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Hans Baluschek: Tauwetter. Hans Baluschek 1873–1935. Berlin: Staatliche Kunsthalle Berlin 1991
Hans Baluschek: Tauwetter (1907)

Friedhöfe

Am 18. März 1898 war der Berliner Barrikadenkampf gegen das Militär Friedrich Wilhelms IV. 50 Jahre her, die Zeitungen waren voll davon. Im selben Jahr dazu von Arno Holz ein Gedenkgedicht:

Ich öffne ein kleines Gitter.

Die Märzgefallnen.

Ueber den Weg, durch welkes Laub, hüpfen Schwarzdrosseln,
um verwitternde Kreuze im Sonnenlicht spielen glitzernde Fäden.

In einer Ecke,
der Epheu blinkt, ich bücke mich –
auf einem Stein, liegen Rosen.

Dünne Ranken, graues Moos und Thautropfen.

Die alten Buchstaben sind kaum mehr zu lesen.

Mit Mühe nur entziffre ich:

»Ein . . . un . . . be . . . kann . . . ter . . . Mann.« [1]

Den Besuch bei den Gräbern im Volkspark Friedrichshain faßt Arno Holz in ein scheinbar nüchternes Protokoll. Die Blickführung, von einem Gesamteindruck auf ein Detail, ist ähnlich genau kalkuliert wie im Gedicht über den im Tiergarten ausreitenden Leutnant. Sie endet im gebückt mühsamen Entziffern der Grabsteininschrift (heutzutage – mit in diesem Fall treffender Redensart: – viel besser »in Schuß« als damals), typographisch durch Sperrung nachvollzogen. In die Zeit der Gedichtentstehung fiel nicht nur der fünfzigste Jahrestag der blutig ausgehenden Revolte, sondern zugleich eine bezügliche, sich lange hinziehende politische Auseinandersetzung: Die Berliner Stadtverordneten hatten im ersten Halbjahr 1898 beschlossen, den Friedhof der Märzgefallenen – für die Sozialdemokraten längst Ort für alljährliche Kranzniederlegungen – in Stand zu setzen und den Eingang mit einer Inschrift zu versehen. Dazu kam es nicht, denn die preußische Regierung wollte es nicht leiden.

Kladderadatsch
Ein Project, das die Zustimmung des Herrn Polizeipräsidenten
von Berlin finden dürfte.
(Kladderadatsch)

Bei Georg Stolzenberg findet sich das Friedhofsmotiv mehrfach. Im ersten Heft »Neues Leben« sein Empfinden bei einem Leichenbegängnis:

Sie senken den Sarg in die Gruft.

Armer Kerl!

Aus dem Himmel
stürzt ein goldner Wasserfall.

Durch alle Blätter leuchtet grünes Blut.

Ich atme tief. [2]

Über Jahrzehnte hinweg klingen seine Formulierungen in einem lyrischen Telegramm Helmut Heißenbüttels nach:

    Einfache Sätze:

    während ich stehe fällt der Schatten hin
    Morgensonne entwirft die erste Zeichnung
    Blühn ist ein tödliches Geschäft
    ich habe mich einverstanden erklärt
    ich lebe [3]

Mich frappieren die Übereinstimmungen Sonnenlicht, Tod, das Pflanzliche und am Ende das Leben, in beiden Fällen gleich lakonisch.

Im ersten Heft »Neues Leben« außerdem ein Grabbesuch:

Wieder bei dir.
Immergrün rankt über dein Grab!

Könnt ich traurig sein!

Der Baum auf dem Hügel
ringt seine Zweige.

Greift tief hinab
zu dir,
tastet über deinen Sarg,
umfängt ihn . . .

Ich . . [4]

Im zweiten Heft abermals ein Grabbesuch, zugleich Kindheitserinnerung, schmerzhaft, wie die alleingelassenen Nestlinge am Gedichtschluß ahnen lassen:

Das Kindermädchen führt mich in einen Garten voll Schweigen.

