beim Geschrill der Silberklingeln lächeln;

– und Klaus M. Rarisch beschwört den Petersdom mit einem geradezu bronzenen Gong-Geläut:

 

Der Dome Dom in Rom barockt und glockt.

Dies zu »Klang« und »Bild«. Aber selbst wenn der Übersetzer, Sprachklang und -bild umgehend, die eruptive Geburt der Lyrik als Paradigma auffaßte für die Geburt der Kunst überhaupt, so wären die Klänge einer Tonwelt, die im Gesang der Stimme hervortritt, per definitionem das Gegenteil von Geräuschen, wie umgekehrt die Bilder, in denen sich die bildenden Künste gebären, auf jeden Fall keine Gemälde wären mit ihrem Arsenal von Pinseln, Leinwänden und Tuben. »Bild« in der eidetischen Urbedeutung des Wortes kommt im Deutschen von »bilden« bzw. »sich bilden«, wie sich ja – dem Gleichnis Calinescus zufolge – bei der eruptiven Geburt der Kunst Höhlen, Einschlüsse und Kristalle von selbst »bilden.«

Um »die Braven« (Vers 5) nicht mit den »Poeti« selbst zu verwechseln, hätte der Übersetzer über die Überschrift hinaus noch den Kontext des Gedichts bedenken sollen. Denn den kleinen Zyklus von vier Sonetten in vierhebigen Trochäen, in dem »Prosa-Übersetzung von Lyrik« als vorletztes steht, eröffnen die Gedichtzeilen

 

Akademischen Eunuchen
(statt zu kuschen vor den Luschen)
in ihr Lebenwerk zu pfuschen,
wirst du bis zum Tod verfluchen.

Kein Adjektiv hat sich in der Bedeutungsfarbe weiter von seinem romanischen Ursprung entfernt als das deutsche »brav«: eine »brave Leistung« ist alles andere als eine »bravouröse«, ja die Bravheit ist das Gegenteil der Bravour; »brav« bedeutet »schulmäßig, akademisch« und paßt als Epitheton nahtlos zu den »akademischen Eunuchen« (den Goetheschen »lieben Heitern«). Diese – und nicht etwa die Dichter – sind denn auch mit den »Braven« gemeint. Das Wort »Dichter« steht ja im Deutschen auch gar nicht da (ebensowenig wie das Wort »Sonette«).

Aber gravierender ist, daß ein Schlüsselwort des zweiten Quartetts, das Wort »Gedanken« in Vers 7, in der russischen Version überhaupt fehlt. Der Übersetzer wußte damit natürlicherweise nichts anzufangen. Er hatte die eruptiv geborenen Bilder und Klänge als äußere Erscheinungen interpretiert. Daß, wie Calinescu sagt, die Bilder und Klänge der Lyrik mit magmatischer Wucht in der Seele zutage steigen und zu Geheimgängen ausglühen, zu Kristallen »ausblühen«, war unter den Tisch gefallen, und so konnte der Übersetzer dieser Auffassung auch gar nicht diejenige der »Braven« (der »akademischen Eunuchen«) gegenüberstellen, bei der Lyrik handele es sich um »Gedanken«, die nachträglich versifiziert, ja durch Versifizierung verformt, verdorben und entstellt seien. Der Unterschied ist aber fundamental: Stammen die lyrischen Gebilde aus dem Unterbewußtsein? oder stammen sie aus der Ratio? aus dem Hirn? Ist die lyrische Form das Ergebnis einer unter hohem (magmatischen) Druck erfolgten Kristallisation? oder ist die Lyrik die Entstellung allgemeinverständlicher »Gedanken« (oder, wie Z.9 es ausdrückt, »ewiger Ideen«), die durch spanische Stiefel von außen her in eine ihnen gar nicht adäquate Form gepreßt oder gequetscht wurden? oder gar zermust? – schließlich ist der »Spanische Stiefel« ein Folterinstrument, das die Füße zerquetscht. Auch diese Erklärung hätte der Übersetzer im Wahrig finden können.

