Arno Holz und Berlin
Wie dachte Arno Holz selbst über solche Ehrungen? In seiner grundlegenden theoretischen Schrift »Die Kunst« zitierte er seine Lieblingsverse, Heinrich Heines »Schlage die Trommel und fürchte dich nicht«, und fügte hinzu: »Ja, das war er! Das Schwert auf seinem Sarge funkelt, und die Herren Hofprediger bespucken unterdessen seine Denkmäler.« [2] Holz war zeitlebens ein Kämpfer, wie Heine. Er wußte: Denkmäler oder Gedenktafeln für einen streitbaren Dichter tragen dem so Geehrten immer auch den gesteigerten Haß seiner Widersacher ein. Daß Holz sich dezidiert zu Heine bekannte, widerlegt die ebenso aberwitzige wie verleumderische Legende, er sei ein verkappter Antisemit gewesen. Die Stadt Düsseldorf liebte ihren größten Sohn nicht. Wie Berlin mit Holz umging, wird zu untersuchen sein. 1920 konnte man in einer Zeitschrift lesen: »Nach seinem Tode wird die gesamte deutsche Presse erschütternde Nekrologe bringen und ihm wird ganz sicher gewiß einmal irgendwo ein Denkmal gesetzt werden. Mit der Summe, die das Denkmal kosten wird, könnte dem Lebenden heute geholfen werden.« [3] Aber leider: die öffentliche Hand auf kommunaler, preußischer oder Reichs-Ebene hat weder den Lebenden finanziell unterstützt noch dem Toten ein Denkmal gesetzt. Es gibt für ihn ein Ehrengrab auf dem Friedhof der Prominenten an der Heerstraße, das im Krieg zerbombt und nach 1945 rekonstruiert wurde; es ist heute leer. [4] So ist die Inschrift der Grabplatte, die Schlußstrophe seines »Phantasus«, wörtlich in Erfüllung gegangen: Mein Am Ende seines Lebens, 1929, war Holz so arm wie 1875, als er, zwölfjährig, mit der Familie aus Ostpreußen nach Berlin übergesiedelt war. Er konnte nur auf zwei honorarträchtige Erfolge zurückblicken: zum einen auf den ebenso sprachvirtuosen wie populären Gedichtband, mit dem sein Freund und Schüler Reinhard Piper 1904 in München seinen Verlag eröffnete, auf den neobarocken »Dafnis«; zum anderen auf die gemeinsam mit seinem Freund Oskar Jerschke verfaßte Tragikomödie aus dem wilhelminischen Schülermilieu »Traumulus«. Alles, was Holz vor und nach 1904/05 veröffentlicht hatte, brachte ihm kaum Honorare ein, sondern vielfach sogar Verluste. Aus Anlaß seines 50. Geburtstags 1913 publizierte sein Freund Robert Reß eine genaue Aufstellung der literarischen Einnahmen des Dichters und zog folgende Bilanz: »Gesamtsumme aus 20 Werken in 30 Jahren 53.375 Mark. Das macht pro Jahr eine Einnahme von noch nicht annähernd 2000 Mark. Also weniger als heute im Durchschnitt ein gelernter Arbeiter verdient. Wobei noch zu bemerken: bis zum Traumulus hatte sich das Einkommen des Dichters auf nur etwas über 100 Mark pro Jahr belaufen. Zwanzig Jahre lang!« [6] So war Holz fast immer auf die Unterstützung durch Freunde und Verwandte angewiesen; lange Zeit konnte er nicht schreiben und versuchte vergeblich, sich den Lebensunterhalt durch das Erfinden und Basteln von Kinderspielzeug zu verdienen. Sein Freundeskreis lancierte mehrere öffentliche Spendenaufrufe für ihn, die aber per saldo auch nur Verluste einbrachten. [7] Er setzte seine ganze Hoffnung auf den Nobelpreis, für den er fünfmal vorgeschlagen wurde. 