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Klaus M. Rarisch:
Heinrich Böll: Nobelpreisträger Rumpelstilzchen
Eine gar nicht so ketzerische Enthüllung


I.

Der bekannte Polit-Grafiker Klaus Staeck sagte in einem Interview: »Ich bin auch Christ, ich bin auch nicht aus der Kirche ausgetreten, der Böll ja auch nicht …« (zitiert nach dem »Tagesspiegel« vom 28. 7. 1977). Hier zeigt sich in aller Schärfe der verderbliche Einfluß, den der deutsche Nobelpreisträger Heinrich Böll mit seinem sogenannten »Linkskatholizismus« auf unsere sogenannten »Linksintellektuellen« ausübt: er gibt ihnen durch seine Existenz und durch den enormen Erfolg seiner Bücher ein religiöses Alibi. Was aber ist »Linkskatholizismus« und wie äußert er sich in seinem prominentesten Vertreter, Heinrich Böll?

Böll ist zunächst Schriftsteller und muß sich an seinen literarischen Werken messen lassen. Als Privatmann, Staatsbürger und Kirchensteuerzahler soll er uns nicht interessieren. Nun kennt man das Argument, das Bölls Lobrednern als Schutzbehauptung zur Verfügung steht: daß nämlich ein Erzähler die Figuren seiner Erzählwerke nicht als Sprachrohr für seine persönlichen Ansichten mißbrauchen dürfe, daß also Meinungen und Äußerungen von Erzählfiguren nicht mit dem Standpunkt des Erzählers identifiziert werden dürften. Für große Prosaisten trifft das sicher zu, und wenn man Böll diesen Rang einmal hypothetisch zubilligen will, muß die Kritik zuerst seine essayistischen Non-Fiction-Arbeiten untersuchen, wie sie uns zum großen Teil in dem Sammelband »Aufsätze – Kritiken – Reden« (Kiepenheuer & Witsch, Köln/Berlin 1967) präsentiert werden. In dem 510 Seiten umfassenden Buch verbreitet sich Böll über die heterogensten Themen, also buchstäblich über Gott und die Welt – wenn auch, wie sich zeigen wird, mehr über Gott als über die Welt.

Als Untersuchungsmethode bietet sich die Wortfeldanalyse an. Da das Buch zwei Interviews enthält, sind fairerweise die Fragen der Interviewer, die ja Böll als der Interviewte nicht zu verantworten hat, von der Analyse auszuschließen. Ein Computer stand uns für die Analyse nicht zur Verfügung; es ist daher jedem wohldotierten wissenschaftlichen Institut unbenommen, unsere Ergebnisse zu widerlegen – der entsprechenden Beweisführung sehen wir mit Spannung entgegen! In die Analyse einbezogen wurden diejenigen Wortfelder, die der Autor im Kontext emotions- und ideologiebeladen verwendet hat. Diese Reizwörter, geordnet nach der Häufigkeit ihres Gebrauchs, geben Aufschluß über das Böllsche Denken und seine spezifische Thematik. Unterstellt, diejenigen Reizwörter x, die auf jeder zehnten Druckseite einmal auftauchen, müßten auch dem Durchschnittsleser bei sorgfältiger Lektüre auffallen, würde sich bei dem Umfang des Buches von 510 Seiten ein Häufigkeitsquotient h nach der Formel x : 51 = h ergeben, der in der folgenden Tabelle in Klammern genannt ist. Erreicht also h einen Wert von l und mehr, dürften die zugrundeliegenden Wortfelder für jedermann erkennbar symptomatisch für Böll sein. Liegt h unter l, so dürften die betreffenden Wortfelder zumindest für Bölls Denkumwelt, für seine Atmosphärilien oder ideologischen Verwurzelungen Anhaltspunkte ergeben.

Es wurden in dem Band »Aufsätze – Kritiken – Reden« festgestellt:

287mal: katholisch; auch-, gut-, kölsch-, nichtkatholisch; Kathole; Katholik; Katholikentag; Auch-, Berufs-, Links-, Nicht-, Rechts-, Taufscheinkatholik; Katholizismus; Katholizismusvokabel; Verbandskatholizismus; Katholizität; Linkskatholikeneinheit (h = 5,6).

175mal: Kirche; Barock-, Gereons-, Haupt-, Pfarrkirche; Kirchgang; Kirchturm; Kirchgängerprozentsatz, -schwund, -statistik, -viertel; Kirchenarbeit, -bau, -besuch, -chinesisch, -fürst, -funk, -gebot, -geschichte, -glocke, -lied, -mann, -recht, -steuer, -steuerzahler, -zeitung, -zeit; kirchlich; innerkirchlich; kirchenerhaltend, -freundlich, -geschichtlich, -politisch, -rechtlich (h = 3,43).

