Friedhöfe Am 18. März 1898 war der Berliner Barrikadenkampf gegen das Militär Friedrich Wilhelms IV. 50 Jahre her, die Zeitungen waren voll davon. Im selben Jahr dazu von Arno Holz ein Gedenkgedicht: Ich öffne ein kleines Gitter. Den Besuch bei den Gräbern im Volkspark Friedrichshain faßt Arno Holz in ein scheinbar nüchternes Protokoll. Die Blickführung, von einem Gesamteindruck auf ein Detail, ist ähnlich genau kalkuliert wie im Gedicht über den im Tiergarten ausreitenden Leutnant. Sie endet im gebückt mühsamen Entziffern der Grabsteininschrift (heutzutage mit in diesem Fall treffender Redensart: viel besser »in Schuß« als damals), typographisch durch Sperrung nachvollzogen. In die Zeit der Gedichtentstehung fiel nicht nur der fünfzigste Jahrestag der blutig ausgehenden Revolte, sondern zugleich eine bezügliche, sich lange hinziehende politische Auseinandersetzung: Die Berliner Stadtverordneten hatten im ersten Halbjahr 1898 beschlossen, den Friedhof der Märzgefallenen für die Sozialdemokraten längst Ort für alljährliche Kranzniederlegungen in Stand zu setzen und den Eingang mit einer Inschrift zu versehen. Dazu kam es nicht, denn die preußische Regierung wollte es nicht leiden.
Bei Georg Stolzenberg findet sich das Friedhofsmotiv mehrfach. Im ersten Heft »Neues Leben« sein Empfinden bei einem Leichenbegängnis: Sie senken den Sarg in die Gruft. Über Jahrzehnte hinweg klingen seine Formulierungen in einem lyrischen Telegramm Helmut Heißenbüttels nach: Einfache Sätze: Mich frappieren die Übereinstimmungen Sonnenlicht, Tod, das Pflanzliche und am Ende das Leben, in beiden Fällen gleich lakonisch. Im ersten Heft »Neues Leben« außerdem ein Grabbesuch:Wieder bei dir. Im zweiten Heft abermals ein Grabbesuch, zugleich Kindheitserinnerung, schmerzhaft, wie die alleingelassenen Nestlinge am Gedichtschluß ahnen lassen: Das Kindermädchen führt mich in einen Garten voll Schweigen. Im drittem Heft ein ungemütlich eingetrübter Blick auf Beerdigungsrituale: Müde Wie Stolzenberg als Kind am Grab der Mutter steht, besucht Martens als Erwachsener die Gräber von Vater, Tante und früh verstorbenem Bruder: Um ihre Hügel pflanzten wir Weiden; Es scheint Protokollierung eines Traums zu sein, was Robert Reß auf einen Friedhof oder wenigstens in dessen Nähe versetzte: Arm in Arm gehn wir den gewohnten Weg, Beim folgenden Friedhofsgedicht von Reß handelt es sich dagegen um einen sachlichen Blick in gesellschaftliche Realität: Der Pastor spricht ein Gebet. Kindersterblichkeit ist das Thema. 1907 bietet der Große Meyer im Eintrag »Kindersterblichkeit« [10] ein »Kärtchen der Kindersterblichkeit im Deutschen Reich«. »Von je 1000 Lebendgeborenen starben danach »im 1. Lebensjahre« in der preußischen Provinz Brandenburg »200-250«. Die Extreme waren Schaumburg Lippe mit 27 und Niederbayern mit 318. Als Todesursachen bei den noch nicht Einjährigen führt der Große Meyer »Krankheiten der Verdauungsorgane, namentlich Brechdurchfall, [ ] angeborne Lebensschwäche und Krankheiten des Nervensystems, von letztern namentlich Krämpfe« an. Auf Elendsverhältnisse weist die Bemerkung, »daß die Kinder, die bei günstigen Nahrungsmittelpreisen gezeugt sind, weniger sterben als die, die unter ungünstigen Verhältnissen gezeugt sind«. Von Einfluß seien überdies »Trunksucht, Prostitution, Syphilis, Bleichsucht, Tuberkulose« und »jugendliches Lebensalter der Mutter«. Um deutlich zu machen, welchen »Einfluß der Stand der Eltern auf die K. besitzt«, zieht der Lexikograph »22jährige Beobachtungen in Erfurt« heran: Bezogen auf 100 Kinder sind für den Arbeiterstand 30,5, für den Mittelstand 17,3, für die höhern Stände 8,9 vor Ablauf des ersten Lebensjahrs verstorbene