Hier wohnt deine Mutti.

Warum kommt sie nicht?

Ich starre auf das bunte Blumenbeet.

An den vier Ecken die hohen Rosenstöcke
überrieseln mich mit weichen Blättern.

Mich schaudert.

Aus einem
fliegen zwei Vögel hoch.

Ein Nest!

Den Jungen zuckt das Herz:
sie schreien jämmerlich. [5]

Im drittem Heft ein ungemütlich eingetrübter Blick auf Beerdigungsrituale:

Müde
schleppe ich mich meinen Weg über braune, glitschrige Blätter.

Aus dem Nebel
tauchen blaue Asternkränze,
Wachsblumenkreuze, Herzen aus Immortellen.

Auf mich zu, mit schwarzem Federbusch, nickt ein Pferdekopf.

Auf hohl holperndem Wagen
hockt ein Kerl mit einem Napoleonshut! [6]

Wie Stolzenberg als Kind am Grab der Mutter steht, besucht Martens als Erwachsener die Gräber von Vater, Tante und früh verstorbenem Bruder:

Um ihre Hügel pflanzten wir Weiden;
die Zweige weinen.

Ob ich sie wiedersehe?

Oft
im Traum
seufzt der Vater.

»Die schlechten Zeiten! So gehts nicht weiter!«

Das alte Dorchen
schiebt den Kinderwagen und hustet.
Noch immer!

Und wieder, manchmal,
wenn die Sonne mich verläßt und die Himmel glühn,
lächelt
über den roten Abendwolken
mit all seinen Märchenbüchern
Nini! [7]

Es scheint Protokollierung eines Traums zu sein, was Robert Reß auf einen Friedhof oder wenigstens in dessen Nähe versetzte:

Arm in Arm gehn wir den gewohnten Weg,
lachen und sind glücklich.

»Aber deine Mutter ist gestorben!«

Ein Zug leerer Leichenwagen rollt an uns vorbei.

In dem letzten,
seltsam hin und her,
schwankt ein offner Sarg.

Wie ich ihre gebrochnen Augen zudrücken will,
wölbt sich über mir zum Dom ein Wald von weissen Rosen.

Sie ist es ja gar nicht!

Sondern . . . Du? [8]

Beim folgenden Friedhofsgedicht von Reß handelt es sich dagegen um einen sachlichen Blick in gesellschaftliche Realität:

Der Pastor spricht ein Gebet.

Kaum weint die Mutter.

Schon im Gespräch über den nächsten Kegelabend
steckt der Vater am Kirchhofsthor
die Cigarre in Brand.

Jetzt steht die Wiege leer fürs Nächste. [9]

Kindersterblichkeit ist das Thema. 1907 bietet der Große Meyer im Eintrag »Kindersterblichkeit« [10] ein »Kärtchen der Kindersterblichkeit im Deutschen Reich«. »Von je 1000 Lebendgeborenen starben danach »im 1. Lebensjahre« in der preußischen Provinz Brandenburg »200-250«. Die Extreme waren Schaumburg Lippe mit 27 und Niederbayern mit 318. Als Todesursachen bei den noch nicht Einjährigen führt der Große Meyer »Krankheiten der Verdauungsorgane, namentlich Brechdurchfall, […] angeborne Lebensschwäche und Krankheiten des Nervensystems, von letztern namentlich Krämpfe« an. Auf Elendsverhältnisse weist die Bemerkung, »daß die Kinder, die bei günstigen Nahrungsmittelpreisen gezeugt sind, weniger sterben als die, die unter ungünstigen Verhältnissen gezeugt sind«. Von Einfluß seien überdies »Trunksucht, Prostitution, Syphilis, Bleichsucht, Tuberkulose« und »jugendliches Lebensalter der Mutter«. Um deutlich zu machen, welchen »Einfluß der Stand der Eltern auf die K. besitzt«, zieht der Lexikograph »22jährige Beobachtungen in Erfurt« heran: Bezogen auf 100 Kinder sind für den Arbeiterstand 30,5, für den Mittelstand 17,3, für die höhern Stände 8,9 vor Ablauf des ersten Lebensjahrs verstorbene Kinder angegeben.

