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T. W. Kudrjawzewa

Arno Holz:
Revolution der Lyrik


(übersetzter Titel)

Arno Holz: Revolution der Lyrik

Moskau: IMLI Verlag 2006



Zum Thema des Buches schreibt Tamara Wiktorowna Kudrjawzewa:

Die »Revolution der Lyrik« von Arno Holz
und Theorie und Praxis russischer Dichter
zu Beginn des XX. Jahrhunderts

Wie bekannt, wurde zu Beginn des XX. Jahrhunderts in vielen literarischen Manifesten, und zwar in denen deutscher Expressionisten, französischer Unanimisten, englischer und amerikanischer Imagisten, russischer Symbolisten, Imaginisten, Futuristen etc. der Anspruch auf die sogenannte »neue Wortkunst« proklamiert und in der Praxis realisiert. Und wenn es gerechtfertigt wäre, alle obengenannten Strömungen als in gewissem Sinne parallele Erscheinungen einzuschätzen, so bleibt die »Revolution der Lyrik« von Arno Holz, selbst chronologisch gesehen, eine Quelle, aus der alle Literatur-»Isten« des XX. Jahrhunderts ihre Ideen geschöpft haben. Es ist allerdings eine andere Frage, ob sie sich dessen bewußt wurden oder nicht. Obwohl es keine Zeugnisse von direkten Kontakten Arno Holz’ zur russischen Avantgarde gibt, ist das Vorhandensein solcher Kontakte nicht auszuschließen. Ebenso nahe liegt die Annahme, daß die Russen mit dem Schaffen von Holz bekannt waren, nicht zuletzt vermittels des August Scholz-Kreises, zu dem auch Holz Zutritt hatte.(1)

Wie dem auch sei, die Parallelitäten liegen auf der Hand, und das ist noch ein Beweis dafür, daß in Holz’ theoretischen Schriften und künstlerischen Werken schon fast alles vorweggenommen wurde, was im XX. Jahrhundert weitere Entwicklung gefunden hat, obwohl vieles unbewußt als Neuerfundenes empfunden wurde.

Bekanntlich forderten die russischen Futuristen und Imaginisten, wohl nicht ohne einen gewissen Einfluß seitens deutscher Expressionisten sowie englischer und amerikanischer Imagisten, das Leben mittels mit Hilfe von vers libre-Rhythmen wiedergegebener (ausgedrückter) Bilder aufzudecken. (2)

Den Verzicht auf normative Versbaugesetze betrachteten sie als Voraussetzung eines adäquaten sprachlichen Ausdrucks dichterischer Vorstellung von der Welt.(3)

So äußerte W. Scherschenewitsch, der Theoretiker russischer Imaginisten: »Ebenso wie ein einmal aufgeflammtes Streichholz nicht mehr brauchbar ist, genauso verliert ein abermals genutzter Reim wesentlich an seiner ursprünglichen Pracht«, »Es ist an der Zeit, offen zu bekennen, daß der Reim, der Geliebte aller Dichter und Dichterinnen, entweder zur Werbeverschenprostituierten geworden oder endgültig an Auszehrung gestorben ist«, »Man muß doch endlich diese ›rosy‹ – ›grjosy‹, ›dewa‹ in der nächsten Zeile nach ›gnewa‹ oder ›napewa‹ außer Gebrauch setzen«; (4) oder: »Ein für allemal verstanden zu haben: dem Ding seinen richtigen Namen zu geben und nicht jenes Schlagerpseudonym, unter welchem es auf der offenen Bühne des Erdengartens Cancan tanzt, das heißt, der Welt dieses Ding wie eine reiche Gabe offenbaren«,(5) – fallen fast Wort für Wort mit den entsprechenden Aussagen von Holz zusammen (6) und demonstrieren somit eine der allgemeinen Tendenzen in der Entwicklung der Poetik im XX. Jahrhundert, unter deren Urhebern Holz als einer der ersten zu gelten hat.

