Ein literarisches Domino? »Salmi della Salma« das könnte man etwa mit »Leichengesänge« übersetzen. In vierzehn Salmi mit dem Titel »Der Tod ein Traum« berichtet der »venezianische« Dichter Niccolò Sosia in transparenter, vollster Klarheit von der schweren Stunde seines Todes. Sein langsames Sterben geht in Traum über, er lebt sich in Tagträume hinein, in imaginäre, aber darum nicht weniger wirkliche Episoden aus seinem bevorstehenden Nach-Leben. Denn seine Lebensspirale gerät noch einmal in Bewegung und dreht sich mit einer wie paradox! ungeheuren »Implosion« in bessere Zeiten zurück. »Gemächlich / hebe ich mich von der Bahre / und lasse hinter mir die Morgue.« Der Dichter als Narr der Welt, als Schalk im Chaos, entsteigt der Bahre und lebt sich selbst ein neues, zweites Leben, spielt sich selbst den lieben Augustin vor, der in die »Grube ... des Seienden« gefallen ist. Schauplatz: ein bizarres Venedig, das sogar den Todgeweihten noch in seinen Bann zieht. Und dieses Venedig bildet nun die metaphysische Kulisse für ein phantasmagorisches Schauspiel, eine groteske Commedia dellarte. Erinnerung und Traum vermengen sich zur verspäteten Komödie eines eitlen Dichterlebens, wobei der tote Wiederbelebte die Morbidität der Stadt mit dem Abscheu des Gesunden erlebt. Nur: solange dieses Spiel dauert, zögert es das Leben Sosias hinaus. Zu seinem Widerpart erhebt sich ein personifiziertes Bühnenrequisit aus der Typologie der Commedia, nämlich Morosus Mors, der Bühnentod. Er wird allmählich zum drahtziehenden Regisseur, der zum Beispiel im letzten Akt der Commedia in der Commedia Arlecchino, diesen »aufgeplusterten Großtraumbesitzer«, einfach sterben läßt. Ansonsten agiert Morosus Mors, obwohl oder gerade weil der schlechteste aller Stegreifkomödianten, auf Murano als »Glasbläser der Illusionen«. Die ersten neun Texte von »Der Tod ein Traum« sind 1957 entstanden und wurden 1958 in Berlin uraufgeführt. Vor das Pseudonym von damals tritt nun der Berliner Literat Klaus M. Rarisch, ein großer Verehrer und echter Bekenner Arno Holz. Was ist es aber, das dieses schmale Bändchen so reizvoll macht? Ist es die verbale Phantasie vom Rang eines Holz, die gekonnte Wiederaufnahme und Weiterführung des Stils der Mittelachsenverse ein noch weitgehend unbegangenes Feld voller Möglichkeiten einer eigenen optisch-rhythmischen Notation , oder ist es die homogene Ergänzung der in handschriftlichen Noten wiedergegebenen Musik Manfred A. Knorrs? Knorr kam 1958 24jährig ums Lebens. Der Titel des Opus: »Neun solenne Salmisationen für Klavier über den polytonalen Komplex A-Dur, es-moll, d-moll«. In direkter, enger Gegenüberstellung von Text und Noten wird dokumentiert, wie sich die Ultimisten die ideale Verbindung verschiedener Künste vorstellten; in diesem Fall ein musikalisches Extrakt zu einer literarischen Fantasielandschaft mit dem Hintergrund Venedig ein Venedig, dessen Faszination und Exotik für den Nordländer beim Berliner Rarisch typisch zum Ausdruck kommt. Die Holzsche Technik der Zerlegung der Handlung in die heterogensten Schauplätze, der Aufgliederung der Motive in immer kleinere Einheiten, ein in manischer Aneinanderkettung unerschöpfliches literarisches Domino, ist für den engen Raum erstaunlich weit angewendet, dabei keine Spur einer Monotonie dieser Technik. In den ersten neun Salmi sprühen die Einfälle so über, daß die Handlungszüge nicht einfach nachzuziehen sind. Manchmal erdrückt der Stoff die Metrik: »Arlecchino erhängt sich an Colombinas Strumpfband« ein Vers, eine Zeile, ein Satz, eine Story, ein Leben; eine Zeile Welt in Mittelachse. Die Salmi X bis XIV sind neu, also aus letzter Zeit, und wollen dies auch gar nicht verbergen. Früher genußvolle Ausformulierungen, Schwelgen in unkonventionellen Bildern, jetzt an der Grenze zur spitzfindigen Überformulierung, eine virtuose Sinnzergliederung, ein theatralisches Zerreißen der Illusion. Oder sollte gerade dieses Furioso den Todeskampf symbolisieren? Und somit auch ein spätes Requiem auf Knorr? Noch etwas hat Rarisch mit Holz gemeinsam, dessen Nachlaß er verwaltet: die Liebe zur bibliophilen Aufmachung. Nur: während Holz manchmal auch bibliophile Preise vertreten mußte, ist das vorliegende Bändchen sogar für »kleinere Zwecke« prädestiniert. Mit ein Verdienst des Verlegers. Noch ein Wörtchen zu Robert Wohlleben, Verleger / Lyriker, Holz-Germanist / Liebhaber: die größte Widersprüchlichkeit dabei ist wohl die minimale Finanzbasis angesichts der anspruchsvollen Lyrikpublikationen. Erfolg? Die Überzeugung gibt ihm recht. Herbert Fussy © die horen, Nr. 116, 4. Quartal 1979, S. 119 f.
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