Regiment Sassenbach: Motiv Reisen


Zu www.fulgura.de mit Navigations-Kolumne

Hans Baluschek: Bahnhof (1904)><br>
<span style=Hans Baluschek: Bahnhof (1904)

Hinaus in die Ferne …

Zwei Möglichkeiten, aus den Begrenztheiten alltäglichen Lebens herauszukommen: sie ausblenden und Phantasiewelten erkunden oder tatsächlich auf Reisen gehen ganz woandershin. Arno Holz praktizierte ersteres:

Gottseidank!

Die Hausthür ist zu, mich kann Niemand mehr besuchen.

Ich öffne ein Päckchen »Blaubienenkorb«
und stopfe die lange Pfeife.

Es regnet so schön.

In den Schlafrock gewickelt,
die Tapete entlang,
fährt sichs jetzt prächtig nach alten Ländern.

Alles versinkt!

Aus einem stillen, himmlisch blauen Wiesenwässerchen
mit bunten, gespiegelten Blumen und Wolken
lande ich in ein Städtchen.

Die dünnen Gräserchen über die bröckelnde Rundmauer blinken noch,
jedes sich drehende Wetterfähnchen
erzählt mir eine Geschichte. [1]

Was der Dichter im einzelnen an Denkwürdigem und Bizarrem auf seiner imaginierten Reise erlebt, ist in den ab 1916 erschienenen Großfassungen des Phantasus ausführlichst ausgesponnen, in den dreibändigen Phantasus-Ausgaben von 1925 und in der Nachlaßfassungvon 1961/62 – dort mit der Überschrift »Das Tausendundzweite Märchen« – jeweils den ganzen zweiten Band füllend. Die ersten und die letzten Wörter der knappen Erstfassung überall gleich.

In meiner Besprechung des eineinviertelstündigen S Press Tonbands Numero 11 – Klaus M. Rarisch spricht den »längsten Satz der Weltliteratur« – faßte ich knapp zusammen:

    »Das Tausendundzweite Märchen« ist ein voyage autour de la chambre. Um »das schönste Kind in Trans-Sphäranien« zu gewinnen, muß der Held 13 monströse Gerichte vertilgen. Der »längste Satz der Weltliteratur« ist sein Bewußtseinsstrom, während er sich zum dritten Gang überwindet (»Tausendfüßer à la Tartare«). Thema ist die Ausgestaltung des Palastes dieser Schönen. Dabei setzt es ein furioses name-dropping kreuz und quer durch Kultur- und Geistesgeschichte von Orient und Okzident, die Namen immer wieder Anlaß zu zupackenden Miniaturen, die in raschen Schnitten den Durchblick auf den jeweiligen Hintergrund öffnen: Arno Holz bringt die Wörter zu den Bildern, und wie!

Eine sehr große, ertragreiche Reise also, doch eben »nur« phantasiert.

Reale Reiseerlebnisse dagegen finden sich in Gedichten seines »Schülers« Rolf Wolfgang Martens geschildert, der hier im Kreis um den Dachkammerpoeten Holz dabei ist:

In meine Dachkammer
eine Etage höher als der Himmel,
kommen sie alle.

Menschen, die Goya und Utamaro lieben,
seltne, ganz ausgefallne, verdrehte Exemplare und Hühner,
die Palestrina über Pietro Mascagni stellen,
alte Herren, die heimlich, wenn im März die Veilchen wieder blühn,
auf den Strassen kleinen Rotznasen Bonbons zustecken,
und junge Leute, die Bücher verkaufen
und Sonntags, in ihren Mussestunden, den lieben Gott totschlagen.

Der Meister, der Meester, der Maëstro, der Maëstrino und der Maëstrillo.

Der Maëstrillo, wie immer, ist der Erste.

Er schüttelt den Schnee von den Schultern,
zieht die Handschuhe aus, knüpft das Halstuch ab,
die nassen Galoschen stellt er draussen neben den Rauchfang auf die Bodentreppe.