152mal: Christus; Christ; christlich; Christenfrühstück; Christenheit, -partei, -salbe, -tum; Christlichkeit; Muster-, Nichtchrist (h = 2,98).

71mal: Gott; göttlich; Gottheit; Gottesdienst; Aschermittwochs-, Trauergottesdienst (h = 1,39).

69mal: Religion; religiös; ir-, unreligiös; Religiosität; Religionslehrer, -snob (h = 1,35).

51mal: heilig; hl.; Heiliger; Heiligkeit; Heiligsprechung; heiligsprechen; Heiligenschein (h = 1,00).

48mal: Bischof; bischöflich; Erzbischof, -bistum; Episkopat; Bischofsalter, -konferenz, -palast, -reinheit, -sitz, -zimmer; Wehrbischof; Ruhrbistumskaplan (h = 0,94).

45mal: Moral; moralisch; Moralist; Moralismus; Moralterror; Arbeits-, Fasten-, Steuermoral (h = 0,88).

42mal: Heimat; heimatlich; beheimatet; heimatlos, -vertrieben (h = 0,82).

35mal: Theologie; theologisch; Theologe; Moral-, Pastoraltheologie (h = 0,69).

28mal: Gebet; beten; anbeten; Anbetung; Gebetbuch; Betschemel; Chor-, Rosenkranzgebet (h = 0,55).

27mal: Papst, päpstlich; Papsttum (h = 0,53).

25mal: geistlich; Geistlicher; Geistlichkeit; Gefängnisgeistlicher (h = 0,49).

22mal: fromm; Frommer; Frömmigkeit; unfromm (h = 0,43).

21mal: Pfarrer; Landpfarrer; Pfarrherr; pfarrergläubig (h = 0,41).

21mal: Dom; Domnähe, -platz, -taube, -turm (h = 0,41).

20mal: Sünde; Sünder; Sünderin; sündigen; sündhaft; Sündigkeit; Sündeninstitut (h = 0,39).

20mal: Priester; Priesterstreik (h = 0,39).

12mal: Beichte; beichten; Beichtgeheimnis, -stuhl, -vater (h = 0,24).

11 mal: Oberhirte (h = 0,22).

l0mal: exkommunizieren; Exkommunikation; Exkommunizierter (h = 0,20).

l0mal: Petrusblatt (h = 0,20).

Weniger häufig, aber dennoch als signifikant wurden registriert:

Abendland; Allerseelen; bekreuzigen; Buße; CDU; Erzdiözese; Ethos; Evangelium; Freiheit; Gewissen; gläubig; Gnade; Hirtenbrief; Hostie; Kaplan; Kardinal; Kathedrale; Klerus; Kloster; KNA; Konfession; Konzil; Madonna; Märtyrer; Messe; Metaphysik; Ministrant; Mönch; Mystik; Mythos; Neues Jerusalem; Nonne; Offenbarung; Opfer; Paradies; Pater; Pilger; Prälat; Predigt; Prozession; puritanisch; Sakrament; Seelsorger; selig; Sittlichkeit; Taufe; Weihnachten; Weihrauch; Weihwasser; Zölibat.

(Das einzige Wortfeld in Bölls Text, das nicht unbedingt seiner kirchlichkonservativen Ideologie zuzuordnen ist, umschreibt seine Geburtsstadt und erscheint 186mal: Köln; Kölner; kölnisch; stadtkölnisch; kölsch; plattkölsch; Vorkriegsköln; h = 3,65.)

Im Ergebnis zeigt sich, daß Bölls Katholizismus sich auf mehr als jeder zweiten Seite seines Buches niederschlägt. Addiert man nur die exakt ausgezählten 1202 Reizwörter, so ergibt sich ein Wert von h = 23,57. Mit anderen Worten: auf jeder einzelnen Druckseite des Buches wird man mehr als zweimal wörtlich und buchstäblich an Bölls Weltanschauung penetrant erinnert. Daraus folgt zwingend die Frage, ob Böll für Nichtkatholiken überhaupt lesbar sein kann.


II.

