Regiment Sassenbach: Topologie der Motive


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Arno Holz
Arno Holz

Kindheit

In der Abteilung »Kindheitsparadies« der Phantasus-Nachlaßfassung hat Arno Holz achtzehn Gedichte versammelt, [1] eins mehr als in der entsprechenden Abteilung II der Phantasusausgabe von 1925. [2] Zwölf der Gedichte sind aus den Minimalversionen in den beiden Heften von 1898/99 hervorgegangen. [3] Im zweiten Phantasusheft geht dem Kind Arno Holz dies durch den Kopf:

Ich liege auf dem alten Kräuterboden und »simmiliere«.

Der liebe Gott ist der Konditor Knorr.
Er hat eine weisse Mütze
und in seinem Fenster stehn lauter Likörflaschen.
Wenn die Sonne scheint, kann man mitten durch sie durchsehn.
Dann sind die Kuchen dahinter manchmal gelb, manchmal rot und manchmal sogar blau.

Der Teufel ist der Schornsteinfeger Killkant.
Er hat einen Cylinderhut und keine Strümpfe. Seine Füsse sind zum Schämen.
Wenn der am lieben Gott seine Likörflaschen vorbeigeht,
verdrehn sich seine Augen.

Sie sehn dann weiss aus.

Wenn man tot ist,
wird man in die Erde gebuddelt und kriegt einen Kranz auf den Bauch.

Ja.
Und wenn dann bald wieder Weihnachten ist,
backt die Mutter Judenkringel!

Ach, Judenkringel!

Die kann man immerzu essen. Die sind das Schönste, was es giebt. [4]

Eine besinnlich amüsierte Rückschau auf kleinkindlichen Welterklärungversuch. Mit Andeutung kindlichen Zungenschlags und in präzisem Dreisprung: Von den menschgewordenen Numinosa Gott und Teufel zum noch unbegriffenen Tod, und als es nicht weitergeht, vielleicht zu unheimlich wird, rettet die mundwässernde Vorstellung von den weihnachtlichen Judenkringeln.

Wie in variierender Bezugnahme auf Holzens kindlichen Blick ins »göttliche« Konditoreischaufenster steht gleichzeitig im zweiten Heft von Stolzenbergs »Neuem Leben« eine ganz anders getönte Ausführung dieses speziellen Motivs:

In ihrem Schaufenster
lagerten bleiche Bonbons,
noch aus der Zeit Friedrich Wilhelms IV.

Ihre gebacknen Figuren
waren immer Blessirte oder Krüppel.

Unseliges Weib!

Aber ich liebte sie und träumte von ihr.

Sie war meine Freundin
und schenkte mir Kuchenkrümel;
zwischen ihnen ein Ohrstöpsel aus Watte.

Eines Morgens war der Laden zu.

Der Storch hatte ihr ein Kind gebracht.

Sicher
ein buckliches Kuchenmännchen.

Ach, und sie selber
war eingegangen zu ihren verstorbenen Süßigkeiten! [5]

Diese Kindheitserinnerung zerfließt durchaus nicht, hat im Gegenteil sehr harte Kontur. Bei den »Blessirten« und »Krüppeln« ist an Kriegsopfer zu denken. Nicht von 70/71, da hätte der 1857 geborene Stolzenberg bestimmt nicht mehr an den Klapperstorch geglaubt, doch gab’s ja zuvor genug Kriegerisches mit verwundet Überlebenden, in Einzelfällen vielleicht gar so weit zurück bis zur Kanonade von Valmy 1792, weiter dann – in Stolzenbergs Kindheit fallend – bis zur Erstürmung der Düppeler Schanzen 1864. Der Ohrstöpsel aus Watte zwischen den Kuchenkrümeln ist gut für ein betretenes kleines Schocklachen. Der Schluß – mit den Süßigkeiten auf den Beginn zurückkommend – trifft hart, genau und zart: So mißglückt das Lächeln, wenn eine Untröstbarkeit verschluckt wird.

Insgesamt schaute Stolzenberg – verglichen mit Holz und Martens – eher selten in die Kindheit zurück. Hier seine Erinnerung an einen kindheitlichen Grabbesuch:

Das Kindermädchen führt mich in einen Garten voll Schweigen.

