Paul Victor
Zu Paul Victors Vita waren kaum Hinweise zu finden. Laut Kürschners Deutschem Literatur- Kalender auf das Jahr 1902 wurde der Dr. phil. am 29. 5. 1874 in Saargemünd geboren, schrieb »Dichtung (bes. Lyrik)« und Kritiken, hatte 1896 das Buch Kindergeschichten veröffentlicht und wohnte Eislebenerstraße 19 in Berlin W. Reinhard Piper erwähnt Paul Victor als Holzschüler, wo er in seinen Memoiren auf die »geistige Erkrankung« von Johannes Schlaf, Holzens literarischem Gefährten bei den naturalistischen Produktionen, zu sprechen kommt: Neu war es mir, daß auch ein andrer »Schüler« von ihm, Paul Victor, inzwischen geisteskrank geworden war. Von diesem hatte ich in München ein feines Buch »Kindergeschichten« gelesen. Auch er lebte in dem Wahn, Holz habe ihn vergiftet und dasselbe Verbrechen habe er auch an Hauptmann und Dehmel verübt, diese wüßten es nur noch nicht. [1] Ähnliches zu diesem »jungen Lyriker« Holz habe ihn »verhext« nämlich zitiert Helmut Scheuer aus »Der bunte Spiegel«, den Erinnerungen des Kunsthistorikers Max Osborn (1870 bis 1946). [2] Der Dichter und Journalist Franz Servaes kommt 1898 zu der Zeit schon bekannt mit Arno Holz im Aufsatz Impressionistische Lyrik auf die »Gruppe jüngerer impressionistischer Lyriker« zu sprechen, die sich um Holz herum bildet, und bemerkt: Holzens nächste Gefolgsmannen sind zur Zeit Paul Victor (der leider kürzlich erkrankt ist) und Georg Stolzenberg, vielleicht noch einige andere. [ ] Paul Victor ist bloß gelegentlich hervorgetreten. Seine Dichtung ist von still-schwärmerischem, melancholisch-gedrücktem Charakter und, soweit ich urtheilen kann, noch vielfach tastend. [3] Außer womöglich noch woanders wovon ich nichts weiß trat Victor zur Zeit des Regiments Sassenbach prominent in der Kunst- und Literaturzeitschrift Pan hervor. Dort erschienen im Mai 1898 sechs seiner Mittelachs-Gedichte, [4] ihr Ton durch das erste angedeutet: Vor meinen Augen wächst ein Baum, Dort zu erscheinen sicherte Renommee, denn der höchst vornehme Pan war nichts für kleine Leute: Ein Jahresabonnement drunter ging es nicht der »auf bestem, starkem Kupferdruckpapier in 1100 Exemplaren« gedruckten »allgemeinen Ausgabe« kostete 75 Mark (ein Monatslohn für den jungen Buchhandelsgehilfen Reinhard Piper), die in 75 Exemplaren gedruckte »Vorzugs-Ausgabe« mit »Druck der Reproduktionen auf Kaiserlichem Japan« und einer »Mappe mit den Avant-la-lettre-drucken« als Beigabe 160 Mark, die in 37 Exemplaren hergestellte »Künstler-Ausgabe« dann 300 Mark »nur an Mitglieder abgegeben«, gänzlich »auf Kaiserlichem Japan gedruckt«, in der Beilagenmappe die »Avant-la-lettre-drucke von der unverstählten Platte auf Büttenjapan, vom Künstler unterzeichnet«. [5] Zur Dimensionierung der Preise: Als angestellter Jungbuchhändler in Berlin verdiente Reinhard Piper 1898 zunächst 75, etwas später 90 Mark im Monat. [6] Der Holzschüler Rolf Wolfgang Martens dagegen, laut Reinhard Piper ein »Beinahe-Millionär«, ist 1898 im Prospekt-Buch des »Pan« unter den Abonnenten aufgeführt. Schon 1896 war Victor im Musenalmanach Berliner Studenten vertreten, herausgegeben von Gottlieb Fritz, Rudolf Kassner, Emil Schering. Mit zusammen 49 von insgesamt 196 Seiten haben Victors Beiträge den