Wie seinerzeit Holz motiviert Majakowski seinen Verzicht auf die traditionelle Metrik (den syllabisch-tonischen Versbau) durch die Untauglichkeit alter Formen für die Wiedergabe neuer Inhalte (7). Überraschend ähnlich den Äußerungen von Holz klingen folgende von Majakowskij: »Sämtliche Lehrbücher der Poetik à la Schengeli sind deshalb so schädlich, weil sie die Dichtung nicht aus dem Stoff ableiten, das heißt, nicht den Wesenskern der Tatsachen geben, diese Tatsachen nicht so lange pressen, bis das komprimierte, konzentrierte sparsame Wort hervortritt, sondern einfach dem neuen Faktum die alte Form überstülpen. Meist ist es so, daß die Form nicht paßt; entweder das Faktische verliert sich völlig wie der Floh im Hosenfutter (...), oder aber das Faktische ragt aus dem poetischen Gewande hervor und wirkt dadurch lächerlich statt erhaben«.(8)

Es ist nicht zu übersehen ein gewisser Anklang der Äußerungen von Majakowskij an die von Holz in bezug auf den Rhytmusursprung ihrer Gedichte, und zwar auf dessen Bestimmung als ein den Naturerscheinungen selbst angeborener Rhythmus. So bei Majakowskij: »Einen Rhythmus kann das Rauschen der immer wiederkehrenden Meeresbrandung auslösen, ebenso das Hausmädchen, das allmorgendlich die Tür zuwirft, was in ständiger Wiederholung lärmvoll durch mein Bewußtsein scheppert; schließlich sogar die Umdrehung der Erde, die bei mir, wie in einem Laden für anschauliche Lehrmittel karikierenderweise mit dem pfeifenden An- und Abschwellen des hierbei erzeugten Windes behaftet ist«. (9)

Ebenso wie bei Holz sein »notwendiger Rhythmus« jedesmal von neuem, aus dem Gedichtinhalt geboren wird (10) und keine Muster, kein bestimmtes Versmaß duldet,(11) soll der Dichter, nach Majakowskij, »gerade dieses Rhythmusgefühl in sich ausbilden, statt fremde Versmaße auswendig zu lernen«.(12)

Ähnlich wie Holz konzipiert Majakowskij seine Gedichte fürs Rezitieren vor einem großen Publikum, deshalb spielt auch bei ihm eine so wichtige Rolle die individuelle, nicht an die metrische Strophik gebundene Textgliederung, die keine inhaltliche oder rhythmische Zweideutigkeit zuläßt. So etwa im folgenden Beispiel:

    Letitje,
    w swesdy wresywajas (13)

In dieser Hinsicht sind die Gedichte von A. Belyj sehr charakteristisch. Insbesondere gilt das für den Berliner Zyklus »Nach der Trennung« (1922) sowie für die früher entstandenen und in der Folge überarbeiteten Gedichte:

    Tak
    Wsbrzsni
    She
    W
    Otschi
    Wodoju sabwenija!
    ===
    Is nor –
    – Pisk
    I
    Tresk:
    – »S gor
    Skatilsja –
    – Disk
    Solnza!« (14)