An dieser Stelle lohnt sich vielleicht die Frage an den Leser, was denn er dazu meine – ob nun Calinescu recht hat mit seiner Theorie, in der Lyrik seien die Bilder (Metaphern) und Klänge, kurz, die Form und die Gestalt das Primäre – oder ob »die Braven« recht hätten mit ihrer Theorie, bei lyrischen Gedichten sei der Urstoff ein »Gedanke« – der eigentlich gar keine Gestalt hat, den man kurz oder lang, so oder so, englisch, deutsch oder russisch gleichgut ausdrücken könne. Entscheidet sich der Leser für die Vorstellung der akademischen Eunuchen, so muß er konsequenterweise folgern, Hölty habe eigentlich nur sagen wollen, der Bach fließe durchs Tal abwärts; Mörike haben den einfachen Sachverhalt, daß es Nacht wird, ziemlich merkwürdig ausgedrückt – wahrscheinlich der Versfüße halber, in denen er steckte –, Brentano habe doch nur gemeint, daß Babies im Kinderwagen beim Klingeln mit der Rassel Vergnügen empfänden; und bei Rarisch müßten die Folterschmerzen schon zu Geistestrübungen geführt haben, die eine allgemeinverständliche Art, seine Gedanken mitzuteilen, gar nicht mehr zuließen. Die Verben »barockt« und »glockt« gebe es ja gar nicht; »der Dome Dom« sei eine lediglich »dichterisch« noch gebräuchliche veraltete Zusammenpressung dessen, was in der freien Sprache »der Dom der Dome« heiße, und was man – die Aufsatzregel beachtend, derzufolge Wortwiederholung verpönt sei – noch treffender »den Inbegriff der Dome« nennen sollte. Die »ewigen Ideen« – z. B. daß der Petersdom barock sei und die Form einer Glocke habe –, könne man aber doch immerhin noch heraushören, und indem man das unverständliche Gebilde in Prosa übersetze, könne man die ewigen Ideen aus ihrem Kerker befreien, a) aus dem Kerker von Wortbildung und vorangestelltem Genitiv, b) aus der Metapher, c) aus dem Käfig des Klangs und seiner Ballungen, d) – fast überflüssig, das noch hinzuzufügen – aus ihrem Metrum und ihrem Reimschema, von den akademischen Eunuchen »Reimzwang« genannt. (Dem »Reimzwang« gilt das unmittelbar voranstehende Gedicht des Zyklus’ mit dem Titel »Orpheus.«) Also (auf Russisch etwa): »Der Inbegriff der Dome ist die barocke Peterskirche in Rom mit ihrer glockenförmigen Kuppel«… – Genau so könne man Mörikes »ewige Ideen« befreien – etwa so: »Langsam stieg der Mond aus dem Meer und schien am Rand des Berges zu kleben«, worunter man sich doch wenigstens etwas vorstellen könne.

– Auf das kardinale Mißverständnis des Schlußterzetts, das im Deutschen die Probe auf das Exempel des akademischen Wahns beschreibt, kommt es nach so vielen falschen Prämissen schon gar nicht mehr an. Wenn die russische Übersetzung überhaupt einen Sinn haben soll, dann allenfalls den gegenteiligen des Originals: Der Übersetzer identifiziert sich mit dem »wir« in Vers 11 und wirft den Poeten vor, sie hätten die Prosa (der ewigen Ideen?), die »härter als Basalt« gewesen sei, in kriechendes Vers-Gewürm verwandelt… Zwar paßt jetzt kein Stein mehr auf den anderen – aber dafür schließen in der russischen Version die Schlußzeilen eine trügerische Allianz mit dem Titel: Das Lob einer Prosa, die »härter als Basalt« war und sich (durch die Versifizierung?) nur in Kriechgetier verwandeln könne, scheint die im Titel genannte »Prosa-Übersetzung von Lyrik« zu rehabilitieren; ja es scheint zu behaupten, daß die von den Dichtern zu Gewürm aufgelöste Prosa sich durch die Prosa-Übersetzung ihrer Gedichte wiederherstelle zu basaltener Form…

Möglicherweise hat selbst zu dieser Bedeutungsperversion noch ein sprachliches Mißverständnis beigetragen. Denn weder im Wahrig noch im Dudenschen Stilwörterbuch findet man das Verb »sich auflösen zu« verzeichnet – obwohl doch kein Muttersprachler die uns zuströmenden Beispiele mißverstehen könnte – etwa

 

Der Schnee löste sich auf zu Matsch

oder

 

eine Form löst sich (etwa im Feuer) zu einer amorphen Masse auf

oder

 

Der Vers löst sich (in der Prosa-Übersetzung von Lyrik) zu nebuloser Prosa auf.

Freilich: das Adjektiv »nebulos« steht sehr wohl im Wörterbuch; es bedeutet nach Wahrig »unklar, verschwommen, nebelhaft« – und dies zu übersetzen mit »härter als Basalt« ist denn doch wohl keinem erlaubt. Aber dieser Gesichtspunkt gehört in ein anderes Kapitel – in das Kapitel »traduttore – traditore.«


 

Rechte bei Ernst-Jürgen Dreyer