Im ersten Teil dieser Untersuchung wurde gezeigt, wie Bölls Katholizismus sich im Wortgebrauch seiner Essays offenbart. Böll hat sich allerdings mehrfach von sich selbst distanziert. So schreibt er in dem analysierten Band »Aufsätze – Kritiken – Reden« (S. 145): »Den Titel ›katholischer Schriftsteller‹ … habe ich immer abgelehnt«. Ja, er bittet sogar demütig um das barmherzige Verständnis der weltanschaulichen Gegner für sein So-Sein: »Ob jemand begreifen wird, daß einer katholisch sein kann wie ein Neger Neger ist? Da nützen Fragen und Erklärungen wenig … Wir kriegen es nicht mehr von der Haut, nicht mehr aus der Wäsche, und das einzige, worauf wir hoffen können, ist nicht die Barmherzigkeit der denkenden Katholiken, es ist die Barmherzigkeit der Atheisten« (S. 223 f.). Immer wieder macht er vergebliche Ansätze, sich von seiner kirchlichen Zwangsneurose zu lösen: »Ein vorletztes Mal schreibe ich etwas zu einem Themenkreis, der mit ›innerdeutscher Katholizismus‹ so schreckenerregend wie zutreffend bezeichnet ist …« (S. 273); »Ein letztes Mal ›greife ich zur Feder‹, um mich über Probleme des innerdeutschen Katholizismus zu äußern …« (S. 366). Wäre es doch mit diesem Aufsatz von 1967 das letzte Mal geblieben!

Was aber ist nun »links« an Bölls Katholizismus? Wie weit geht seine Kritik an der Kirche? Exakt so weit wie die Agitation eines Paters Leppich S. J.: »Die feudalistische Sitte, bei Königs- oder Fürstenhochzeiten einen hohen Kleriker, möglichst einen Kardinal, die Trauung vornehmen zu lassen, ist ein peinlicher Rest: man sollte gerade denen einen stotternden, etwas schmuddeligen kleinen Kaplan schicken« (S. 238). Ebensogut hätte Böll seine Kritik daran aufhängen können, daß der eine Papst sich vorzugsweise in roten, der andere in weißen Gewändern präsentiere – es bleibt doch immer die altbekannte, kleinliche Nörgelei über Äußerlichkeiten, die für Andersdenkende weder interessant noch gar imposant sein sollte. Böll selbst sieht das natürlich anders, stellt er doch ausdrücklich fest, daß er sich »entschloß, die höchst ehrenwerte Laufbahn eines Moralisten zu ergreifen« (S. 323). Messen wir also den Moralisten Böll an der Moralität, die sich in seinen Büchern ausdrückt.

Wenn ein Moralist ein Mensch ist, der Werte setzt und verwirklicht, muß die Frage gestattet sein, was für den selbsternannten Moralisten Böll der höchste Wert sei. Legt man den Sammelband der frühen, seinen Ruhm begründenden Erzählungen »Und sagte kein einziges Wort – Haus ohne Hüter – Das Brot der frühen Jahre« (Kiepenheuer & Witsch, Köln/Berlin, 4. Auflage 1971) zugrunde, so rangiert in der Wertordnung Bölls an höchster Stelle: das Gebet. Von den unterschiedlichsten Erzählfiguren in den unterschiedlichsten Situationen wird darüber derart Identisches geäußert, daß es nur als Bölls eigene Ansicht aufzufassen ist: »Und niemals denkst du daran, daß Beten das einzige ist, was helfen könnte« (S. 121); »… mit ihr verband mich etwas, was Menschen mehr verbindet als miteinander schlafen: Es hatte eine Zeit gegeben, in der wir zusammen gebetet hatten« (S. 143); »… sie haben eine Beschäftigung, die mir immer als die vernünftigste erschienen ist, wenn ich auch selbst sie nie gut habe ausüben können. Sie beten …« (S. 312).

Nun scheint aber auch Böll, von der Gruppe 47 als bedeutender Realist gefeiert, realistischerweise zu wissen, daß nicht alle Übel unserer unheilen Welt durch bloßes Beten allein zu heilen sind – andernfalls wäre ja die Handlung seiner Romane auf eine Folge von Betübungen zu reduzieren, und monotone Gebetsmühlen in Romanform würden sein literarisches Ansehen kaum begründet haben können. Ein reales Problem der Nachkriegszeit, das Böll aufgreift, ist das der »Onkelehe«, d. h. einer Soldatenwitwe, die mit einem Mann zusammenlebt, ohne ihn heiraten zu können, weil sie sonst ihre Versorgungsrente verlieren würde. Zum Problem der »Unmoral« wird diese Beziehung natürlich nur im katholischen Milieu Bölls. Im »Haus ohne Hüter« konfrontiert er die arme Feldwebelswitwe Frau Brielach mit der im Wohlstand lebenden Nella Bach, der Witwe des 1942 als Soldat gefallenen Lyrikers Raimund Bach. Erzählt wird hauptsächlich aus der Perspektive der Kinder Heinrich Brielach und Martin Bach, die wie alle anderen Romanfiguren strengkatholisch denken und fühlen. Während Nella Bach als Erbin der Marmeladenfabrik Holstege sorgenfrei und sexuell bedürfnislos lebt, muß Frau Brielach, durch ihre Armut dazu gezwungen, widerwillig sich mit den Männern Erich, Gert, Karl, Leo und einem Bäcker liieren, in dessen Haus sie schließlich einzieht. Es kann hier nur interessieren, wie der Moralist Böll die »Unmoral« der Frau Brielach beurteilt, d. h. das Bemühen der armen Witwe, sich ihre Versorgungsrente zu erhalten.