Hier wohnt deine Mutti.

Warum kommt sie nicht?

Ich starre auf das bunte Blumenbeet.

An den vier Ecken die hohen Rosenstöcke
überrieseln mich mit weichen Blättern.

Mich schaudert.

Aus einem
fliegen zwei Vögel hoch.

Ein Nest!

Den Jungen zuckt das Herz;
sie schreien jämmerlich. [6]

Das Kind entdeckt eine metaphysische Leerstelle:

Die Schulmappe unterm Arm
spaziere ich unter dem kühlen Märzhimmel.

Der angeschwollne Bach braust sein Frühlingslied.

In die Weidenzweige
schießt rotes Blut.

Ich spüre:
Etwas fehlt in der Welt!

Aber was? [7]

Mit anscheinend immer noch diebischem Vergnügen denkt Stolzenberg an einen Streich zurück:

In unser dunkles Stübchen leuchtet der Schnee.

Draußen
trappeln die Pferde wie auf Sammt;
Schlittenschellen läuten im Takt, verwimmern in der Ferne.

Großmutter schnarcht; das gurrt so graulich.

Ich blicke scheu in die Ecke
nach dem schwarzen Schrank mit dem bleichen Uhrgesicht
und lange langsam in meine Tasche nach den Knallerbsen. [8]

Hier ist auch der Großvater dabei:

Unter der knisternden Oellampe
glänzt die aufgeschlagne Goldschnittbibel.

Großvater,
hinter dem Ohr eine spanische Fliege,
die Brille auf der langen Nasenspitze,
zittert sich mit dem Zeigefinger die Zeilen entlang.

Aus dem Himmelsfenster
lehnt der liebe Gott.
An langen Drähten lenkt er die Menschen.
Der Böse
purzelt und bricht das Nasenbein.
Der Gute findet ein Fünfgroschenstück.

Großmutter strickt an ihrem Seelenwärmer.
Gähnend
preßt sie sich die lange Nadel vor die nagelneuen Mausezähnchen.
Aus ihrem Knäuel,
endlos,
zieht sie den grauen Faden. [9]

Die Kindheitserinnerung erfaßt noch jemanden aus dem Kreis der Alten:

Der Märchenonkel, die dicke Maschine, ist abgeschnurrt.
Die Buntstifte her!
Wir wollen ihn malen.

Von seinem runden Bolzenkopf
nach allen Seiten starrt die blonde Bürste;
drunter
blinkern schmale Augenschlitze wasserblau,
hakt in die Welt die schiefgeschnaubte Familiennase,
glitzert aus dem Nußknackermaul
ein goldner Zahn.

Seine zehn Weißwurschtfinger
ruhn gefaltet auf seinem karrierten Bauch.

Er ist mit lauter Bonbons und Prallinees gefüllt.

Hinten aus seinem Kummetkragen
kuckt das Aufhängsel.

Zieht mal dran!

Dann dreht er die Daumen umeinander
und knarzt noch ein Märchen. [10]

Zwei kleine »Kindheitsabteilungen«, weniger humorig paradiesisch, bietet der 1868 geborene Rolf Wolfgang Martens. Mit Schatten von Krieg wie in Stolzenbergs Konditoreigedicht … Mitte Juli 1870 ging es gegen Frankreich:

»Muß i denn, muß i denn zum Städtle hinaus Städtle hinaus,
Und Du, mein Schatz, bleibst hier!«

Mit klingendem Spiel und wehenden Fahnen zogen sie zum Bahnhof,
nach Frankreich!

Papa und Mama weinen.

Ich,
an Tante Dorchens Schürze geklammert,
brülle auch mit.

Zu schrecklich!

Die große Schwester
nimmt mich auf und bringt mich zu Bett.

»So Kind!
Nun wollen wir den lieben Gott bitten, daß sie alle gesund wiederkehren!«

Ich schluchze noch eine Weile vor mich hin;
kucke durchs offne Fenster in den schwülen, flimmernden Sommerabend
und schlafe ein. [11]

Bei schwerer Krankheit ging es mit dem Kind hart am Rand der Grube her (wie mit dem Deichgrafen im »Schimmelreiter«):

Zwei Monate schon liege ich im Bett.

