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Poeten contra Proleten

Klaus-Michael Bogdal:
Schaurige Bilder.
Der Arbeiter im Blick des Bürgers
am Beispiel des Naturalismus.
Frankfurt: Syndikat 1978.

Von Klaus M. Rarisch

 

Was waren das für Schriftsteller, denen um 1890 plötzlich der Arbeiter in den Blick kam? Waren sie alle Bürger – nicht nur der Herkunft nach, sondern durch Besitz, Status und Lebensstil wie Gerhart Hauptmann? Oder waren nicht die meisten Naturalisten Verfolgte wie Oskar Panizza, Bohemiens wie Peter Hille oder Deklassierte wie Arno Holz, die stärkste Potenz des deutschen Naturalismus (Theo Meyer 1973)? Fragen, die Bogdal nicht beantwortet. Der einzige Autor, dessen Biographie er näher behandelt, ist Otto Erich Hartleben, der 1890 seine sichere Juristen-Karriere aufgab, um sich der SPD anzuschließen. Da Hartleben jedenfalls kein Opportunist war, bescheinigt ihm Bogdal wenigstens Unsicherheit und Hilflosigkeit gegenüber den Problemen der sozialen und politischen Wirklichkeit, und diese Haltung soll exemplarisch sein für die Naturalisten.

Bogdal reiht unzählige Metaphern zweitklassiger Autoren am roten Faden eines ideologischen Schemas aneinander. Die ermüdende Aufzählung zeigt aber nur, wie epigonal die poetischen Bilder waren, die den naturalistischen Mitläufern zur Verfügung standen. Bei ihnen erscheinen die Arbeiter als rohe Bestien in Schmutz und Schlamm, in einem nur mit Alkohol und animalischer Sexualität zu ertragenden Elend. Die Schriftsteller entdecken sie wie Forschungsreisende im Großstadt-Dschungel auf der Jagd nach exotischen Geschichten. Ängstlich auf die Wahrung ihrer längst verlorenen, nur noch eingebildeten Privilegien bedacht, sehen sie nur die schaurigen Bilder einer bedrohlichen Unterschicht, haben aber tiefe Berührungsscheu vor der selbstbewußten Arbeiterbewegung, deren Existenz sie verdrängen.

Zur Begründung bedient sich Bogdal eines spekulativen Begriffsapparats. Danach hätten die Naturalisten ein gemeinsames ideologisches Projekt, dessen drei Funktionen (Partei nehmen, Kunst produzieren, vom Schreiben leben wollen) einander im Wege stehen und die Realisierung des Projekts verhindern. Im Grunde wiederholt er damit nur in moderner Formulierung die zeitgenössische Kritik der Sozialdemokratie, wie sie Franz Mehring vorbrachte. In Bogdals Sicht schmücken, sich zwar die Schriftsteller – wie Hartleben in seiner Parabel Der bunte Vogel – gegenüber den Arbeitern mit den Federn des Individualismus, aber dennoch sind sie nur betrogene Betrüger, die sich am Ende in Jugendstil und Neuromantik retten müssen, nachdem sie den süßen Kitsch ihrer Vorgänger zeitweilig durch sauren Kitsch ersetzt hatten. Fazit: Poeten contra Proleten!

Natürlich funktioniert dieses Modell nur, weil Bogdal die überragenden Köpfe der Epoche ausklammert und stattdessen auf Vielschreiber wie Max Kretzer zurückgreift. Dagegen meinte Arno Holz, wenn er von Mob sprach, das Lumpenproletariat, aber nicht die Arbeiterbewegung, wie Bogdal glauben machen will. Holz zeigte sich niemals vom Arbeiterelend beleidigt, sondern durch religiösen Kitsch. Die Produktionssphäre wird bei Holz nicht ausgeblendet, sondern im Buch der Zeit in den Mittelpunkt gerückt: Schau her, auch dies ist Poesie! Wenn Bogdal den konservativen Wolzogen zitiert (Die Kunst ist aristokratisch!), hätte er die Gegenposition, die Holz in den Sozialaristokraten vertrat, nicht unerwähnt lassen dürfen. Bogdal selbst hat im Grunde nur ein schauriges Zerrbild der Naturalisten entworfen.

Klaus M. Rarisch
Die Bücherkommentare Nr. 5 1979

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