1929 votierten 460 Stimmberechtigte für Holz. Dazu schrieb am 15. Oktober 1929, elf Tage vor dem Tod von Holz, Thomas Mann an Gerhart Hauptmann: »Da wir bei Preisen sind: was sagen Sie zu der weitverbreiteten Nachricht, daß dank der Propaganda einer Oberlehrer-Clique, die ihn vorgeschoben hat, Arno Holz den Nobelpreis erhalten soll? (...) ich würde eine solche Preiskrönung absurd und skandalös finden (...). Es wäre ein wirkliches Ärgernis, und man sollte wahrhaftig etwas dagegen tun.« [8] Holz starb kurz vor der Verleihung; der Preis ging an Thomas Mann. [9] Vor gut hundert Jahren wohnte Arno Holz im Norden Berlins [10], u.a. auch im Wedding, in einem möblierten Zimmer. Ein Brief vom 26.12.1887 illustriert seinen damaligen Tageslauf: »Mein Leben ist jetzt ein sehr einförmiges. Morgens um halb neun stehe ich auf, gehe mit meinem Freund Schuft (...) eine gute halbe Stunde im Park spazieren, braue mir dann, nach Hause zurückgekehrt, meinen Kaffee, mummle den Hund in seine Decken, und setze mich schließlich um zehn an meine Arbeit. Um drei unterbreche ich sie, um mit Schuft nach Berlin zu gehen. Um nämlich die nötige Bewegung zu haben, esse ich dort (...) Um sechs bin ich dann wieder zurück, lege mich bis sieben aufs Ohr, und setze mich dann bis zwölf von neuem an den Schreibtisch. Eine Maschine kann kaum regelmäßiger sein.« [11] Das sind täglich zehn Stunden reine Schreibarbeit: Der Dichter war kaum weniger fleißig als seine Zeitgenossen in Weddinger Fabriken, nur daß er erheblich weniger verdiente. Dabei galt er seit 1885, seit der programmatischen Anthologie »Moderne Dichter-Charaktere«, als origineller Großstadtlyriker mit sozialkritischer Tendenz. 1885 erschient in Zürich [12] sein großer Gedichtband »Buch der Zeit«, nachdem mehrere deutsche Verlage die Publikation wegen politischer Bedenken nicht riskiert hatten. Für dieses Buch mit mehr als vierhundert Seiten hochkarätiger Lyrik erhielt Holz ein Honorar von 25 Mark; nach zehn Jahren waren von der Erstauflage 60 Exemplare verkauft worden. Trotzdem machte das »Buch der Zeit« den Dichter als Kühnsten seiner Generation mit einem Schlage berühmt.[13] Sein älterer Kollege Detlev von Liliencron meinte: »Arno Holz ist ja wüster, rothester Socialdemokrat«. [14] Doch Holz war nie Parteigenosse; mit dem braven Revisionismus des rechten Parteiflügels konnte er sich nicht abfinden. »An die obern Zehntausend« richtete er die Strophe: Ein neu Geschlecht, schon wetzt es seine Schwerter, Daß man solche Verse, daß man seine Attacken auf Thron und Altar als »wüst und rot« empfinden würde, wußte er. Oberzeugter Sozialist blieb Arno Holz auch, nachdem das Kaiserreich abgewirtschaftet hatte. Am 5.8.1926 richtete er »ganz ergebenste, aber in der Sache schneidend scharf, an den preußischen Kultusminister Becker eine polemische, leider folgenlos gebliebene Denkschrift zur Emanzipation der Berliner (damals Preußischen) Akademie der Künste, in der er das »noch immer vorhandene Vorherrschen eines antiquierten Polizeipreußentums« [16] konstatierte. Aber zurück zu der Zeit im Wedding. 1889 war für Holz das Entscheidungsjahr; nie zuvor hatte er sich so kurz vor dem definitiven literarischen Durchbruch gewähnt. Im Januar war unter dem norwegischen Pseudonym Bjarne P Holmsen und unter dem Titel »Papa Hamlet« ein Buch mit Prosaskizzen erschienen, das den »konsequenten Naturalismus« begründete und Furore machte. Gerhart Hauptmann widmete die Erstausgabe seines Bühnenerstlings »Vor Sonnenaufgang« am 8.7.1889 dem angeblichen Norweger mit folgenden Worten: »Bjarne P. Holmsen, dem consequentesten Realisten, Verfasser von Papa Hamlet(zugeeignet, in freudiger Anerkennung der durch sein Buch empfangenen, entscheidenden Anregung.