Aber ich brauch nicht zur Schule!

Dorchen
hat so schön die Lampe angesteckt.

Der Geheimrat
fühlt mir den Puls
und klopft auf meine Brust mit einem niedlichen Silberhämmerchen.

Ich muß tief Atem holen.

Er horcht.

Nun legt er mir den Thermometer in den Arm.

Wie so ne Puppe!

Dann gehn sie ins andre Zimmer
und tuscheln.

Ich verstehe Alles!

»Ja, gnädige Frau, wenn er die Nacht übersteht . . .«

Spät.

Ich starre an die Decke, wo vom Nachtlicht der Scheinkringel zittert,
höre die Uhr ticken
und denke an garnichts. [12]

Doch, er dachte an was:

Mamaa!
Du sollst an meinem Bett bleiben!

Muß ich nu sterben?
Wo komm ich dann hin? Zum lieben Gott?
Straft der mich?
Mama!

Aber der Herr Jesus hat mich lieb. Der beschützt mich.
Ich habe auch immer gebetet!

S’ist schön im Himmel. Da sind Engelchen.
Ach, ja! —

Mama, ist das auch wahr, oder sagst Du bloß so? [13]

Ganz anders als für den sich zu Tode ängstenden kleinen Rolf Wolfgang war das Kranksein für den kleinen Arno ausgesprochen ein Genuß:

Kranksein!

Nicht mehr in die olle Schule gehn brauchen,
den ganzen Tag zu Hause bleiben
und
aber auch rein garnichts, was einem weh tut!

Mutter macht mir Himbeerwasser,
streichelt mich
und
zuckert mir Apfelsinen.

Ach, ist das schön!

Der große Tisch wird an mein Bett gerückt;
aus
bunten Schiebpappkästchen,
niedlichen Pillenschächtelchen und richtigen Medizinflaschen
baue
ich mir eine Festung für meine Bleisoldaten;
die
ganze Schublade liegt voller Bonbons.

Am
Nachmittag,
wenn man dann geschlafen hat,
kommt die alte
Knoppka,
»Na, Dickus? Mal wieder das Piepchen verquer?«
lacht und erzählt
Geschichten.

Oder
man liest den Robinson,
Hauffs Märchen, oder den Lederstrumpf,
oder
man besieht Bilder.

Nich der Doktor!

Der hat immer son
Hörrohr. [14]

Hörrohr

Das Gedicht liest sich, als sei es Parallele zu den beiden Martensschen Krankheitsgedichten. Hier wie da gleich in zweiter Zeile die Erleichterung, nicht zur Schule zu brauchen, die Mutter am Bett, der Arzt bei Martens mit Reflexhammer und Thermometer zu Besuch, bei Holz des hölzernen Stethoskops wegen nicht erwünscht. Die unterhaltsame »alte Knoppka« – wohl eine Nachbarin oder gute Bekannte der Familie – ist offensichtlich nicht jemand wie der »alte Kopelke«, der in der von Holz und Johannes Schlaf verfaßten naturalistischen Tragödie »Die Familie Selicke« von 1890 nicht verhindern kann, daß die schwindsüchtige kleine Tochter Linchen stirbt. Er ist ein Kurpfuscher, womöglich staatlich lizenziert und dann geholt, wenn das Honorar für einen approbierten Arzt nicht zu erschwingen ist oder die Ausgabe aus Sparsamkeit oder Geiz gescheut wird. »Ach, der alte Quacksalber?!«, mokiert sich der ältere Selicke-Sohn über den alten Kopelke, woraufhin ihm seine Mutter über den Mund fährt: »Na, Du, Großmaul, wirst doch nich immer gleich Geld geb’n für’n Docter!« [15] – Doch im Apothekerhaushalt kommt natürlich der Doktor.

Das Holzsche Gedicht ist in keiner der zu Holzens Lebzeiten erschienenen Phantasus-Versionen enthalten, sondern nur in der 1961 bei Luchterhand erschienenen Nachlaßfassung des Phantasus. Duktus und Motive könnten jedoch für Entstehung in der Zeit des Regiments Sassenbach sprechen. Auch ein paar andre Gedichte aus dieser Periode sind erst in spätere Phantasus-Ausgaben eingegangen.