Kinder angegeben. Mit einem Bild von einem Kinderbegräbnis, »Tauwetter«, hat Hans Baluschek 1907 diese Facette des Berliner Alltags eingefangen. Eine farbige Wiedergabe des Bildes findet sich bei Margrit Bröhan. [11] Für das Aquarell registriert Bröhan »eine breite dennoch gedeckte Farbpalette« für die »Dämmerungsstimmung einer Vorstadtöde«. Sie beschreibt und interpretiert: Die Zusammenstellung der Trauergruppe gerät zur soziologischen Studie. Dominierend ist das voranschreitende Großelternpaar. [ ] Die abgearbeitete alte Frau in Trauerkleidung und der alte Mann mit Zylinder und Ehrenzeichen an der Brust versuchen, die Konventionen des Anlasses zu erfüllen. Doch der Gestus der Würde wird gebrochen durch den notgedrungen unter dem Arm transportierten Kindersarg [ ]. Das eigentliche Elternpaar hat alles Ländliche bereits abgestreift und eine Scheineleganz angelegt, die einer inneren Oberflächlichkeit zu entsprechen scheint. Der Trauergang des Vaters, Zigarette im Mund, unterscheidet sich in nichts vom Großstadtflaneur, und die modisch geputzte junge Mutter ist vor allem mit Sorgfalt darauf bedacht, den Rocksaum vor dem Straßenschlamm zu bewahren. [12] Das paßt nicht schlecht zur Friedhofsszene bei Reß. Zwar ist Baluscheks Bild später entstanden, doch gab es bei ihm frühere Annäherungen an das Motiv: »In mehreren Bildern hat Baluschek das tief Deprimierende eines Kinderbegräbnisses wiedergegeben«, weil sein Blick auf »die Schattenseiten der kleinen Welt« gerichtet war und »deshalb Schilderungen von Tod und Trauer wie selbstverständlich in sein Oeuvre« gehörten, merkt Margrit Bröhan an. [13] Auch früh in den 1890er Jahren bereits. Reß und Baluschek haben einander gekannt, zogen beide mit »ins Pschorr«, als 1898 ein Liederabend mit Stolzenbergschen Arno-Holz-Vertonungen wegen Heiserkeit ausfallen mußte. [14] Ob sie sich irgendwann zum Thema Kinderbegräbnis ausgetauscht haben? Nicht auszuschließen. Im Werk von Arno Holz ging es schon vor dem Phantasus zweimal um Kindstod, und zwar in der Erzählung »Papa Hamlet« von 1889 und im Drama »Die Familie Selicke« von 1890, beides gemeinsam mit Johannes Schlaf erarbeitet und beides Elendsschilderungen. In »Papa Hamlet« erstickt der heruntergekommene, trunksüchtige Schauspieler Niels Thienwiebel seinen Sohn, den Säugling »Fortinbras«, in »Familie Selicke« stirbt das achtjährige Linchen an Tuberkulose. Im ersten Phantasusheft läßt er ein verstorbenes Kind sprechen: Auf einem Stern mit silbernen Zacken oooOooo Eine Anekdote aus damaliger Zeit kann ich bei dieser Gelegenheit nicht vermeiden. Sie ist mir leider habe ich nichts dazu notiert vor gut 40 Jahren untergekommen. Sie handelt von Carl Mampe, als gut betuchter Produzent des süßlichen Magenbitters »Mampe Halb und Halb« zweifellos den »höhern Ständen« angehörend. Mehr als ein Kind starb ihm dennoch. Bei einer »Folgebeisetzung« habe der Pastor in der Grabrede gesagt: »Wieder hat es dem HErrn gefallen, einen kleinen Mampe zu sich zu nehmen.« Die Komik darin, zunächst schlicht vom Wortspiel mit dem Namen des Likörherstellers und der volkstümlichen Bezeichnung eines Likörglases mit seinem Erzeugnis sichergestellt, vertieft sich dadurch, daß sie zugleich den geläufigen Trauerfall mit dem beliebten »Sorgenbrecher« zusammenschaltet. Robert Wohlleben
(Die Gedichte von Martens, Piper, Reß und Stolzenberg sämtlich enthalten in Antreten zum Dichten! Lyriker um Arno Holz. Rolf Wolfgang Martens, Reinhard Piper, Robert Ress, Georg Stolzenberg, Paul Victor. Hg. v. Robert Wohlleben. Leipzig: Reinecke & Voß 2013. Dort fortlaufend wiedergegeben, Seitenzählung der Hefte in den Randspalten.) |
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