Um unser rotes, irisches Oefchen, auf Feldstühlchen,
sitzen wir dann,
horchen, wie ab und zu, unsichtbar, durch die Stille auf den Rost der Coaks nachrutscht,
und freuen uns, wie durchs Dunkel unsre Cigarren glühn! [2]

Unter die »Menschen, die Goya und Utamaro lieben«, zählt Arno Holz den »Meister«, in dem Martens zu erkennen ist. In der 1916 im Insel-Verlag erschienenen ersten der zunehmend exzessiv erweiterten Phantasus-Fassungen liest sich dessen Charakterisierung so:

Menschen, die Goya,
den Dom zu Pistoja, den Paß von Maloja, die Ruinen von Troja,
Masanobu, Motonobu, Moronobu,
Morikuni,
Yeitoku, Sanraku, Utanosuke und Utamaru lieben […] [3]

Beim Ausbau dieser Phantasus-Passage hat Holz also nicht nur Martens’ Interesse an Malerei stark ins Fernöstliche erweitert, sondern ihn auch noch zum weitschweifenden Bildungsreisenden gemacht, ließ ihn bis Troja kommen … letzteres jedoch vielleicht nur »um des Reimes willen« behauptet. Pistoia, nicht weit von Florenz, und Maloja in den Bündner Alpen waren jedoch auf jeden Fall für den – laut Reinhard Piper – »Beinahemillionär« Martens nicht aus der Welt. Sein 1899 erschienenes Heft »Befreite Flügel« enthält drei gewiß ein oder zwei Jahre vorher entstandene Gedichte mit entsprechenden Reiseimpressionen: Alpen und Italien. Die Hinreise:

Ratternd
über den Brenner
trägt mich der Eilzug.

Berglehnen bis in die Wolken!

Grüne Matten,
weiße, getünchte Häuschen mit schwarzen Dächern,
steile Cypressen und Holzschuppen.

Alles winzig wie Kinderspielzeug.

Aus den Felsspalten, vereinzelt, Tannen.

In diesem Abgrund, schwindeltief,
zischt, rast
die Eisack.

Wenn jetzt der Zug entgleist!

Ach was!

Hinter den Gletschern
lacht der azurblaue Himmel Italiens! [4]

Nicht auszuschließen, daß Martens hier etwas beschreibt, was er tatsächlich auf einer Fahrt mit dem Nord Süd Brenner Express irgendwo zwischen Brixen und Bozen beim Blick aus dem Coupéfenster gesehen hat … und sich dabei bänglich Eisenbahnunglücke durch den Kopf gehen ließ. »Stoff« für dies von Befürchtungen unterfütterte Mißtrauen diesem Gebild von Menschenhand gegenüber bot ja schon zu seiner Zeit immer mal wieder die Presseberichterstattung. Meyers Großes Konversations-Lexikon (6. Auflage) weiß im Eintrag »Eisenbahnunfälle« von 849 Zugentgleisungen bei deutschen Eisenbahnen in der Zeit von April 1897 bis einschließlich März 1899. – Martens war mit dieser Empfindung nicht allein. So griff die am 4. Juli 1899 erschienene Nr. 383 der Satirezeitschrift »Der wahre Jakob« im letzten Bild der neunteiligen Bilderfolge »Moderner Todtentanz« das Thema auf:

Ein modernder Todtentanz, H. G. Jentsch

Nach Abfahrt vom Anhalter Bahnhof kurz vor Mitternacht fuhr der Brenner-Expreß am Nachmittag drauf eine ganze Weile den Eisack entlang, bevor er schließlich abends um kurz nach sieben in Verona ankam. Es muß für Martens ein recht frischer Eindruck gewesen sein, denn die von der Compagnie Internationale des Wagons-Lits betriebene Eisenbahnverbindung zwischen Berlin und – nach Zugteilung in Verona – Mailand und Cannes existierte erst seit November 1897; anfangs nur bis Verona führend und Umsteigen erfordernd.

Martens fuhr nach Venedig weiter:

Wie im Märchenlande!

Durch ein Labyrinth von Kanälen,
zwischen Marmorpalästen mit verwitterndem Zackenzierrat,
zwischen schimmernden Kirchen mit Kuppeln und Spitzen und Türmen,
lautlos,
gleite ich in schwarzer Gondel.

Aus der Piazza
auf schlanken Säulen
in einen blauen, blendenden Himmel
der Marcuslöwe und San Theodoro!

Ehrfurchtsvoll, schaudernd,
betrete ich den Boden, die geheiligte Stätte,
wo weise, silberbärtige Dogen,
unter wallendem Purpur, in klirrender Rüstung
den Bucentoro bestiegen,
siegreich,
um sich als Herrscher dem Meer zu vermählen.

Broncerosse, die Basilika, der Palazzo ducale,
und allüberragend die Campanile!

Zuviel, zuviel!