Exakt dieselbe Motivik findet sich exakt zur selben Zeit bei Paula und Richard Dehmel, die damals auch in Berlin lebten. Arno Holz hatte kollegialen bis freundschaftlichen Umgang mit ihnen. Mindestens das ganze Jahr 1898 über hatte Richard Dehmel Phantasus-Gedichte im Programm seiner Vortragsabende, schon vor Erscheinen des ersten Phantasus-Hefts. [16] Ob es zwischen den beiden zu Werkstattgesprächen über Gedichtmotive kam? Dies das erste der fünf 1899 im »Pan« veröffentlichten »Kindergedichte« von Paula und Richard Dehmel, gut anderthalb Jahre später in ihrem Kinderbuch »Fitzebutze« enthalten:

 

DER KLEINE LAZARUS

NACH R. L. STEVENSON

Ich bin der kleine Lazarus,
der still zu Bette liegen muß;
die Nacht ist immer schrecklich lang,
ich bin schon sieben Tage krank.

Ich weiß, im ganzen Hause gehn
die großen Leute auf den Zehn;
ich mach’ mir aber garnichts draus,
ich packe still mein Spielzeug aus.

Ich schicke mein Soldatenheer
durch meine Kissen kreuz und quer,
von Thal zu Thal, bergauf bergab,
und manchmal kommt ein tiefes Grab.

Und auf dem Laken, weiß wie Schnee,
ziehn meine Schiffe über See;
und um die Wellen geht ein Wall,
da bau’ ich Burgen überall.

Ich bin der Riese groß und still,
der Alles thun kann, was er will,
vom Bettberg bis zum Lakenstrand
im Reich der weißen Leinewand. [17]

Ernst Kreidolf
Illustration von
Ernst Kreidolf

Die Vorlage für die Übertragung:

 

The Land of Counterpane

When I was sick and lay a-bed,
I had two pillows at my head,
And all my toys beside me lay
To keep me happy all the day.

And sometimes for an hour or so
I watched my leaden soldiers go,
With different uniforms and drills,
Among the bed-clothes, through the hills;

And sometimes sent my ships in fleets
All up and down among the sheets;
Or brought my trees and houses out,
And planted cities all about.

I was the giant great and still
That sits upon the pillow-hill,
And sees before him, dale and plain,
The pleasant land of counterpane. [18]

Jessie Willcox Smith
Illustration von
Jessie Willcox Smith

Spekuliert: Werkstattthema könnte durchaus die Adaptation von Stevenson-Gedichten gewesen sein: Unter den im »Pan« veröffentlichten Gedichten der Dehmels ist noch eins »nach R. L. Stevenson«: Ein Kind denkt über seinen Schatten nach. Vielleicht ist die Koinzidenz aber auch wirklich nur zufällig zustande gekommen. Pockenschutzimpfung war damals schon Pflicht, aber die heutzutage üblichen Mehrfachimpfungen, speziell gegen Kinderkrankheiten, waren schließlich noch in weiter Ferne. Besorgniserregend kranke Kinder gehörten also verbreitet zur Normalität. Auch in England, wo Stevenson das kranke Kind bedichtete.

Doch das Spiel mit Bleisoldaten bei Holz und – von Stevensons leaden soldiers her – mit (etwas tautologischem) Soldatenheer bei den Dehmels, die auf den Zehen gehenden Erwachsenen bei Dehmels als Hinzuerfindung und bei Martens die außerhalb des Zimmers Tuschelnden erscheinen fast als signifikante Übereinstimmungen. – Ist das Motiv des kranken Kindes vielleicht von Stevenson über die Dehmels zur Arno-Holz-Schule gelangt?