« [17] In Wirklichkeit stammte der »Papa Hamlet« aber von Arno Holz und seinem gleichaltrigen Freund Johannes Schlaf. Die Mystifikation blieb sieben Monate lang aufrechterhalten, bis Holz im Sommer 1889 aus dem damals idyllischen Vorort Niederschönhausen in die Reinickendorfer Straße nach Berlin zurückkehrte, um sich mit neuer Energie in den Literaturbetrieb zu stürzen. Als Holz und Schlaf ihr Arme-Leute-Drama aus dem Berliner Elendsmilieu, »Die Familie Selicke«, vorstellten, wiegten sie sich im Glauben an den unmittelbar bevorstehenden Erfolg. 1889 wurde zur Umgehung der Theaterzensur das private Vereinstheater »Freie Bühne« gegründet. Dort ereignete sich am 20. Oktober der historische Premierenskandal von Gerhart Hauptmanns »Vor Sonnenaufgang«. Damit war Hauptmann dem Freundespaar Holz und Schlaf um entscheidende sechs Monate zuvorgekommen. Holz hatte die Redaktion der von dem Kritiker und Regisseur Otto Brahm herausgegebenen Zeitschrift »Freie Bühne für modernes Leben« übernommen. Wegen seiner konzessionslosen Haltung wurde er Brahm aber bald lästig; schon nach einem halben Jahr wurde er aus der Redaktion hinausintrigiert. Hinzu kam die lieblos und halbherzig inszenierte Premiere der »Familie Selicke« am 7. April 1890. Zwar war die Provokation des Bildungsbürgertums erreicht; die konservative Presse druckte Beschimpfungen wie: »Diese Thierlautkomödie ist für das Affentheater zu schlecht!« [18] Da half es nichts, daß Theodor Fontane feststellte: »Das Stück beobachtet das Berliner Leben und trifft den Berliner Ton in einer Weise, daß auch das Beste, was wir auf diesem Gebiete haben, daneben verschwindet.« [19] Aber die Provokation zündete nicht mehr, weil das Publikum der Freien Bühne an dem vorhergegangenen Hauptmann-Skandal genug hatte und nun Ausgewogeneres zu sehen wünschte. Dem kam Hauptmann mit seinen nächsten Stücken entgegen. Holz und Schlaf jedoch hatten ihr letztes Geld verbraucht und mußten sich notgedrungen zurückziehen. Hauptmann avancierte zum Berliner Bühnenliebling, strich bei der Zweitausgabe seines »Vor Sonnenaufgang« die Widmung an Bjarne P. Holmsen und setzte statt dessen eine Zueignung an seinen Theatermentor Otto Brahm ein. Schlaf konnte die seelische Belastung nicht länger ertragen, wurde nervenkrank und verlor sich in sinnlosen Prioritätsstreitigkeiten mit seinem Ex-Freund Holz. [20] Der stellte verbittert fest: »Nach Aufführung der Familie Selicke waren alle unsere materiellen Mittel erschöpft und neben uns operierte Hauptmann mit, wie ich schätze, vielleicht einem Minimum von 150 000 Mark bar. Aus diesem Vergleich ergab sich als notwendig: Hauptmann mußte durchkommen, ganz gleich wann, er konnte es ja aushalten, er hatte 99 Chancen gegen eine, wir aber umgekehrt eine gegen 99.« [21] Holz mußte eingestehen, diesen Kampf verloren zu haben: »Den guten Gerhart Hauptmann (...) glaube ich in mehr als einer Beziehung bequem in die linke Westentasche stecken zu können. Nichtsdestoweniger ist er heute der große Mann, der Reformator, und mich passen kaum die Hunde an!