Auch für Belyj besteht die Hauptfunktion der Wortstellung in der adäquaten Wiedergabe des Intonationsmusters des Gedichtes: »Die Zeile ist ein rhythmisches Ganzes; sie ist, sozusagen, mit Hilfe von zwei Intonationspausen ausgeschnitten«.(15) Wie der Dichter behauptet, ist die Intonation der Zeile im metrischen Versbau vorherbestimmt, in seinen Gedichten dagegen »ist sie allein dem Intonationsganzen des Rhythmus untergeordnet«,(16) was als »das Ohr des Lyrikers« (17) bezeichnet wird. Und eben vom Dichter »wird die Verteilung der Wörter nach den Zeilen bestimmt«,(18) anders gesagt, gerade der Dichter hat unter vielen möglichen Ausdrucksvarianten die notwendige zu finden und sie in der Wortstellung widerzuspiegeln, unter anderem auch im Rahmen traditioneller metrischer Form.(19) Die Wortstellung bei Belyj ist völlig intonations- und pausenbedingt. Nach Belyj macht es gerade die Pause nötig, daß »ein einziges Wort, irgendeine Konjunktion ›und‹, die nie eine syntaktische, sowie formal-logische Betonung auf sich tragen kann, die Zeile ausmacht«.(20) Während »die Metrik keine intonationsbedingt betonten Präpositionen kennt«,(21) kann »das Funktionswort in einem intonationsbedingt auszeichnenden Vers dagegen eine Zeile für sich einnehmen«,(22) oder umgekehrt, »einige Zeilen können in einem Atem gelesen werden«.(23) In diesem Zusammenhang wäre es beachtenswert, eine entgegengesetzte ähnliche Tendenz in der Poetik von Belyj und Holz zu verfolgen. Wie bekannt, verwendet Holz in seinen Spätdramen »Sonnenfinsternis« und »Ignorabimus« stellenweise die Technik des Großen »Phantasus«, was wegen der typographischen Gestaltung allerdings nicht gleich ins Auge fällt. A. Belyj schrieb über seinen Roman »Die Masken« folgendes: »›Die Masken‹ ist ein riesengroßes episches Poem, zwecks Ökonomie als Prosatext aufgeschrieben, wobei nur die Hauptpausen und die Hauptintonationsbetonungen durch Zeilen markiert werden.«(24) Nicht selten, eigentlich unter unmittelbarem Einfluß Belyjs, baut Majakowskij seine Ein-Wort-Zeilen aus Funktionswörtern:

    ...steny
    i
    flagi,
    prochodiwschije pod
    Kremljom (25)
    ```
    A
    gasettschik –
    starja prokuror
    ```
    No ...
    tschtob kritik
    byl
    nje nishe,
    tschem
    semnadzatogo rasrjada ...
    ```
    Tschjert ws wosmi,
    was,
    tech,
    kto, widja
    besobrasije ...
    ```

    Schachty rastschist
    i s nowymi silami
    w sto sil
    stroj.(26)

Diese Beispiele weisen auch auf eine andere Ähnlichkeit der Rhythmik Majakowskijs und der von Holz hin, es handelt sich nämlich um den Staccato-Ryhthmus, d. h. die Anhäufung aufeinanderfolgender einsilbiger betonter, durch Pausen abgetrennter Wörter.

Die meisten Forscher, so G. König, erwähnen diese Eigenschaft der Verse Majakowskijs, aber die Tradition wird in der Regel von den Expressionisten und Brecht hergeleitet, während die Poetik von Holz überhaupt nicht in Betracht gezogen wird.(27)

Es lassen sich leicht auch weitere Parallelen in der Rhythmik von Holz und Majakowskij verfolgen. Wie bekannt, versuchte Holz die metrische Einheitlichkeit seiner ersten Verse zu zerstören, indem er unter anderem drei Silbentypen auseinanderhielt: stark betonte, schwach betonte, unbetonte, oder genauer gesagt: lange, mittellange, kurze Silben.(28) Der russische Sprachwissenschaftler W. M. Shirmunski unterscheidet in den Gedichten von Majakowskij auf der Zeilenebene gleichfalls drei Silbentypen, wenn auch nur betonte in Betracht gezogen werden; unbetonte werden außer acht gelassen: stark betonte [1], mittelbetonte [2], schwach betomte [3]:

    1 3 2 1
    Wy – dumajete, eto – bredit maljarija?
    3 1 2 1
    Eto – bylo, bylo – w – Odesse.
    2 1 2 1
    »Pridu – w – tschetyre«, – skasala Marija.
    1 1 1
    Wosem. Dewjat. Desjat. (29)