Hobbes: LeviathanDehmelsche Abweichungen von der Vorlage könnten zu denken geben. Bei Stevenson exerziert anscheinend ein Friedensheer, bei den Dehmels dagegen gibt es offenbar Gefallene. Stevensons zivile Siedlungen wurden bei ihnen zu Burgen … diese dann von Holz zur Festung gesteigert? Kannte er mithin die englische Vorlage nicht direkt, sondern nur durch Dehmelsche Vermittlung? Wie im Deutschen die Zinnsoldaten wären meinem Eindruck nach im Englischen die tin soldiers die nächstliegende Wortwahl bei diesem Spielzeug. Für Stevensons Gedicht allerdings ungeeignet, weil ihnen eine Silbe zur Einhaltung des Versmaßes fehlt. Die leaden soldiers als metrisch bedingte Ausweichlösung? Blei täte es ja auch, fällt insofern nicht besonders auf. Im Deutschen waren damals neben den Zinn- auch die Bleisoldaten möglich; letztere vielleicht nicht so häufig gebraucht, wie der lediglich auf Zinnsoldaten verweisende Eintrag »Bleisoldaten« in der sechsten Auflage von Meyers Großem Konversations vermuten läßt. Womöglich »kleben« Holzens Bleisoldaten an den leaden soldiers der englischen Vorlage; vielleicht sah er sie bei den Dehmels. – In der Illustration zum Dehmelschen Gedicht ist der Lazarus gepanzert und hat blankgezogen, wie Hobbes’ Leviathan. Aber das gehört schon zu einem andren Thema.

Der erwachsene Georg Stolzenberg wußte von einem kranken Kind zu berichten:

Im weißen Kleidchen,
wie in einem Sterbehemdchen,
haben sie das kranke Kind mitten auf die Wiese gesetzt.

Da starrt es in das maigrüne Gras,
in die Pustblumen mit den jungen Greisenköpfchen.

Von seinem Schooß
gleitet die Puppe mit den Glasaugen,
schließt die Lider. [19]

»Etwas fehlt in der Welt«, ging dem kleinen Stolzenberg auf. Der kleine Martens versuchte vergeblich, dahinterzukommen:

Ich möchte wissen, bestimmt wissen,
was hinter der großen schwarzen Mauer ist.

Das alte fromme Tantchen
erzählt bunte Geschichten.

Niemand hat dahinter gesehn!

Versuch ichs, hinüber zu klettern,
und bind ich auch alle Leitern zusammen,
ich komm nicht weit!

Und will ich durchs Thor,
durch das einzige,
so schreckt mich der große, unerbittliche Engel
mit dem Flammenschwert. [20]

Die zweite kleine Abteilung eröffnete Martens mit der Erinnerung an Sommer an der Ostsee. Er träumt sich aus dem Kindsein raus … das Erwachsensein ebenfalls ein Zustand, sich rauszuträumen:

In den großen Ferien,
wenn wir in Heringsdorf waren,
lag ich im weißen Seesande,
starrte auf die blaßblauen Wellen
und träumte.

Wenn ich erst groß bin!

Heute bin ichs,
und träume immer noch. [21]

Gegenwartseindrücke und Erinnerungsbilder in Doppelbelichtung:

Die alten Plätze,
wo wir als Kinder gespielt!

Richtig! da steht noch die Knüppelbank!
Und drüben die Tannen!

Jeden Augenblick, meine ich, muß Dorchen auftauchen,
in ihrem abenteuerlichen Tulpenhut mit den knallgelben Bändern.

Auf ihrem grellgrünen Sonnenschirm
reitet Nini.

Er strahlt unter seiner neuen, weißen Garde du Corps-Mütze!

Wir lagern uns hier in den Schatten,
und kriegen Pfläumchen aus der großen Ledertasche.

Dann liest Dorchen uns vor.

Vom Rumpelstilzchen! [22]

Die Empfindungen vor den Gräbern von Vater, Bruder und Tante sind bestimmt von Erinnerungen bis in die Kindheit zurück:

Um ihre Hügel pflanzten wir Weiden;
die Zweige weinen.

Ob ich sie wiedersehe?

Oft
im Traum
seufzt der Vater.

»Die schlechten Zeiten! So gehts nicht weiter!«

Das alte Dorchen
schiebt den Kinderwagen und hustet.
Noch immer!