»My dear!«

Ein langer American-man
mit Bädeker, butterblondem Backenbart und Tropenhelm,
umtanzt von einer Horde zerlumpter Bettelbengels,
tippt mir mit seinem Sonnenschirm auf die Schulter.

»I beg your pardon!
Uo sein hier die grosse Museum von die alte Sachen?«
[5]

Man sieht: Als guter Europäer kam Martens halt nicht um die stereotype Karikatur des Mannes aus der Neuen Welt herum.

Vom Marcusplatz in den Dogenpalast mit seinen Gefängnissen. Und nun trifft der Spott nicht etwa die deutschsprachige Touristengruppe, sondern den für sie abgeordneten Führer:

Aus dem hohen, marmorschimmernden Saal,
den Maestro Tiziano geschmückt,
kommen wir durch einen engen Gang
zu einer Fallthür.

Der Führer,
ein fesches Weaner Fiakerg’sicht mit ausgefranzten Hosen,
zündet seine Laterne an.

Eine morsche Holztreppe.

»Hier, meine geehrten Herrschaften, die Seufzerbrücken!«
Noch tiefer.

In feuchte Finsternis!

Schmale, niedrige Gänge,
am Boden verstreut Thürlöcher zu schwarzen Steinkäfigen!

»Und hier, sehn’s, meine Herrn, am End,
für die politischen Verbrecher!
In diese Maueröffnung stellte der Henker sei Lamperl,
wenn er hier orbeitete.
An den Haken, da droben,
hing er den Körper, mit die Füß’,
damit er sich ausblutete!
Und durch diese drei Löcher, schaun’s, floß das Blut ab.« [6]

Reiseeindruck auch dieser Moment einer offenbar langen winterlichen Eisenbahnfahrt mit ungenanntem Ziel:

Durch den blauen Zeugschirm dämmert die Coupeelampe.

Der Mann im Pelz, mir gegenüber,
schnarcht.

Ab und zu
heult die Signalpfeife.

Ich schleppe mich müde ans Fenster.

Mit erstarrten Fingern öffne ich den Vorhang.

Wirbelnde, tanzende Schneeflocken im Mondlicht!

Eisige Helle!

Der Zug
stampft und stößt.

Auf immer hinter mir liegt meine Heimat! [7]

Mag sein, daß schon dem Schuljungen Martens das Reisen zur Selbstverständlichkeit wurde … auch wenns von Berlin zur Ostsee nicht so weit war wie nach Italien:

In den großen Ferien,
wenn wir in Heringsdorf waren,
lag ich im weißen Seesande,
starrte auf die blaßblauen Wellen
und träumte.

Wenn ich erst groß bin!

Heute bin ichs,
und träume immer noch. — [8]

In den Gedichten der »Holzschüler« Reinhard Piper und Robert Reß ist nirgends vom Reisen die Rede. Bei Georg Stolzenberg scheint allenfalls ein Gedicht im dritten Heft »Neues Leben«, von 1903, einem Aufenthalt weiter weg von Berlin entsprungen zu sein:

Die Fontaine vor dem grünen Taxustheater
knixt
und schüttelt ihre Allongeperrücke.

Cypressen bewachen eine kleine Glockenpagode.

Ich steige drei Stufen
und drücke mein Gesicht gegen die tiefblaue Scheibe.

Mein Schatten liegt lang über einen schmalen Sarg.

Staub!

Wieder über die grellen Kieswege
schießen Schwalben.

Vor dem alten Posaunenportal
im bunten Bosket schmachten Violen, blüht in Herzform brennende Liebe.
Trunken vom blauen Tag
durch sein blitzendes Bauer
turnt ein Papagei.

Aus seinem Schnabel
kichert noch immer die Silberstimme der Prinzessin Alice! [9]

… Darmstadt?

Mit dem Dampfer, von dem er schreibt, war er jedenfalls nicht in die Ferne unterwegs, sondern wohl nur auf einer Ausflugsfahrt zur Werderschen Obstbaumblüte:

Tausend Jahre leben!
Und immer wieder in den neuen Frühling jauchzen!

Unter mir stampft das Dampfschiff
über den blauen See.

Sonne blendet.

Am Ufer die Bäume
stehn noch mit den Füßen im Wasser,
aus dem die ersten gelben Kelche tauchen.

Von der Insel mit dem weißen Hügel
treibt der Wind die Flöckchen.

