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Über ein Sonett von Herbert Rosendorfer
Von Klaus M. Rarisch

In seinem Roman »Die Donnerstage des Oberstaatsanwalts« (München: Nymphenburger 2004, 3. Aufl. 2005) erzählt der langjährig praktizierende Amtsrichter Herbert Rosendorfer aus der Perspektive eines Staatsanwalts Dr. F. interessante und amüsante Kriminalfälle, gespickt mit juristischen und historischen Finessen, aber für Laien verständlich dargestellt.

Die auf viele Donnerstage verteilten Berichte und die Diskussionen der Fachkollegen des Dr. F. im Rahmen einer Juristenrunde werden von einer denkenden Katze Mimmi psychologisch kommentiert. Am Schluß (S. 379 f.) steuert ein Kater Boris abrupt das folgende SONETT bei:

    Ein Turm von Trauer überragt das Land
    des Grames. Pyramide steht daneben;
    ein Hohnkanal durchzieht das triste Leben,
    im Gras ich eine tote Amsel fand.

    Ich bin, so sagt ein Gott, dazu imstand,
    aus Kummer einen Teppich dir zu weben,
    und dessen Farben, Schwarz und Grau, ergeben
    das Tränenwappen, weit und ohne Rand.

    Die Tinten sind vertrocknet, alles leer,
    der Regen rinnt bis in der Seele Kern,
    und irgendeiner, irgendwo und irgendwer

    sucht ganz vergeblich in der Nacht den Stern.
    Es dunkelt, es ist kalt und es ist schwer,
    und hatt ich doch die ganze Welt so gern.

Die formale Analyse ergibt: Das Sonett ist denkbar ebenmäßig gebaut; das Reimschema lautet abba/abba//cdc/dcd und ist das klassische nach dem Petrarca-Modell. In den Quartetten wechseln sich männlich endende Reime (a) mit weiblichen (b) ab. Es gibt nur ungekünstelt einfache Reimwörter; Binnenreime und reiche Reime fehlen.

Das Metrum, der fünffüßige Jambus, ist der gebräuchlichste Vers in der deutschen Sprache. Man kann sich nun fragen, warum der sechsfüßige Jambus des Verses 11 aus diesem Schema herausfällt. War Rosendorfer hier unaufmerksam oder schien ihm ein streng durchgehaltenes Metrum allzu monoton? Vermutlich nicht. Sondern »irgendeiner, irgendwo und irgendwer« muß aus der Sicht des Katers ein Mensch sein, also ein Wesen tief unterhalb der Katzenwelt, dem die besondere metrische Sorgfalt nicht zukommt und das hier sowohl gedanklich als auch formal nur stören kann.

Enjambements finden sich in dem Sonett kaum. Rosendorfer setzt sich damit in Opposition zu Rilke, dessen Verse von Enjambements nur so strotzen und den er zuvor schon vergnüglich parodiert hatte; siehe H. R., Achtzehn Sonette an Orpheus Maria Smeckal (in: Über das Küssen der Erde, Zürich 1971).

Rosendorfers nur scheinbar schlichte Sprache wird durch kräftige Alliterationen bereichert (wobei selbstverständlich nur die betonten Silben zu werten sind): auf r (Regen rinnt); d (dunkelt / doch; Vers 13, 14); k (Kern / kalt; Vers 10, 13). Besonders bemerkenswert sind die in Quartetten und Terzetten durchgehaltenen Alliterationen auf g (Grames / Gras / Gott / Grau / ganz / vergeblich / gern) und auf t (Turm / Trauer / triste / tote / Teppich / Tränenwappen / Tinten / vertrocknet).

Ein obsessiv grammatikhöriger Leser würde Vers 14 vielleicht so formulieren wollen:

    doch hatte ich die ganze Welt so gern.

Reim und Metrum würden in dieser Version erhalten bleiben; ein Sinnverlust wäre nicht zu verzeichnen. Aber um wieviel stärker wirkt Rosendorfers Originalfassung! Der Kater als »Ich« dieses Schlußverses, der bereits vorher (in Vers 4) eine tote Amsel gefunden hatte, die ja auch zur ganzen Welt gehört, liebt tatsächlich diese beschädigte, unheile Welt und hebt sich mit der grammatisch ungewöhnlichen Formulierung »und hatt ich doch …« von dem ganz vergeblich suchenden Menschen des Verses 11 deutlich ab. Verantwortlich aber für die Welt der Kummerteppiche und Tränenwappen ist weder Mensch noch Kater, sondern einzig: Gott!

Könnte ich eine Anthologie der besten Sonette in deutscher Sprache zusammenstellen, wäre diesem Sonett ein Ehrenplatz sicher.


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Klaus M. Rarisch bei fulgura frango