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Paul Heyse

Im Coliseo

Gelinder fließt in dieser Luft das Blut.
Die Seele lernt ihr stürmisch Weh bezähmen,
Des Haftens am Vergänglichen sich schämen,
Wo eine stolze Welt in Trümmern ruht.

Höhnt hier nicht jede Quader: Eintagsbrut,
Willst du dein Zwergen-Ich so wichtig nehmen?
Was ist dein Sehnen, Jauchzen oder Grämen?
Ein Tropfen nur im All der Geisterflut.


Doch während mich umrauscht das ew’ge Fließen
Des uferlosen Meers, in dessen Bette
Spurlos versinkt, was hoch und herrlich war,

Kann wie ein schweres Unheil mich verdrießen
Ein ungefügig Reimwort im Sonette –
O Widerspruch, dein Nam’ ist Mensch fürwahr!

Aus: Galerie der Gedichte. Ausgewählt von Rolf Hochhuth.
Quelle: Programmzeitschrift HörZu 38/1990, S. 95


Kommentar von Klaus M. Rarisch

Für die ständige Rubrik »Galerie der Gedichte« zeichnet Rolf Hochuth verantwortlich. Mit sicherem Griff in die poetische Mottenkiste präsentiert er hier eines der schwächsten deutschen Sonette. Das Metrum wird durch die Tonbeugung in Vers 11 »Spurlos« beeinträchtigt, und zwar umso empfindlicher, als das vergleichbare »uferlosen« in Vers 10 im Jambus bleibt. Das Reimschema abba / abba // cde / cde ist zwar klassisch regelmäßig, jedoch kann der b-Reim »nehmen« in Vers 6 als unrein kritisiert werden, wenn man Anhänger der Theorie ist, wonach sich bei lang ausgesprochenen Lauten »ä« und »e« unterscheiden müssen, also nicht aufeinander gereimt werden dürfen. Der Blankreim in den Versen 11 und 14 (»war« / »fürwahr«) ist unschön und läßt das Sonett sehr schwächlich ausklingen, zumal der Schlußvers noch die schon von Arno Holz attackierte, auf metrischem Zwang beruhende Wortverstümmelung »Nam’« (statt »Name«) bringt. Die gleiche Unart zeigt sich in Vers 2 (»stürmisch« statt »stürmisches«) sowie in Vers 13 (»ungefügig« statt »ungefügiges«).

Zudem dürfte sich Heyse damit sprachlich vergriffen haben. Laut Duden ist ungefügig = unfolgsam; jedoch ungefüge = unförmig, und das scheint Heyse gemeint zu haben. Denn ihn werden vermutlich ungefüge Reimworte in Sonetten anderer Autoren stören (zumal er ja aus Vers 6 die Konsequenz gezogen haben dürfte, sein »Zwergen-Ich« nicht so wichtig zu nehmen). Falls er aber selbstkritisch auf seine eigenen Sonette zielen sollte, so könnte ihn in der Tat ein ungefügiges Reimwort verdrießen: dann hätte das Wort ihm die Gefolgschaft verweigert, d. h. der Dichter würde seine sprachlichen Mittel nicht beherrschen. Traut man aber dem Nobelpreisträger eine so scharfe Selbstkritik nicht zu, müßte Vers 13 sprachlich und metrisch richtig lauten:

    Ein ungefüges Reimwort im Sonette –

Ein ungefüges Reimwort ist übrigens das »verdrießen« in Vers 12. Mit Verdrießlichkeit kann man etwa auf schlechtes Wetter reagieren oder auf zu fettes Essen, wenn kein Magenbitter zur Hand ist; man kann sich aber über so geringes Ungemach auch mit Humor hinwegsetzen. Auf »schweres Unheil« dagegen muß man reagieren – allerdings anders und heftiger als mit Verdrießlichkeit. Psychologisch interpretiere ich den verfehlten Wie-Vergleich so, daß Heyse eben doch nicht der nach Vollkommenheit strebende Poet war, der schon ein ungefüges Reimwort als schweres Unheil empfunden hätte.

Inhaltlich ist das Sonett ein Aberwitz! Wie der Titel besagt, befindet sich der Dichter im Koloseum (nach heutiger italienischer Schreibweise im »Colosseo«), also jedenfalls im Stadtzentrum von Rom. Wie will er da das ca. 20 Kilometer entfernte Meer hören? Ein Meer, das erstens rauscht, aber nicht (wie der Tiber) fließt; das zweitens nicht »uferlos« ist; und in dessen Bette drittens das antike Rom keineswegs versinkt!

Um den Gesamteindruck in einem fünffüßigen Jambus zusammenzufassen:

    O Widerspruch, dein Name ist Paul Heyse!

Erschienen in:
Der Sprung – ein SuKuLTur – Produkt, Nr. 2, 1995