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Da lachen wir drüber

Ernst-Jürgen Dreyer: Ein Fall von Liebeserschleichung


Die Anführungsstriche auf der Titelseite sind integraler Bestandteil dieses Politkrimis: «Ein Fall von Liebeserschleichung» ist das mildeste Delikt, das dem Ingenieur Radowitz von seinem früheren Betriebskoch und jetzigen Vorgesetzten Messerschmidt vorgeworfen wird; bei strengerer Beurteilung könnten ihm auch versuchte Republikflucht, Aufruf zur Konterrevolution und zur Wiedereinsetzung des Monopolkapitalismus in seine alten verbrecherischen Rechte, also Boykott- und Kriegshetze zur Last gelegt werden. Der Verfasser Emst-Jürgen Dreyer, 1934 geboren, promovierter Musikwissenschaftler, bekannt als Romancier («Die Spaltung», Hermann-Hesse-Preis 1980) und als Dramatiker («Die goldene Brücke», 1985 an den Münchner Kammerspielen uraufgeführt und als Buch im Verlag der Autoren erschienen), kam 1959 von der DDR in die Bundesrepublik. Alle seine Bücher reflektieren seine Erfahrungen mit dem «real existierenden Sozialismus» dergestalt, daß die «sozialistische» Realität auf das kapitalistische System projiziert und zugleich ins Surreale transportiert wird.

Der liebeserschleichende Radowitz ist als Filialchef der Frankfurter Zweigstelle eines Münchner Unternehmens der Typ des leitenden Angestellten, dem die Loyalität zur Firma über alles geht und der, trotz aller Anfechtungen, immer wieder zur Treue gegenüber einem undurchschaubaren Großkonzem, «Staat» genannt, zurückfindet. Der Roman beginnt mit dem Wort «Vielleicht» und Anfangssätzen im Konjunktiv; am Schluß kann sich Radowitz seine ausweglose Situation nur nach «den Gesetzen des Traums» erklären – politisches Bewußtsein hat er selbst durch lebensgefährlich-absurde Erlebnisse nicht gewonnen. Alle Frauen fallen für ihn traumhaft in eine, immer «Uschi» genannte, zusammen. Allen Schwierigkeiten entwindet er sich mit der stereotypen Phrase «da lachen wir drüber»; seine scheinbare Befreiung aus der Polizeihaft quittiert er mit einem idiotisch wirkenden Lachkrampf.

Radowitz ist damit nur der exponierte Vertreter jener gesamtdeutschen Mentalität, die auch auf die unglaublichsten politischen Wendemanöver nur mit Gelächter reagiert, mit einem Gelächter, das der Autor als kriecherisch, pflichtschuldig und gedämpft charakterisiert. Wenn Radowitz immer wieder an der Bürokratie scheitert, reagiert der «kleine Mann» – gleich ob aus Deutschland/West oder Ost – im Vollgefühl der eigenen Unauffälligkeit nur schadenfroh. Dreyers lapidares Fazit (S. 37) über die Deutschen: «Still atmet das Volk.»

Radowitz hat die gar nicht so utopische Wende in Frankfurt verschlafen und findet eines Morgens ein Telegramm seines Chefs vor, das ihn dringend in die Firmenzentrale nach München zitiert. Merkwürdigerweise braucht man plötzlich für die Fahrt dorthin Genehmigungen und Pässe, die aber dem Normalbürger, wenn überhaupt, nur nach stunden-, tage- und wochenlangem Schlangestehen in Ämtern und Behörden ausgestellt werden. Radowitz hat keine Zeit, besteigt den Zug nach München illegal und gelangt bis Würzburg. Nichts funktioniert mehr normal: Telefonate nach München müssen auf dem Postamt stundenlang vorangemeldet werden, und Brötchen gibt es beim Bäcker nur nach Vorbestellung zu kaufen. Was dem Leser schnell klar wird, kann Radowitz nicht begreifen. Er glaubt, Bonn hätte den Notstand ausgerufen oder die NPD hätte die Macht ergriffen. Als er die Rückfahrt nach Frankfurt antritt, merkt er nicht, daß die Fahrkarte nach Frankfurt an der Oder ausgestellt wird. Auch nachdem er in Frankfurt am Main seine Wohnung amtlich versiegelt vorfindet, geht ihm kein Licht auf. Er fährt mit seinem bereits beschlagnahmten Auto in Richtung Süden.

Vor Ulm wird er auf der Brücke gestoppt. Ohne zu begreifen, daß nun die Donau die neue Grenze darstellt, versucht er, über Donauwörth nach München zu kommen. Er gerät dabei in militärisches Sperrgebiet, das er für ein Truppenübungs- und Manövergelände hält. Als ihm Panzerkolonnen unbekannter Herkunft begegnen. scheinen ihm die Kampfgefährte «irgendwo im Ostblock gekauft». Er wird verhaftet, zum ixten Male verhört und von einem höchst wohlwollenden Polizeioffizier nach Frankfurt zurückgeschickt. Mit der noch immer naiven Frage «Sind wir schon ... bei der Diktatur des Proletariats?» meldet er sich bei seiner Firma und läßt sich von seinem früheren Koch endgültig für siebeneinhalb Monate hinter Gitter schicken.

Dann wird er – wie der Autor «zur Beruhigung des Lesers« sarkastisch anmerkt – vom unbesetzt gebliebenen südlichen Teil des Freistaats Bayern für 40 000 Mark freigekauft.

Postskriptum: Erst als eine Polizistin der neuen Ordnung sich von Radowitz nicht etwa vergewaltigen läßt, sondern quasi ihn vergewaltigt, gewinnt der biedere Ingenieur einen Hauch von Individualität – erst hier, in der Mitte des Buches, wird er mit seinem Vornamen Michael angesprochen.

Klaus M. Rarisch
die horen, Nr. 144 von 1986

Ernst-Jürgen Dreyer: «Ein Fall von Liebeserschleichung». Rogners Edition bei Ullstein, Frankfurt/Berlin/Wien (Rogner-Buch Nr. 11; Ullstein Bücher 38511), 154 Seiten.

Rechte bei Klaus M. Rarisch