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Ernst-Jürgen Dreyer über das Sonett »Evolution«
(Brief an Klaus M. Rarisch vom 22.8.1998)

… die wichtigste Korrespondenz liegenlassen muß, z.B. Deinen Brief vom 18.8. mit dem phantastischen neuen Sonett, das eigentlich ein Telegramm verdient hätte! Das Gedicht ist große Klasse, es ist ein Gebilde, mit dem der Meister alle kleineren Meester in die Schranken weist, daß sie wieder einmal wissen: DAS machen sie ihm nicht nach - weder im Prunk des Assonanzenklangs noch im »Kück« des weiten Blicks noch im Witz. Wie der Doppelsinn des »Dichtens« im letzten Vers »sitzt«! Wie die Assonanzen quellen; wie selbst die sprichwörtliche »Qual der Wahl« zu einer grandiosen Eigenprägung wird; wie aus dem »mäandert/Neandert(al)« und dem doppelten Binnenreim Z. 9, »Huren/Nacht/Macht/entfuhren« eine unerschöpflich quellende Bewegung wird, die sich in den »geröllschlammniederdonnernd«en »Muren« sozusagen über uns, über den erschrocken sich wehrenden Leser selbst ergießt, das ist einmalig und großartig. Hut ab, Diener und tiefer Kniefall! Wenn ich den Inhalt recht verstehe, ist das Sonett eine Art Gegenstück zu »Menschüber menschunter«, wie jenes Nietzsche galt, so gilt dieses Hegel und berührt sich darin mit einem anderen Deiner ganz großen Gedichte, »Idealismus« in »Bilanz«. Ich schließe das aus dem »realen Kraal / der Machtgezieferhuren«, die, natürlich in einem anderen, nicht-degenerierten Sinn, als Realität der preußischen Staatsmacht, ja das Ziel sind, mit dem uns der Weltgeist dem Neandertal entmäandern läßt bis zur Hochgebirgsphilosophie. Hier freilich steckt doch ein Hinweis auf Nietzsche, nämlich auf Sils Maria; auch sind die Gegenstrophen eigentlich Auch als Antithesen zu verstehen, so daß man sich hier eher in Nietzscheschem Gelände als in Hegelschem bewegt. Aber vielleicht vereinigt das Gedicht ja beide im Sinne des Sündenfalls der Philosophie, in die Machtrealität zu münden, und sogar in die Marxsche, nach der es ja nicht darauf ankommt, die Welt zu interpretieren, sondern darauf, sie zu verändern. So steckt im »realen« Kraal auch der »real existierende Sozialismus«; und vielleicht im »Hochgebirgsphilosophen« die progressive Zerebration, an der wir ja, nach Benn, wie an der progressiven Paralyse oder der galoppierenden Schwindsucht zugrunde gehen werden. Dann wären die Gegenstrophen nicht die theoretischen Gegenentwürfe, sondern tatsächlich »Strophen«, nämlich die ja wirklich in Lied, Tanz, Zauberspruch, Rausch, Opfer, Gebet und Meditation sich ausdrückenden irrationalen und dem Herzen der Schöpfung viel näheren Seinsweisen - z.B. der Naturvölker, aber auch vieler Hochkulturen, die der weiße Mann rücksichtslos ausgerottet hat, da sie geeignet gewesen wären, »Zweifel zu wecken« an der alleinseligmachenden abendländischen Verhirnung. Übrigens bedeutet das Wort »Kraal« auch »König« (z.B. in den slawischen Sprachen), und das paßt zu dem Machtgeziefer, z.B. zu dem »großen Floh« im »Faust« und den Zofen. Die »Huren« erinnern an die »Schranzen« eines anderen Gedichts (Geigerzähler S. 102). In den Terzetten kippt diese »Konsequenz der Macht«, das, wozu sie degeneriert, über uns aus, und das kann man interpretieren als die Realität, zu der in unserer Demokratie der preußische Rechtsstaat, im dritten Reich der Nietzschesche Übermenschentraum und im »real existierenden Sozialismus« die Marxsche Heilslehre entartet ist: Alles Produkte der Verhirnung und der Hochgebirgsphilosophie bzw. Gärungsprodukte ihres Zerfalls (im »Darm«, den das Wort »entfuhr« beschwört). Gegen die Verwüstung, die sie anrichten, helfen weder Pragmatismus (Dammbau) noch Hilferufe zu irgendeinem Gott (beten Suren). Ich sehe in den »Suren« auch den Hinweis der Globalität dieses Prozesses: den Muslims geht es nicht anders als den Christen. Ich hoffe, ich liege mit einer solchen Interpretation nicht ganz daneben; sie ist nur ein Versuch, der auch gar nicht gelingen kann, da das Gedicht die Dinge in einem so komplexen Sinn und mit solcher Dichte sagt, daß sich die Interpretation dazu auch im besten Fall wie ein Spektrum gegen das Licht selber verhält. Was steckt z.B. alles in dem Wort »Marterpfahl«: die Autodafes, Gulags, Konzentrationslager und Genozide und mehr, und ich käme an kein Ende mit dem »Zerfällen«. Mehr will ich dazu nicht sagen; das Gedicht liegt aber auf dem Nachttisch und beschäftigt mich gewiß nicht zum letzten Mal; es ist auch formal von einer so zwingenden Geschlossenheit, daß ich es ohne zu wollen schon »intus« habe. - »Der Historiker«, sagt Friedrich von Schlegel, »ist ein rückwärts gekehrter Prophet«; in dem Gedicht sprechen beide aus einem Mund; und wie man plötzlich in einer schwarzen Zeichnung auf weißem Grund eine weiße auf schwarzem Grund sehen kann, kann man das Gedicht auch als ein Bekenntnis zur Anarchie lesen. Wobei es aber selber durchaus nicht anarchisch ist, sondern Ausdruck einer geradezu allwaltenden Ordnung (»Herrschaft«), ja mit dieser identisch. Du siehst, ich komme nicht los.

Weitere Stimmen: HEL, Heinz Ohff, Alexander von Bormann, Kurt Mejstrik, Ingeborg L. Carlson, Lothar Klünner