Und wieder, manchmal,
wenn die Sonne mich verläßt und die Himmel glühn,
lächelt
über den roten Abendwolken
mit all seinen Märchenbüchern
Nini! [23]

Nini der früh gestorbene Bruder:

Als mein Brüderchen starb,
habe ich bitterlich geweint.

Jetzt,
nach dreißig Jahren,
beneide ich ihn! [24]

Robert Reß scheint in nur einem Gedicht – eigne? – Kinderperspektive einzunehmen:

Aus der Sofaecke
predigt mein alter Grosspapa.

»Junge!
Dass Du nie heiratest!«

Entfaltet eine rote Kinderwindel
und schneuzt noch einen Placken Schnupftaback hinein.

Durch das Stübchen summen die Fliegen. [25]

Das Paradoxe am großväterlichen Rat dürfte aber erst dem Erwachsenen aufgegangen sein … und ihn amüsiert haben: Den Enkel hätte es ja dem seinerzeit »herrschenden« Konzept von Familie nach nicht gegeben, hätte sich der Alte seinem Rat entsprechend verhalten. Un- oder Außereheliches mal beiseite. Im übrigen berührt sich das Gedicht motivisch mit Stolzenbergs Blick auf alte Verwandte.

Ressens in der Abteilung »Milljöh« wiedergegebenes Gedicht vom kleinen Kind, das in die Wohnung hochbefohlen wird, um sich eine Tracht Prügel abzuholen, zeigt, daß ihm kindliches Empfinden nicht gleichgültig war. In geradezu Zilleschem Stil skizziert:

Auf der Strasse wird Eis verkauft,
der Eierbecher ’n Sechser.

Ein langer Lulatsch riskiert ’n Jroschen.

In jeder Lamäng von ner andern Kulöhr,
sitzt er auf seiner Wagendeichsel und lutscht.

Sein Maul wird immer breiter.

Ein kleiner Steppke
weint schon. [26]

Georg Stolzenberg machte aus einer Kinderbeobachtung ein kleine Erzählung:

Auf dem blauen, übergetretenen Halensee
flimmert der erste warme Sonnenschein.

Der alte Weihnachtsstern über dem Kasperletheater
glänzt.

Mit den Füßen in der feuchten Erde
jubeln die Kleinen
über das bunte, hakennasige Kerlchen.

Aus einem schwarzen Kasten taucht
im langen Hemd
ein Gerippe:

»Ich bin der Toood,
ich will dich hooolen!«

›Und ich will dich versohlen!‹

Klatsch!!

Der Unheimliche versinkt.

Schon dämmerts.

Aus dem Boden steigt es weiß,
fühlt den Kindern den Rücken empor
zum Nacken! [27]

Keine Kindheitserinnerung in Reinhard Pipers »Meine Jugend«. [28] Piper wurde als Neunzehnjähriger zum Holzschen Arbeitskreis hinzugezogen, [29] insofern kann seine Titelformulierung gar nicht eine Rückschau à la »Jugenderinnerungen eines alten Mannes« andeuten. Sie bezeichnete den Gegenwartszustand. Kindheit für ihn noch nicht so lange her. Im Sommer 1899, als Holz ihn ins Regiment Sassenbach aufnahm, war Robert Reß gerade 29 geworden, Rolf Wolfgang Martens noch 30, Arno Holz 36, Georg Stolzenberg 42. Vielleicht meinte Piper ja, Erinnerung an die Kindheit sei etwas für sentimentale alte Leute? (So erscheinen sie – einst wie heute – jemandem in seinem damaligen Alter.)

Wenigstens hat Piper an seine Schwester gedacht:

Meine kleine blasse Schwester
schickt mir eine blaue Tüte mit Bonbons.

Mit ihren dünnen Fingerchen hat sie sie zugeknüllt.

Ich mag sie nicht aufmachen.
Freue mich nur über die vielen Kniffe im harten Papier. [30]

Von Hans von Gumppenberg in seinem Parodienbuch freundlich auf den Arm genommen:

Rücksicht

Mein kleines blasses Schwesterchen
Sitzt auf ihrem weißen Töpfchen
Mit dem blauen Blumenmuster,
und kuckt in eine grüne
Bonbondüte.

Sie ist sehr beschäftigt.

