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Hans Baluschek: Hof Lansberger Straße 74 (1928)
Hans Baluschek: Hof Landsberger Straße 74 (1928)

»Milljöh«

Rolf Wolfgang Martens und Robert Reß nahmen sich beide das Motiv »Elendsviertel« vor. Hier finde ich keinen Hinweis auf die Reihenfolge der Entstehung. Womöglich sind die Gedichte – nach Verabredung? – parallel entstanden. Rolf Wolfgang Martens:

Stinkende Luft
schlägt mir aus den engen Thüren entgegen;
Kinder plärren, keifende Weiber hängen Wäsche auf.

Zwischen den spitzen Pflastersteinen schillert Fettwasser,
ich trete auf Kartoffelschalen.

Oben;
an einem Fenster,
gottseidank, wenigstens Blumen!

Auch sie sind welk. Auch sie sind verblaßt. [1]

Robert Reß:

Gift und Galle, hinter ihr läuft ein Kochtopf über, kreischt sie vom vierten Stock runter
»Wiste machen, dette ruff kommst?«

Mit weiten, starren Augen,
an seinem beschmutzten Kleidchen rumwischend,
bis unter die Wade ist am linken Bein das Strümpfchen gerutscht,
ängstet es sich die Treppen hoch;
fällt auf alle Viere.

Oben
steht schon die Entreethür auf.

In allen Ecken sucht sie nach dem Ausklopper.

Die ganze Küche ist voll Dampf! [2]

Beide Gedichte führen in die Realität der Berliner Armeleuteviertel, seit den siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts hochgezogen. Bevölkerungszuwachs von mehr als einer Million Menschen von 1870 bis 1900 führte zu Auswüchsen, wie sie der Große Meyer – achselzuckend Unvermeidbarkeit insinuierend – beim Stichwort »Stadt« andeutet:

    Übrigens gilt der Satz: »Wo viel Licht ist, da ist auch viel Schatten« ganz vorzüglich von den Städten, insbes. von Großstädten, in denen sich immer viele verkümmerte und verzweifelte Existenzen ansammeln, wo dicht neben Luxus und Üppigkeit Jammer und Elend ihre Wohnstätte aufschlagen und bei Vorhandensein von nur teilweise bewohnten Palästen von einer für die untern Klassen empfindlichen und für die mittlern oft selbst drückenden Wohnungsnot gesprochen werden kann. [3]

Da fand sich das »Milljöh«, das etwa gleichzeitig Heinrich Zille (1858 bis 1929) in den Blick nahm. Zuvor schon – und dann lebenslang – hatte der Maler Hans Baluschek (1873 bis 1935) hingeschaut. Im Begleitband zu einer Baluschek-Ausstellung schreibt Günther Meißner:

    Kein anderer bildender Künstler Berlins – ausgenommen vielleicht Heinrich Zille – war ein so besessener Motivjäger lokaler Lebensbereiche und Volkstypen. Kein anderer hat so einprägsam die poetische Tristesse des neuen Stadt- und Weichbildcharakters in der chaotischen Mischung von Mietskasernen, Industrie- und Verkehrsanlagen, von Straßenlaternen im Smog und marktschreierischer Reklameflut, im Wechsel der Jahres- und Tageszeiten erfaßt. [4]

Zu Baluscheks Freundeskreis gehörte, wohl etwa ab Mitte der 1890er Jahre, auch Arno Holz. 1897 übernahm Baluschek unter dem Pseudonym Fritz Gieseke in der privat arrangierten Erstaufführung von Holzens Komödie »Sozialaristokraten« die stumme Rolle des Schneidergesellen und Anarchisten Sprödowski, von Holz in den Angaben zu den Personen des Stücks so beschrieben: »Dünn, mittelgroß. Pockennarbig. In den Mundwinkeln einige schwarze Barthärchen. Am Kinn, vereinzelt, Stoppeln. Sehr schmutzig. Defecte Fußbekleidung und stets sorgfältig zugeknöpfter, heller Sommerpaletot. Schwarzes, zerknülltes Hütchen«. Holzens Urteil nach lieferte Baluschek »die Glanzleistung des Abends«. [5] Schon im 1885 erschienenen »Buch der Zeit« hatte Holz manche Gedichte vom »Großstadtelend« handeln lassen. Detlev von Liliencron fand daraufhin für ihn die – keineswegs abwertend oder verdammend gemeinte – Bezeichnung »wüster, rothester Socialdemokrat«. [6] Holz und Baluschek waren in dieser Hinsicht also durchaus gleichgesinnt.

