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Klaus M. Rarisch:
FRANKFURTER GEGEN-ANTHOLOGIE
 

Die im Feuilleton der FAZ regelmä6ig erscheinende »Frankfurter Anthologie« bringt jeweils ein Gedicht und den Kommentar dazu. Wer als lebender Lyriker hier Aufnahme findet, wird unfehlbar reüssieren, dafür garantiert die Unfehlbarkeit des Literaturpapstes Marcel Reich-Ranicki. Im Februar 1986 erhielt Peter Maiwald den Literaturpreis des Verbandes der deutschen Kritiker; in der Jury saß, wie der Zufall so spielt – man wird es kaum erraten: Marcel Reich-Ranicki. Betrachten wir daraufhin ein Gedicht des Gepriesenen (FAZ, April 1983).

    Peter Maiwald

    DAS ANSEHEN EINES DICHTERS

    Ich: gescheitert. Nicht ein Scheiterhaufen:
    schrieb nichts was den Polizisten brennt.
    Wo was lief: Beinbruch: ich ließ es laufen.
    War bestrebt: daß mich die Presse kennt.

    War beliebt: ich wurd oft eingeladen.
    Schinderkarren haben ein Buffett.
    Zwei und zweie grad sein: ließ ich graden
    Leuten. Streit tat meinem Konto weh.

    Nur die Nächte und die Spiegel schrecken.
    Seh ich mich: ich könnt mir selber spein.
    Weiß: ich eckte an an runden Ecken.

    Warf nie wo ich sollte einen Stein.
    Des nachts: die Morde, wozu ich geschwiegen.
    Weiber kenn ich, die mir nicht mehr liegen.

Das einzig Starke ist der Titel in seiner angenehmen Doppeldeutigkeit: damit ist einmal das Ansehen (neudeutsch: Image) beim Publikum gemeint, zum andern aber auch, daß ein Dichter näher betrachtet, »angesehen« wird (»… lief er schnell, es nah zu sehn«, Goethe). Der den Dichter bei Maiwald näher ansieht, ist natürlich der Dichter selbst. Das Ganze locker gereimt (Schema abab/cdcd/efe/fgg), quasi »erleichterte Schülerausgabe«, wie bei der Zweiten Ungarischen Rhapsodie – an der das Originalfassung würde der Klavierschüler wegen des Fingersatzes scheitern. Der Dichter bestätigt es gleich eingangs: »Ich: gescheitert». Immerhin sind die Reime sauber. Das Metrum: fünffüßige Trochäen, abwechselnd weiblich (Xx) und männlich (X) endend. So weit, so gut. Aber bei Vers 3 stutzt man schon: hier ist regelwidrig »Beinbruch« statt »Beinbruch« betont, was dadurch gerechtfertigt werden könnte, daß mit der Tonbeugung der Beinbruch gerade formalästhetisch als Synkope wiedergegeben werden solle. Nur ist Maiwald derartiges Raffinement eben nicht zuzutrauen – und dann ist es ein simpler Schnitzer. Diese Einschätzung bestätigt sofort Vers 13, der trochäisch betont ganz unsinnig klingen würde:

    Des nachts: die Morde, wozu ich geschwiegen.

Das wäre so etwas wie die berühmten Blumento-Pferde und würde außerdem sechs statt fünf Füße haben. Dagegen kann man den Vers zwanglos als fünffüßigen Jambus lesen:

    Des nachts: die Morde, wozu ich geschwiegen.

–aber dann stört wieder das unnatürliche »wozu«, weil »wozu« richtig wäre, abgesehen davon, daß das »wozu« hier auch sprachlich verfehlt ist, denn es wirkt unangenehm bürokratisch (korrekt wäre: Morde, zu denen ich geschwiegen). Der Vers ist weder Jambus noch Trochäus, sondern Prosa anstatt Poesie, ein Fremdkörper, für jedes empfindliche Ohr unerträglich.

Was diesem Dichter am eigenen Ansehen mißfällt, ist die Tatsache, daß er nichts gegen den (»den«?) Polizisten geschrieben und keinen Stein geworfen hat, daß er kein Chaot ist. Werfen wir nicht den ersten Stein, bedauern wir lieber diesen Dichter! Versöhnlich stimmen könnte der Schlußvers, weil das letzte Wort »liegen« ebenso erfreulich doppeldeutig ist wie der Titel. Nur daß leider die »Weiber« zu den vorangehenden »Morden« passen wie der Faust aufs Gretchen, um es mit einem hier ausnahmsweise angemessenen Kalauer zu sagen.

* * *

Ebenfalls in der FAZ (irgendwann 1982) erschien ein

    »ANSTÄNDIGES SONETT« von Ulla Hahn,

das der Interpret Walter Hinderer (ein Literaturver-Hinderer) »für eines der kunstvollsten … Gedichte nach 1945« hält, wobei sich das »anständig« des Titels laut Hinderer ausdrücklich »auf die gewähIte Form bezieht«. Formal gesehen ist dieses Gedicht in Wirklichkeit unanständig, weil es sich dem Leser als Sonett anbietet, ohne eines zu sein. Während Peter Maiwald zwar nicht genial, aber wenigstens »anständig« reimt, entblödet sich Ulla Hahn nicht, Pseudo-Reime wie »auch/auch« oder »Lider/Lieder« zu präsentieren. Es lohnt nicht, dieses Machwerk hier komplett zu zitieren; zwei aufeinanderfolgende Verse (5 und 6) genügen völlig:

    der Augen mir Ringe um
    und laß mich springen unter

Der Leser mag mit Heinrich Heine resignieren: »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten« – aber gemach. Da Ulla Hahn eine gebildete junge Dame ist, dürfte es kaum ihre Absicht gewesen sein, uns irres Gestammel zu offerieren. Vielleicht liegt es am Leser, wenn er nichts begreift? Ist etwa das Verspaar besonders hintersinnig gemeint? Lesen wir es doch mal von hinten nach vorn:

    unter springen mich laß und
    um Ringe mir Augen der

Irgendetwas scheint da zu ringen und zu springen. Ringt da der Geist der Künstlerin Hahn mit der spröden Materie, der deutschen Sprache? Tut ihr Genie sich schwer damit, dem Leser in die Augen zu springen? Oder soll der Leser gar beim Lesen immer ein Wort überspringen, auf daß ihm die Augen aufgehen? Etwa so:

    der mir um laß springen
    Augen Ringe und mich unter

Aber nein: Wir sollen ja nichts überspringen, wir sollen etwas unterspringen! Heruntergesprungen vom hohen Roß unserer Erwartungen, sollen wir die zehn Wörter der beiden Verse unterhalb gewohnter Ordnungsprinzipien lesen, nämlich in schlicht alphabetischer Reihenfolge:

    Augen der laß mich mir
    Ringe springen um und unter

Und jetzt springt es uns wie Schuppen-Ringe von den Augen: Es handelt sich um eine unendlich zart verschlüsselte, flehentliche Anrede der scheuen Poetin an einen ihr plump nachstellenden Satyr namens Eugen! Sein bürgerlicher Name klingt ja in »Augen« unüberhörbar nach! So liest sich das nur scheinbar sinnlose »Augen der« ganz natürlich als Äugender – als ein nach seiner Ulla äugender Eugen. So gelesen, offenbart der Vers »Äugender laß mich mir« seinen Sinn wie von selbst: Die schüchterne Dichterin beschwört den geil nach ihr Äugenden: »laß mich mir« – laß ab von mir, überlaß mich mir selbst und meiner Jungfräulichkeit; freilich mit der bitteren Konsequenz des folgenden Verses:

    Ringe springen um und unter

Die Trauringe, die der lüstern Äugende ihr als Lohn für die Lust verheißen hatte, entspringen, rollen auf dem Fußboden herum und verschwinden unter dem Teppich, auf Nimmerwiedersehen. Die frigide Poetin wird ihr Leben als alte Jungfer beschließen müssen. Welche Tragik liegt in den zwei kurzen, scheinbar nichtssagenden Versen!

* * *

Man mag nun einwenden, es sei unanständig, Verse aus dem Zusammenhang zu reißen und tiefenpsychologisch anstatt textimmanent zu interpretieren, kurz der Dichterin sei Unrecht geschehen. Zitieren wir daher ein anderes Gedicht von ihr komplett (FAZ vom 12.11.1983):

    Ulla Hahn

    ENDLICH

    Endlich besoffen und ehrlich
    und immer noch’n Sonett
    Reißt mir den Himmel auf
    legt mir die Welt ins Bett:
    Ich hab genug
    ich steh mir selbst bis oben
    und werd dies Leben nicht
    vor seinem Tode loben.
    Jaja ich weiß ihr habt mir keinen Grund
    für dieses Wut- und Wehgeschrei gegeben
    Mir geht es gut, ich halt ja schon den Mund
    nur eine Frage sei noch zugegeben
    Seid ihr ganz sicher daß ihr lebt und
    heißt Nichttotsein schon Leben?

Zu diesem Vierzehnzeiler schreibt Hermann Burger in seinem Kommentar, in dem er Vergleiche zu Gryphius zieht und keine Superlative scheut:

    »Anständiges Sonett«, so hat Ulla Hahn eines ihrer schönsten Liebesgedichte … betitelt. Dies hier ist ein unanständiges. Frech und salopp, »besoffen« kommt es daher als liederlicher Reigen. … wie definiert sich das »ich«? Durch radikale Verweigerung, die bei Ulla Hahn bis zum Eß-, Atem- und Liebesstreik geht.

Dagegen ist festzustellen: Dies hier ist kein Sonett, sondern ein ästhetisches Verbrechen! Es veralbert den Begriff des Sonetts auf der biederen Blödelebene penetranter Klamottenkomiker à la Heinz Erhardt (»noch’n Gedicht«). Zugleich ist es eine Lüge, weil es sich den Anstrich genialischer Verkommenheit und existentieller Verzweiflung gibt. Ulla Hahn, die Kultfigur der FAZ, ist weder besoffen noch ehrlich, sie geht nüchtern kalkulierend den Weg des geringsten Niderstandes auf ein taubes Publikum zu, das die Armseligkeit »gegeben/zugegeben« für bare Reim-Münze nimmt. Sie erspart sich und dem Leser die Last und die Lust der Form, was ihre publizistischen Komplicen als »radikale Verweigerung« ausgeben. Ihr angeblicher Eß- und Atemstreik ist das pausbäckige taedium vitae der höheren Tochter, ihr Liebesstreik Zimperlichkeit. Man sollte lieber Friederike Kempner und Julie Schrader lesen!
 


 

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