Und ich will sie nicht stören. [31]

Robert Wohlleben


1] Arno Holz: Werke. Hg. v. Wilhelm Emrich und Anita Holz. (Neuwied, Berlin-Spandau): Luchterhand 1961–1964, Bd. 1, S. 181-247.
2] Arno Holz: Das Werk. Erste Ausgabe mit Einführungen von Dr. Hans W. Fischer. 10 Bde. Berlin: J. H. W. Dietz Nachfolger 1924 u. 1925, Bd. 7, S. 153-204.
3] Arno Holz: Phantasus. Verkleinerter Faksimiledruck der Erstfassung. Hg, von Gerhard Schulz. Stuttgart: Reclam 1968 u. ö. (RUB Nr. 8549), S. 16, 17, 21, 38, 39, 57, 76, 76, 91, 92, 102, 103.
4] Ebd. S. 76.
5] Georg Stolzenberg: Neues Leben. Zweites Heft. Berlin: Johann Sassenbach 1899, S. 52.
6] Ebd., S. 36.
7] Ebd., S. 37
8] Georg Stolzenberg: Neues Leben. Drittes Heft. Berlin: Johann Sassenbach 1903, S. 12.
9] Ebd., S. 39.
10] Ebd., S. 19.
11] Rolf Wolfgang Martens: Befreite Flügel. Berlin: Johann Sassenbach 1899, S. 10.
12] Ebd., S. 11
13] Ebd., S. 12
14] Holz, Werke, S. 228 f. (Das Gedicht zu Arno Holz’ Lebzeiten nirgendwo gedruckt. Die »Bleisoldatenparallele« zu Stevensons »The Land of Counterpane« läßt vermuten, daß es noch vor 1900 entstand.)
15] Arno Holz, Joannes Schlaf: Die Familie Selicke. Drame in drei Aufzügen. Berlin: Verlag von Wilhelm Issleib (Gustav Schuhr) 1890, S.8.
16] Siehe Arno Holz: Briefe. Hg. v. Anita Holz und Max Wagner. München: R. Piper & Co. 1948, S. 120 und S. 124 (Brief vom 31. 1. bzw. 4. 12. 1898).
17] Pan, 5. Jg., 1899, H. 1, S. 22.; Paula und Richard Dehmel: Fitzbutze. Allerhand Schnickschnack für Kinder. Berlin und Leipzig: Im Insel-Verlag bei Schuster & Loeffler Weihnachten 1900 (Bilder von Ernst Kreidolf), S. 22.
18] Robert Louis Stevenson: A Child’s Garden of Verses. New York: Charles Scribner’s Sons 1905 (Bilder von Jessie Willcox Smith), S. 18.
19] Stolzenberg: Neues Leben (1899), S. 20.
20] Martens, S. 13
21] Ebd., S. 48
22] Ebd., S. 49
23] Ebd., S. 50
24] Ebd., S. 34
25] Robert Reß: Farben. Berlin: Johann Sassenbach 1899, S. 47.
26] Ebd., S. 25.
27] Stolzenberg: Neues Leben (1899), S. 19.
28] Ludwig Reinhard [d. i. Reinhard Piper]: Meine Jugend I. Berlin: Johann Sassenbach 1899.
29] Reinhard Piper: Vormittag. Erinnerungen eines Verlegers. München: R. Piper & Co. 1947, S. 218.
30} Piper, Meine Jugend, S. 51.
31] Hanns von Gumppenberg: Das teutsche Dichterroß in allen Gangarten vorgeritten. München: Verlag der Deutsch-Französischen Rundschau, 1901. Seitenangaben nach 11. u. 12. Aufl. München: Georg D. W. Callwey o. J., S. 101.

(Die Gedichte von Martens, Piper, Reß und Stolzenberg sämtlich enthalten in Antreten zum Dichten! Lyriker um Arno Holz. Rolf Wolfgang Martens, Reinhard Piper, Robert Ress, Georg Stolzenberg, Paul Victor. Hg. v. Robert Wohlleben. Leipzig: Reinecke & Voß 2013. Dort fortlaufend wiedergegeben, Seitenzählung der Hefte in den Randspalten.)


Rechte bei Robert Wohlleben