Friedrich Wendel schreibt 1924 in Bezug auf Baluschek von einem »Marxismus in der Kunst«; der Maler habe sein Leben unter »den Imperativ der Pflicht gegenüber der proletarischen Klasse« gestellt. [7] Ursula Münchow zählt Holz unter die »nach Veränderung und Erneuerung strebenden jungen Schriftsteller«, die sich zwar »wenig zu dauerhaften Kampfgefährten der unterdrückten Klasse« eigneten, sich aber dennoch »als interessante zeitweilige Weggenossen bezeichnen« ließen. Sie führt aus, halb anerkennend, halb mit Vorbehalt:

    Tatsächlich vollzog sich gerade in den achtziger Jahren, noch zur Zeit des Sozialistengesetzes, in der Lyrik einiger zorniger junger Männer so etwas wie eine literarische Revolution. Einige in Berlin lebende junge Schriftsteller wie Karl Henckell, Arno Holz, Otto Erich Hartleben, auch John Henry Mackay und später Richard Dehmel gingen, dem Geist der geschichtlichen Entwicklung gehorchend, mit ihrer Dichtung eine Zeitlang Seite an Seite mit der deutschen Arbeiterklasse, ohne jedoch wirklich Kontakt zum kämpferischen Proletariat und zu seiner Weltanschauung zu haben. [8]

Beim Slum-Gedicht von Martens und dem dort schwelenden Dégoût – fast zu sehen, wie sich Martens die Nase zuhält – erinnere ich mich an Reinhard Pipers Bericht über ein Neujahrssouper bei Martens: Da nahm der livrierte Diener Karl die Gäste in Empfang, und es gab fünf Gänge, zu jedem Gang eine andre Sorte Wein. [9] Aus solcher Perspektive wird das »Milljöh« kaum auszuhalten gewesen sein. Der blasse Trost der welken Blumen hilft niemandem außer dem damit halbwegs getrösteten lyrischen Ich. Im Sichabwenden. Bei Reß wurde aus dem Motiv »Elendsviertel« ein Kindergedicht. Kein fröhliches. Kein Dégoût bei ihm, sondern tiefes Erschauern angesichts von Gewalt und kindlicher Angst.

Martens selbst scheint die Bedingtheit seiner Sicht auf die »soziale Frage« im Gedicht zwei Seiten weiter skizziert zu haben, pathetisch überhöht und wie im Gewand eines von Gustave Boulanger gemalten Lucullus:

In meinem Marmorpalast,
aus kristallener Schaale, trinke ich Nektar.

Ein nacktes Märchenweib
flicht mir Rosen um die Stirn.

Singt,
singt mir das Lied von griechischer Freude!

Da
– Schmerz und Verzweiflung –
gellt ein Schrei.

Meine Menschenbrüder!

Aus finstren Fabriken,
wo ihr nach Glück durstendes Leben Maschinenrädern gleich dahinrollt,
aus Kellern und Dachstuben, wo sie hungern und frieren,
wo Not sie schlecht macht.

Millionen!

Im Prunksaal
stirbt
Lied und Lust. [10]

Ein Problem ist erkannt, was im Gedicht von Martens aber schließlich da stehenbleibt, wo dem Prunksaal der Spaß verdorben ist. Beim Jungbuchhändler Reinhard Piper, der in seinem gemieteten Zimmer immerhin ein Klavier stehen hatte, endet die Einfühlung in hilfloser Verwirrung vor einer Barriere von Sprachlosigkeit:

An jedem toten Wintermorgen
begegnet mir das Arbeitermädchen.

Ich weiss, wie sie fröstelnd aufsteht,
wie sie sich zitternd das Kleid überwirft,
wie sie sich bebend das Haar macht
in der kalten Kammer.

Ich blicke sie mitleidig an.

Sie lacht mir frech ins Gesicht. [11]

Das Gedicht hätte gut ein Beispiel abgeben können für den Abschnitt »Lyrik zwischen sozialer Verantwortung und Weltflucht« in Hans Kaufmanns Literaturgeschichte, und zwar da, wo die »sozialistische Lyrik in der deutschen Arbeiterbewegung« von »einer von Mitleidshaltungen bestimmten sozialen Balladik bürgerlicher Autoren« unterschieden wird. [12] Für »bald nach 1890« diagnostiziert das Buch für die Lyrik einen »Prozeß der Lösung vom sozialen Engagement«, so daß anläßlich von Arno Holz und Richard Dehmel von »den beiden prominentesten ehemals ›sozialen‹ Lyrikern, von denen einige Gedichte auch in der Arbeiterbewegung geschätzt wurden«, die Rede ist. [13] Im Fall von Arno Holz betrifft dies eine ganze Reihe von Gedichten in seinem »Buch der Zeit« von 1885, keineswegs die danach entstandene Lyrik, denn:

    Die umfangreiche Lyrikproduktion, die aus dieser Wendung hervorging, ist heute vergessen oder – im Fall von Holz – Angelegenheit einiger Spezialisten, die sich bemühen, Holz’ nachnaturalistisches Werk als Beginn der »Moderne« zu preisen. [14]

In Holzens beiden Phantasusheften gibt es nur ein einziges Gedicht, das ins Elendsmilieu schaut, auffallend von der sonstigen Motivik abstechend:

Ueberm Bett, eingerahmt, hängt der Myrthenkranz.
Vor Jahren
stand am Fenster mal die Nähmaschine;
ein Kanarienvogel sang.