Mit einem Bild von einem Kinderbegräbnis, »Tauwetter«, hat Hans Baluschek 1907 diese Facette des Berliner Alltags eingefangen. Eine farbige Wiedergabe des Bildes findet sich bei Margrit Bröhan. [11] Für das Aquarell registriert Bröhan »eine breite dennoch gedeckte Farbpalette« für die »Dämmerungsstimmung einer Vorstadtöde«. Sie beschreibt und interpretiert:

    Die Zusammenstellung der Trauergruppe gerät zur soziologischen Studie. Dominierend ist das voranschreitende Großelternpaar. […] Die abgearbeitete alte Frau in Trauerkleidung und der alte Mann mit Zylinder und Ehrenzeichen an der Brust versuchen, die Konventionen des Anlasses zu erfüllen. Doch der Gestus der Würde wird gebrochen durch den notgedrungen unter dem Arm transportierten Kindersarg […]. Das eigentliche Elternpaar hat alles Ländliche bereits abgestreift und eine Scheineleganz angelegt, die einer inneren Oberflächlichkeit zu entsprechen scheint. Der Trauergang des Vaters, Zigarette im Mund, unterscheidet sich in nichts vom Großstadtflaneur, und die modisch geputzte junge Mutter ist vor allem mit Sorgfalt darauf bedacht, den Rocksaum vor dem Straßenschlamm zu bewahren. [12]

Das paßt nicht schlecht zur Friedhofsszene bei Reß. Zwar ist Baluscheks Bild später entstanden, doch gab es bei ihm frühere Annäherungen an das Motiv: »In mehreren Bildern hat Baluschek das tief Deprimierende eines Kinderbegräbnisses wiedergegeben«, weil sein Blick auf »die Schattenseiten der kleinen Welt« gerichtet war und »deshalb Schilderungen von Tod und Trauer wie selbstverständlich in sein Oeuvre« gehörten, merkt Margrit Bröhan an. [13] Auch früh in den 1890er Jahren bereits. Reß und Baluschek haben einander gekannt, zogen beide mit »ins Pschorr«, als 1898 ein Liederabend mit Stolzenbergschen Arno-Holz-Vertonungen wegen Heiserkeit ausfallen mußte. [14] Ob sie sich irgendwann zum Thema Kinderbegräbnis ausgetauscht haben? Nicht auszuschließen.

Im Werk von Arno Holz ging es schon vor dem Phantasus zweimal um Kindstod, und zwar in der Erzählung »Papa Hamlet« von 1889 und im Drama »Die Familie Selicke« von 1890, beides gemeinsam mit Johannes Schlaf erarbeitet und beides Elendsschilderungen. In »Papa Hamlet« erstickt der heruntergekommene, trunksüchtige Schauspieler Niels Thienwiebel seinen Sohn, den Säugling »Fortinbras«, in »Familie Selicke« stirbt das achtjährige Linchen an Tuberkulose. Im ersten Phantasusheft läßt er ein verstorbenes Kind sprechen:

Auf einem Stern mit silbernen Zacken
sitz ich und lach ich – ein kleines Kind.

Vögel und Blumen haben mich lieb,
blonde Engel spielen mit mir.

Unten grämt sich der Vater,
unten schluchzt die Mutter,
ich sitze und flechte mir einen Kranz aus Himmelsschlüsselchen.

Lieber Vater! Liebe Mutter!
Weint nicht!