« [22] Um sich wieder zu fangen, um für sich selbst und für die Leser die eigene Position zu bestimmen, befaßte sich Holz mit theoretischen Studien und publizierte im Herbst 1890 »Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze«. Die Reaktion darauf ist zitierenswert: »Kunst ist in dem Buche gar nicht enthalten, Wesen wird viel gemacht, und Gesetze, welche die Veröffentlichung derartiger Bücher verbieten, könnten wir gebrauchen.« [23] Nicht begriffen wurde das ästhetische Grundgesetz von Holz: Kunst = Natur minus x. Es besagt unter anderem: Die Natur, in umfassendem Sinne verstanden, sowohl Milieu und äußere Umwelt als auch die entsprechenden Empfindungen des Menschen, seine seelische Innenwelt einschließend, ist Maßstab für alle Kunst. Der Künstler strebt danach, diese Natur in seinem Werk auszudrücken und darzustellen, kann sie aber wegen der Unzulänglichkeit seiner technisch-handwerklichen Mittel nie völlig erreichen (»minus x«). Weil und indem er nach dem Unerreichbaren strebt, muß er seine ästhetischen Ausdrucks- und Darstellungsmittel ständig perfektionieren, um die Größe »x« immer mehr in Richtung Null hin zu reduzieren. Das Gesetz von Holz besagt ferner, die Kunst sei nicht, wie in aller bisherigen Ästhetik seit der Antike angenommen oder vorausgesetzt, ein Absolutum, sondern ein Relativum. Die Kunst ist für Holz ein gleichberechtigter Lebensbereich neben allen anderen. Der Künstler in seiner menschlichen Begrenztheit, auch der Dichter, eingebunden in das soziale Koordinatensystem seiner Zeit, darf daher, beispielsweise, weder normativer Ideologe noch propagandistischer Handlanger sein. [24] Wie eine so verstandene Wortkunst aussehen könne, stellte Holz mit seinem Hauptwerk »Phantasus« unter Beweis. Dieses Werk mitsamt seiner Entstehungsgeschichte ist einzigartig. Seit der Urfassung von 1898/99 hat Holz in den folgenden 30 Jahren seines Lebens daran unermüdlich weitergearbeitet. Er hat es künstlerisch perfektioniert, zum kosmisch allumfassenden Riesenpoem gesteigert und immer wieder neue, größere Versionen davon erscheinen lassen. Nur ein Beispiel: Das Gedicht »Gottseidank!« besteht im Ur-Phantasus aus ganzen 15 Zeilen. In der Nachlaßfassung ist dieses Kurzgedicht, unter dem Titel »Das Tausendundzweite Märchen«, auf 461 Druckseiten im Großformat angewachsen; es enthält dort auch den längsten zusammenhängenden Satz der Weltliteratur, der mit 3720 Verszeilen grammatisch korrekt konstruiert ist und vor allem verständlich bleibt. [25] Zum universalen Gehalt und zur formvollendeten Gestalt des »Phantasus« sei hier nur ein Aspekt herausgegriffen, den die Inschrift der Gedenktafel vorgibt. Es heißt da, der »Phantasus« spiegele das Weddinger Milieu wider. Reine Milieuschilderungen im Sinne des frühen Hauptmann findet man jedoch im »Phantasus« nur selten, zum Beispiel im Grunewald-Gedicht »Berliner Himmelfahrtstag« das Zille-»Milljöh« mit dem Schluß: »Zwischen weggeworfnem Stullenpapier und Eierschalen / suchen sie die blaue Blume!