Direkt äußert Böll, der linkskatholische Intellektuelle, dazu gar nichts. Seine Ansicht kann nur aus den Aussagen der beteiligten Romanfiguren rekonstruiert werden. Heinrich, der Sohn der Frau Brielach, meint: »Daß es den Frauen wegen der Rente nicht so wichtig wäre wie den Männern« (S. 364) – was noch als Bestreben des Jungen verstanden werden kann, seine Mutter zu entschuldigen. Martin Bach, dessen Mutter derartige Probleme nicht kennt, heroisiert eine andere Soldatenwitwe, Frau Borussiak, die sich wieder verheiratet hat: »Heldin, die die Rente preisgegeben hatte, um nicht unmoralisch zu sein« (S. 368) – und: »Am Anfang stand Brielachs Mutter, dort, wo unmoralisch anfing, und am Ende stand Frau Borussiak, dort wo moralisch in höchster Qualität vertreten war« (S. 384). Daß Böll sich mit dem moralischen Urteil des Kindes Martin identifiziert, daß er sich Martins infantile Sicht der Dinge zu eigen macht, geht aus einer Reflexion des Edelmenschen und platonischen Liebhabers von Martins Mutter, Albert Muchow, hervor, der Martin als biblische Symbolfigur kindlicher Unschuld und Reinheit charakterisiert: «… es fiel ihm ein, daß Martin ein Kind war, eins von denen, von denen gesagt wurde: Wenn ihr nicht werdet wie sie« (S. 401).

Zieht man das Fazit aus Bölls Roman »Haus ohne Hüter« über das darin einzig als real behandelte Problem der »Onkelehe«, so ergibt sich: Die Soldatenwitwen würden von sich aus gern auf die Rente verzichten, werden aber daran leider von ihren Freunden (den »Onkeln«) gehindert. Gelingt es einer solchen Frau dennoch, sich unter Preisgabe ihrer Rente wiederzuverheiraten, beweist sie sich als Heldin von höchster moralischer Qualität. Als Zeugen dieser spezifisch Böllschen Moralität dienen Kinder im Stande biblischer Unschuld.

Böll verkündet also der staunenden Leserschaft, zwar indirekt verklausuliert, aber für fromme Gemüter deutlich herauszulesen: Hätten die schuldbeladenen Erwachsenen dieser unserer unheilen Welt nur die Kraft zum Gebet, wie sie unschuldige Kinder noch besitzen, so würden sich Probleme der »Unmoral« von selbst, durch göttlichen Gnadenakt, lösen.

Der armselige Held der Erzählung »Und sagte kein einziges Wort«, der Telefonist Fred Bogner, hat ein Schlüsselerlebnis: »… ich wußte plötzlich das Wort, das ich jahrelang gesucht hatte, das aber zu einfach war, um mir einzufallen: Der Bischof war dumm« (S. 63). So charakterisiert Böll durch den Mund seiner Erzählfigur mit sichtlichem Behagen einen Kirchenmann, der zwar privat selbstzufriedener Danteforscher, aber beruflich schlechter Prediger ist. Als Intellektueller will er sich damit von der kirchlichen Hierarchie distanzieren. Noch deutlicher wird sein krampfhaftes Bemühen um Abstand, wenn er im »Haus ohne Hüter« einen unsympathischen Phrasendrescher mit Nazivergangenheit namens Schurbigel auftreten läßt, der Vorträge über das Thema »Das Verhältnis des geistig Schaffenden zur Kirche und zum Staat in einem technisierten Zeitalter« hält (S. 169).

Ist Böll wirklich so naiv oder will er nach der bewährten »Haltet-den-Dieb!«-Methode vertuschen, daß er damit sein ureigenstes und nie bewältigtes Thema bezeichnet hat?

Einem Feuilleton von 1956 mit dem Titel »Selbstkritik« (Aufsätze – Kritiken – Reden, S. 373) stellt er als Motto voran: »Gott sei Dank, daß niemand weiß, / daß ich Rumpelstilzchen heiß.« Dagegen lautet der Vers in allen gedruckten Ausgaben von Grimms Märchen: »Ach wie gut, daß niemand weiß, / daß ich Rumpelstilzchen heiß.« Dem katholischen Schriftsteller Böll ist damit, vermutlich unbewußt, eine verdienstvolle Leistung gelungen: die Christianisierung des alten Heiden-Dämons Rumpelstilzchen. Es dürfte dies Bölls bleibender Beitrag zur Entwicklung der deutschen Literatur sein.

Erschienen in
die horen, Bd. 116/1979



 


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