Seht:

hier wachsen Blumen,
Lämmer springen,
und an jedem blanken Zacken
hängt ein Zuckerherz! [15]

–––oooOooo–––

Eine Anekdote aus damaliger Zeit kann ich bei dieser Gelegenheit nicht vermeiden. Sie ist mir – leider habe ich nichts dazu notiert – vor gut 40 Jahren untergekommen. Sie handelt von Carl Mampe, als gut betuchter Produzent des süßlichen Magenbitters »Mampe Halb und Halb« zweifellos den »höhern Ständen« angehörend. Mehr als ein Kind starb ihm dennoch. Bei einer »Folgebeisetzung« habe der Pastor in der Grabrede gesagt: »Wieder hat es dem HErrn gefallen, einen kleinen Mampe zu sich zu nehmen.« – Die Komik darin, zunächst schlicht vom Wortspiel mit dem Namen des Likörherstellers und der volkstümlichen Bezeichnung eines Likörglases mit seinem Erzeugnis sichergestellt, vertieft sich dadurch, daß sie zugleich den geläufigen Trauerfall mit dem beliebten »Sorgenbrecher« zusammenschaltet.

Robert Wohlleben


Baluscheks Bild »Tauwetter« wiedergegeben nach: Hans Baluschek 1873–1935. Berlin: Staatliche Kunsthalle Berlin 1991, S. 161.

Karikatur »Das Portal!« in Kladderadatsch, Nr. 9, 2. Beiblatt, 26. 2. 1899.

1] Arno Holz: Phantasus. Verkleinerter Faksimiledruck der Erstfassung. Hg. v. Gerhard Schulz. Stuttgart: Reclam 1968 u. ö. (RUB Nr. 8549), S. 51. – Aufnahme des Grabsteins dieses einzigen Unbekannten unter den Märzgefallenen: https://de.wikipedia.org/wiki/Friedhof_der_M%C3%A4rzgefallenen#/media/Datei:FdM_Unbekannter.JPG.
2] Georg Stolzenberg: Neues Leben. Berlin: Johann Sassenbach 1898 (1. Heft), S. 16.
3] Helmut Heißenbüttel: Kombinationen. Eßlingen: Bechtle 1954, S. 48.
4] Stolzenberg, Neues Leben, 1. Heft, S. 30.
5] Georg Stolzenberg: Neues Leben. Zweites Heft. Berlin: Johann Sassenbach 1899, S. 36.
6] Georg Stolzenberg: Neues Leben. Drittes Heft. Berlin: Johann Sassenbach 1903, S. 51.
7} Rolf Wolfgang MArtens: Befreite Flügel. Berlin: Johann Sassenbach 1899, S. 50.
8] Robert Reß: Farben. Berlin: Johann Sassenbach 1899, S. 18.
9] Ebd., S. 28.
10] Meyers Großes Konversations-Lexikon. 6. Aufl., Neuer Abdruck. 20 Bde. Leipzig, Wien: Bibliographisches Institut 1905–1909, Bd. 11, S. 16-18.
11] Margrit Bröhan: Tod und Trauer im Werk von Hans Baluschek. In: Hans Baluschek 1873–1935. Berlin: Staatliche Kunsthalle Berlin 1991, S. 155-179, hier S. 161.
12] Ebd. S. 162.
13] Ebd. S. 160.
14] Reinhard Piper: Vormittag. Erinnerungen eines Verlegers. München: R. Piper & Co. 1947, S. 216 f.
15] Holz, Phantasus (Reclam), S. 53.

(Die Gedichte von Martens, Piper, Reß und Stolzenberg sämtlich enthalten in Antreten zum Dichten! Lyriker um Arno Holz. Rolf Wolfgang Martens, Reinhard Piper, Robert Ress, Georg Stolzenberg, Paul Victor. Hg. v. Robert Wohlleben. Leipzig: Reinecke & Voß 2013. Dort fortlaufend wiedergegeben, Seitenzählung der Hefte in den Randspalten.)


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