« [26] für Arno Holz ist dieser Tonfall atypisch. Zitiert sei ein im Ur-Phantasus noch nicht enthaltenes Gedicht aus der Riesenfolio-Inselausgabe von 1916: In Berlin N., Scheu, im Halbkreis, bekucken ihn sich die Kinder. Seine Augen schwimmen, Er hat keinen einzigen Zahn mehr! Ich denke an unsre schöne Zeit am See Genezareth Er dankt mir mit Tränen. Dann hängt er sich zitternd in seine Krücken, So wäre es in der Tat ein Gedicht aus dem realen Milieu des Wedding um die Jahrhundertwende, als alte Bettler im Stadtbild noch keine Seltenheit waren. [28] Dabei würde höchstens die mild ironische Erinnerung an den See Genezareth den aufmerksamen Leser irritieren. Aber der Text wurde hier bewußt falsch zitiert; bei Arno Holz lautet die erste Strophe richtig: »In Berlin N., / vor der Nazarethkirche, / sitzt der liebe Gott und bettelt.« Denn auch »der liebe Gott« beschäftigt die Vorstellungskraft und das Empfindungsvermögen des Menschen, und wenn dieser Mensch ein Dichter wie Holz ist, so legt ihm gerade das Proletariermilieu des damaligen Wedding die Assoziation an einen heruntergekommenen, zahnlosen, versoffenen Bettler nahe, der doch einmal der allmächtige, allgütige Schöpfer und Lenker der Welt war und dem nun nur noch die spärlichen Almosen barmherziger Passanten in den Hut fallen, sofern er nicht von einem gestrengen Schutzmann der wilhelminischen Reichshauptstadt arretiert wird. Es ist übrigens für Arno Holz keine Glaubens- und erst recht keine Kirchenfrage: Der »liebe Gott« bettelt ja vor der Nazarethkirche, denn drinnen würde er Anstoß erregen und schleunigst verjagt werden. Das Gedicht ist auch durchaus kein symbolistisches: Wofür sollte denn Gott hier ein Symbol sein? Holz öffnet lediglich dem Leser die Augen für soziale Zustände, die er sonst nicht wahrnehmen könnte oder wollte. [29] Holz liefert eine Diagnose seiner Zeit und Gesellschaft, keine Therapie; er belehrt nicht und bietet keine Patentrezepte an. [30] Als der Ur-Phantasus kurz vor der Jahrhundertwende erschien, hatte Holz gerade eine neue Enttäuschung hinter sich: die von ihm selbst veranstaltete und finanzierte Premiere seiner Literatur- und Polit-Komödie »Sozialaristokraten« am 15. Juni 1897. Der blutjunge Max Reinhardt spielte mit, wollte später als Theaterpapst aber nicht mehr daran erinnert werden. Holz schilderte den Ablauf rückblickend auf siebzehn »Phantasus«-Seiten amüsant und anrührend: Riesenerfolg beim Publikum, aber gnadenloser Verriß durch den Starkritiker, späteren Burgtheaterdirektor und Hauptmann-Freund Paul Schlenther, der das Stück als »Bierulk« abtat. [31] In Wirklichkeit war es eine der wenigen bühnenwirksamen deutschen Komödien mit einem zentralen Thema der Zeit, dem unglücklichen Verhältnis zwischen kleinbürgerlichen Literaten, den »lebensreformerischen« Halb-Bohemiens in Friedrichshagen, und der SPD nach dem Erfurter Parteitag. War das Stück also 1897 von höchster Aktualität, so erwies es sich eine Generation später, 1933, als hellsichtige Prophezeiung, denn es sagt den Aufstieg einer radikal antisemitischen Karrieristen-Partei voraus. Mit seinem Bühnenhelden nahm Holz den Typus Goebbels vorweg; aber das Stück verschwand in der Versenkung. Die »Sozialaristokraten« sind das erste Stück des Holzschen Dramenzyklus »Berlin. Die Wende einer Zeit«; es folgten die Künstlertragödie »Sonnenfinsternis« (1908) und die gigantische, um metaphysische und erkenntnistheoretische Gipfelprobleme kreisende Wissenschaftlertragödie »Ignorabimus« (1913). [32] Beide Dramen spielen nicht mehr oder weniger zufällig und beliebig in Berlin (wie die vieler anderer Autoren), sondern thematisieren in unvergleichlicher Weise das Kultur- und Geistesleben dieser Stadt zu einer Zeit, als sie noch wirkliche Metropole war. Beide Stücke sind in Berlin noch nie aufgeführt worden. 