stärksten Anteil: dreizehn Gedichte noch nicht im Phantasusstil , das Prosastück »Der Brief an den lieben Gott« und die dramatische Skizze »Sâvitrî, die treue Gattin. Nach einer Episode des Mahâbhârata «. Die Gedichte neun gereimt, drei mit Odenanklang, eins in halbwegs »strengen« Blankversen sind offensichtlich noch ganz unbeeinflußt von damaligen Neutönern. Als Beispiel das erste von sechs Gedichten mit der Sammelüberschrift »Am Genfer See. Lausanne 1893«, ein Naturbild: Morgenstille. In Johann Sassenbachs Zeitschrift Neuland, Ausgabe August 1897, verriß Hans Benzmann die Sammlung. Er vermißte »Frische, Sturm und Drang, Jugendlichkeit und Selbständigkeit« sowie »die Sehnsucht nach Grösse, nach Freiheit, nach geistiger Führerschaft in den Herzen unserer academischen Jugend«. Seinem Urteil nach sind »die meisten der vorliegenden Gedichte ödeste Dilettantenmachwerke«. (Berlin: Verlag der Deutschen Schriftstellergenossenschaft 1896). Zum Schluß dann doch eine Prise Anerkennung: Nur das erste Lallen einiger Talente macht das Buch ein wenig interessant. Begabt scheinen mir zu sein: Hans Brennert, Carl Bulcke [ ], Eduard Schmidt [ ], Rudolf Kassner, Ernst Schur (der Dialog »Zwei Seelen« ist das beste Stück der Sammlung), A[lwin Kurt Theodor]. Tielo [ ], Elisar von Kupffer [ ], Paul Victor (seine »Kindergedichte« sind sehr lieblich, naiv und zart) und Emil Schering (der selbständigste von allen). [8] Bei Paul Victor ist der Rezensent vielleicht durch die Eile des Überfliegens etwas durcheinandergekommen: Die dreizehn lyrischen Stücke sind sämtlich keine »Kindergedichte«. Da hat das eine Prosastück interferiert: »Der Brief an den lieben Gott. Eine Kindergeschichte«, mit der Fußnote »Aus der gleichzeitig erscheinenden Sammlung: Kindergeschichten« (Berlin: Verlag der Deutschen Schriftstellergenossenschaft 1896). Der Name Victor fällt in einem Brief, den Holz am 20. Juli 1897 an Georg Stolzenberg schrieb. Darin geht es um beigeschlossene Texte von Paul Verlaine und Holz, für einen Fall den Komponisten fordernd: Von vielleicht Komponierbarem lege ich heute nur das kleine Triptychon »Frühling« bei, das Ihnen aber allerdings wahrscheinlich zu lang sein wird. Die im »neuen« Ton möchte ich zuerst noch einmal durcharbeiten. Ich setze aber voraus, daß Herr Victor Sie inzwischen schadlos halten wird. [9] Paul Victor hatte also etwas von seinen Gedichten im neuen Phantasusstil zur Vertonung an Stolzenberg geben sollen, war demnach in den Dichterkreis eingebunden. Servaes vermerkt zu Georg Stolzenberg, dem »Musikus der Gruppe«, dieser habe außer Gedichten von Arno Holz, Alfred Mombert und Richard Dehmel auch Gedichte von Paul Victor vertont, mit seinen Kompositionen »im engeren Kreise [ ] Erfolg erzielt«. Gut zwei Jahrzehnte später sind drei von Victors Gedichten im Programmheft zur Veranstaltungsreihe »Fünf Abende in der Berliner Secession« als von Georg Stolzenberg vertont abgedruckt: »Geburtstag«, »Winterrosen«, »Schwarze Lilien«. Sie gehören zum Programm des am 11. Februar 1920 veranstalteten »Zweiten Georg Stolzenberg-Abends« mit den beiden Teilen »Neue Dichter in Tönen« und »Zu alten Worten nach alten Weisen«. Robert Wohlleben
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