In die blühende Ewigkeit! [10]

Ähnlich bescheiden nimmt sich aus, was – von Phantasien und Erinnerungen an die Kindheit abgesehn – in Arno Holzens Phantasus von 1898/99 außerhalb von Berlin und Umgebung zu lokalisieren ist. Wie bei Stolzenberg kein Vergleich mit Martens’ Fernreise im Luxuszug:

Zwischen Bergen im Sonnenschein
liegt am Fluss das Städtchen.

Hier oben von meinem Meilenstein seh ich über alle Dächer.

Kerzengrade steigt der Rauch.

Durch einen blühenden Hollunderbusch
unterscheide ich deutlich,
unter der alten Grünspankuppel,
die Thurmuhr.

Ein himmelblaues Zifferblatt mit weissen Zahlen.

Noch drei kleine Striche,
und die gesammte Bürgerschaft
setzt sich pünktlich zu Mittag.

Zwölf!

Es ist heute Sonnabend, es giebt also überall Eierkuchen.

Ich köpfe vergnügt eine Distel
und wandre weiter. [11]

Der ungebunden durch die bürgerliche Welt Wandernde erinnert ein bißchen an die Scholaren, Vaganten und Fahrenden aus verklärten Vergangenheiten, die hin und wieder im Gedichtband »Deutsche Weisen« Ähnliches in den Mund gelegt bekommen, 1884 gemeinsam von Arno Holz und seinem Freund Oskar Jerschke herausgebracht – Julius Wolff gewidmet und entsprechend mit einigem an »Butzenscheibenlyrik«. Gleich die erste Strophe des dortigen Gedichts »Mittagsgeläut« macht klar, daß mittags gewandert wird:

Es klingen des Dörfchens Glocken
Und tragen den Schall in die Rund,
Ich wandre; sie läuten und locken
In brennender Mittagsstund. [12]

Holz hat fast vierzig der insgesamt fünfzig Gedichte seines im Jahr zuvor erschienenen Bandes »Klinginsherz!« in die »Deutschen Weisen« aufgenommen, das »Mittagsgeläut« nicht darunter. Nichts so recht Vagantisches in »Klinginsherz!«, vielleicht war bei den »Deutschen Weisen« Jerschke dafür zuständig.

Ergebnis einer wohl nicht so übermäßig weit von Berlin wegführenden Reise dies außer- wie innerhalb Eingetrübte im Phantasus:

Draussen die Düne.

Einsam das Haus,
eintönig,
ans Fenster,
der Regen.

Hinter mir,
tictac,
eine Uhr,
meine Stirn
gegen die Scheibe.

Nichts.

Alles vorbei.

Grau der Himmel,
grau die See
und grau
das Herz. [13]

Robert Wohlleben

Baluscheks Bild »Bahnhof« wiedergegeben nach: Hans Baluschek 1873–1935. Berlin: Staatliche Kunsthalle Berlin 1991, S. 32.
1] Arno Holz: Phantasus. Verkleinerter Faksimiledruck der Erstfassung. Hg. von Gerhard Schulz. Stuttgart: Reclam (1968 u. ö.) = RUB Nr. 8549, S. 74.
2] Phantasus (Reclam), S. 104.
3] Arno Holz: Phantasus. Leipzig: Insel-Verlag 1916, S. 264. Gleicher Wortlaut bei jeweils veränderter Zeilenbrechung in A. H.: Das Werk, Bd. 7–9 (Berlin 1925), S. 919, sowie in A. H.: Werke, Bd. 3 (Neuwied a. Rh., Berlin-Spandau 1962), S. 53 (Maloja dort eigenartigerweise mit y geschrieben).
4] AzD, S. 21.
5] AzD, S. 22.
6] AzD, S. 22 f.
7] AzD, S. 27.
8] AzD, S. 24 f.
9] AzD, S. 116.
10] AzD, S. 92.
11] Phantasus (Reclam), S. 23.
12] Arno Holz, Oscar Jerschke: Deutsche Weisen. Berlin, Leipzig: Verlag von Oscar Parrisius 1884, S. 40.
13] Phantasus (Reclam), S. 49.

(Die Gedichte von Martens, Piper, Reß und Stolzenberg sämtlich enthalten in Antreten zum Dichten! Lyriker um Arno Holz. Rolf Wolfgang Martens, Reinhard Piper, Robert Ress, Georg Stolzenberg, Paul Victor. Hg. v. Robert Wohlleben. Leipzig: Reinecke & Voß 2013.)


Rechte bei Robert Wohlleben