Jetzt
ist das alles anders!

Abends,
wenn die rote Lampe brennt,
kommen fremde Herren in das Stübchen;
alte, junge, wies grad trifft.

Du lieber Gott – das Leben!

Nur manchmal,
wenn der Regen draussen auf die Dächer peitscht,
nachts,
kein Mensch ist mehr wach,
sitzt das Weib und weint . . .

Der tote Mann! Die armen Kinder! [15]

Das von Mitleid bestimmte Gedicht erinnert von fern an »Paysage intime«, in die zweite, vermehrte Auflage vom »Buch der Zeit« aufgenommen. [16] Dort sucht sich jemand in schlecht beleuchteter Straße eine Prostituierte, schon im Hausflur »Sah er, dass sein Schmetterling / Schon zu unverschämt lädiert war«. Er bleibt über Nacht, tritt dann in nebligem Morgengrauen aus dem Haus: »›Brrr!‹ Und vor sich selbst aus Ekel / Spie er mitten in die Gosse.« Das liest sich, ähnlich wie später bei Martens, mehr als Warnung, dem Elend bloß nicht zu nahe zu kommen.

Robert Wohlleben


Baluscheks Bild »Hof Landsberger Straße 74« wiedergegeben nach: Hans Baluschek 1873–1935. Berlin: Staatliche Kunsthalle Berlin 1991, S. 48.
1] Rolf Wolfgang Martens: Befreite Flügel. Berlin: Johann Sassenbach 1899, S. 26.
2] Robert Reß: Farben. Berlin: Johann Sassenbach 1899, S. 24.
3] Meyers Großes Konversations-Lexikon. 6. Aufl., neuer Abdruck. Leipzig, Wien: Bibliographisches Institut 1905–1909, Bd. 18, S. 826 f.
4] Günther Meißner: Hans Baluschek und sein Kreis. In: Hans Baluschek 1873–1935. Berlin: Staatliche Kunsthalle Berlin 1991, S. 5-16, hier S. 9 f.
5] Arno Holz: Werke. Hg. v. Wilhelm Emrich und Anita Holz. 7 Bde. Neuwied, Berlin-Spandau: Luchterhand 1961–1964, Bd. 3, S. 320.
6] Detlev von Liliencron: Ausgewählte Briefe. Hg. von Richard Dehmel. Bd. 1. Berlin: Schuster & Loeffler 1910, S. 118.
7] Friedrich Wendel: Hans Baluschek. Eine Monographie. Berlin: J. H. W. Dietz Nachf. 1924, S. 11.
8] Ursula Münchow: Arbeiterbewegung und Literatur 1860–1914. Berlin, Weimar: Aufbau-Verlag 1981, S. 354 f.
9] Reinhard Piper: Vormittag. Erinnerungen eines Verlegers. München: R. Piper & Co. 1947, S. 226.
10] Martens, S. 28.
11] Ludwig Reinhard [d. i. Reinhard Piper]: Meine Jugend I. Berlin: Johann Sassenbach 1899, S. 26.
12] Hans Kaufmann u. a. (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur vom Ausgang des 19. Jahrhunderts bis 1917. Berlin: Volk und Wissen 1974, S, S. 180.
13] Ebd. S. 192 f.
14] Ebd. S. 193.
15] Arno Holz: Phantasus. Verkleinerter Faksimiledruck der Erstfassung. Hg. v. Gerhard Schulz. Stuttgart: Reclam 1968 u. ö. (RUB Nr. 8549), S. 52.
16] Holz, Werke, Bd. 5, Buch der Zeit, S. 111-114.

(Die Gedichte von Martens, Piper, Reß und Stolzenberg sämtlich enthalten in Antreten zum Dichten! Lyriker um Arno Holz. Rolf Wolfgang Martens, Reinhard Piper, Robert Ress, Georg Stolzenberg, Paul Victor. Hg. v. Robert Wohlleben. Leipzig: Reinecke & Voß 2013. Dort fortlaufend wiedergegeben, Seitenzählung der Hefte in den Randspalten.)


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