1979, anläßlich des fünfzigsten Todestages von Arno Holz, hätte Berlin Gelegenheit und Pflicht zur Wiedergutmachung an dem Dichter gehabt. Aber es geschah so gut wie nichts. [33] Selbst die Anregung, zum Todestag einen Kranz auf dem Ehrengrab des Dichters niederzulegen, wurde von der Senatskulturverwaltung ignoriert. Zum Schluß ein Blick auf das italienische Prato, eine alte Industriestadt mit ca. 143.000 Einwohnern und entsprechender Sozialstruktur, quasi die unbekannte Stiefschwester des nahen Florenz, in vieler Hinsicht mit dem Wedding vergleichbar. Was der Wedding nicht besitzt, ist das global Einmalige in Prato: eine aufs modernste ausgestattete, großzügig subventionierte Experimentalbühne, das »Teatro Fabbricone« im Gebäude einer ehemaligen Plastikfabrik. Dort vollzog sich am 18. Mal 1986 ein theatralisches Jahrhundertereignis: die zuvor von allen routinierten Bühnenpraktikern für unmöglich erklärte Aufführung des »Ignorabimus« in voller Länge, von Meistern der Regie-, Darstellungs- und Bühnenbildkunst realisiert. Die italienische Übersetzung stammte von Cesare Mazzonis, dem künstlerischen Direktor der Mailänder Scala. Regie führte Luca Ronconi, den die Presse dafür als Genie feierte. [34] Die Aufführung dauerte genau zwölf Stunden, und was kein Theaterwissenschaftler je für möglich gehalten hätte: Die Zuschauer nahmen regesten Anteil, waren gepackt, ja hingerissen und applaudierten begeistert, was die gesamte italienische Presse in teilweise triumphalen Kritiken bestätigte. [35] Vorausgegangen waren sechs Monate intensiver Probenarbeit. Die Produktionskosten einschließlich des monumentalen Bühnenbildes wurden auf anderthalb Milliarden Lire (zweiundeineviertel Million DM) geschätzt. Es blieb in Prato nicht bei der einen Aufführung; im Frühjahr und Herbst 1986 schloß sich eine erfolgreiche Vorstellungsserie an. [36] In Deutschland erschienen darüber nur drei Kritiken, eine lauwarme und zwei Verrisse; alle deutschsprachigen Bühnen zeigten sich so desinteressiert wie eh und je. Wer das Stück kennt (aber wer kennt es schon?), weiß, daß es wie kein anderes nach Berlin gehört. Selbstverständlich hätte man das italienische Ensemble zu einem Gastspiel nach Berlin einladen sollen, zumal bei den offiziellen Jubelanlässen 1987 (750-Jahrfeier Berlins) oder 1988 (Berlin als europäische Kulturmetropole) Geld keine Rolle spielte. Aber die kulturpolitischen »Verantwortungsträger« der Stadt lehnten den Vorschlag unter grotesken Vorwänden ab. [37] Eine einmalige Chance war vertan. Arno Holz hat einen Monolog aus dem »Ignorabimus« wörtlich als Gedicht in den »Phantasus« aufgenommen: »Unser bestes / Sehnen / schreit nach Gerechtigkeit!« [38] Heute, mehr als sechzig Jahre nach dem Tode des Dichters [39], wäre es an der Zeit, seinem Werk endlich Gerechtigkeit angedeihen zu lassen.
1] Der Beitrag ist eine überarbeitete, stark gekürzte Fassung der Ansprache zur Enthüllung der Gedenktafel. Der Verfasser war von 1975 bis 1986 literarischer Nachlaßverwalter von Arno Holz. |
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