Der russische Literaturforscher M. L. Gasparow entdeckte, indem er die Verteilung der Satzglieder nach Zeilen in der »Leiter« von Majakowskij analysierte, daß dies nach dem Prinzip der Asymmetrie geschehe.(30) Die abhängigen Satzglieder kommen in der Regel (abgesehen von den Enjambement-Fällen) in eine Zeile, während das unabhängige (selbständige) Satzglied allein in der Zeile bleibt, worin die Gesetzmäßigkeiten des russischen Satzbaus eine unwillkürliche Widerspiegelung finden:

    Belyj / jest / ananas spelyj,
    tschernyj – / gnilju metschenyj.
    Beluju rabotu / delajet belyj,
    tschernuju rabotu – / tschernyj.(31)

Unerwartet entspricht diese Verteilung der Hauptformel der Holzschen Zahlarchitektonik 1 + (1+1) (32), woraus man schließen kann, daß sich Holz’ Zahlarchitektonik als von größerer Dimension erweisen kann, als die ihr bis heute zugerechnete.

1) Siehe W. Wilk: Ein Schatz in Zehlendorf: Der Nachlaß des Übersetzers August Scholz als Spiegel einer Epoche russischer Literatur // Tagesspiegel / Feuilleton. 8. September 1968.
2) Siehe Deklarazija imashinistow // Sirena. Woronesh, 1919. 30. Januar. S. 48.
3) Ebd. – S. 49 (Vgl. in diesem Zusammenhang die Äußerung W. Brüssows: »... die Evolution der Poesie besteht in fortwährendem Suchen nach neuen Formen, neuen Mitteln der Bildlichkeit, die es ermöglichen, ein Gefühl oder einen Gedanken tiefer und adäquater auszudrücken«. (W. Brüssow: Daljokije i bliskije. Moskau, 1912. S. 117-118.)
4) W. Scherschenewitsch: Seljonaja uliza: Statji i sametki ob iskusstwe. Moskau, 1916. S. 39, 42, 47.
5) W. Scherschenewitsch: Jule Laforg // Laforg J. Fejeritscheskij sobor. Moskau, 1914. S. 5.
6) Siehe A. Holz: Revolution der Lyrik. Berlin, 1899. S. 21, 26, 27. Holz A. Das Werk in 10 Bd. Berlin, 1924. Bd. 10. S. 102, 640.
7) Siehe W. Majakowskij: Kak delat stichi? //Poln. sobr. sotsch.: W 13 t. T. 12. S. 84-85.
8) Ebd. S. 99.
9) Ebd. S. 101.
10) Siehe A. Holz: Revolution der Lyrik ... S. 45.
11) A. Holz: Das Werk... Bd. 10. ... S. III.
12) W. Majakowskij: Kak delat stichi... S. 101.
13) Ebd. S. 114.
14) A. Belyj: Stichotworenija i poemy. 2-je isd. M.; L., 1966. S. 452-453; 524.
15) Ebd. S. 563.
16) Ebd. S. 565
17) Ebd.
18) Ebd.
19) Ebd.
20) Ebd. S. 549.
21) Ebd. S. 564.
22) Ebd.
23) Ebd. S. 549.
24) A. Belyj: Maski. Moskau, 1932. S. 11.
25) W. Majakowski: Poln. sobr. sotsch.: W 13 t. T. 10. S. 212.
26) Ebd. T. 9. S. 112, 131, 116-117, 78-79.
27) Siehe G. König: Zur Wiedergabe des Stils Majakowskis in deutschen Übersetzungen: Diss. Rostock, 1970. S. 96-97.
28) Siehe A. Holz: Revolution der Lyrik. Berlin 1899. S. 51.
29) Siehe W. M. Shirmunskij: Stichosloshenije Majakowskogo // Russkaja literatura. 1964. N 4. S. 18.
30) Siehe M. L. Gasparow: Ritm i sintaksis: Proischoshdenije »lesenki« Majakowskogo // Problemy strukturnoj lingwistiki; 1979. Moskau 1981. S. 148-168.
31) Ebd.
32) Siehe R. Ress: Die Zahl als formendes Weltprinzip. Ein neues Naturgesetz. Berlin 1926. S. 102. Holz A. Das Werk. Bd. 10. S. 728.

     
 

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