Zu www.fulgura.de mit Navigations-Kolumne


Klaus M. Rarisch

PHANTASTESTÜCKE IN HOFFMANNS MANIER
(1958)

Montage: Waltraut Körner
Montage: Waltraut Körner



I
OLYMPIA

Ihre Achselhöhlen versprachen den Duft der grossen weiten Welt. Wenn sie das count down der Lust mit mir übte, fühlte ich mich ins technische Zeitalter wachsen. Chimère o chimère! Was tat es, dass ich oft stunden- und tagelang auf günstige Startbedingungen warten musste! Bei Zero steilte ich mich zur bemerkenswerten Rakete – was zählte da ein Fehlstart mehr oder weniger! Gehorsam sputnikte ich zu jedem ihrer Anrisse. Und meine Seele spannte, wie ich mich jenseits der Gravitation in himmlischem Vergnügen würde auf mondige Nabelseen und Brustkrater projizieren können.

Die seligen Rhythmen ihrer Schenkel schienen für Theologiestudenten im dritten Semester bestimmt. Dreifältig stigmatisiert wies ihr Fleischtempel den heiligen Ablassweg zur grubendunklen Busszelle hinab. Mich nervte sie wie eine Harfe, Cymbalsonaten umbrudersphärten uns. Meine Ju-jugend als Musicboxer lag abgeblüht hinter mir.

Ich war ihr Partiturenträger von Aufgang bis Niedergang: anfangs ein begnadeter Fleischkuli, spürte ich bald die verdammte Knochenrikscha unter meiner Haut. Auf mir lastete die Lotosblume Nichtigkeit, als krummsäbelschartige Halbmondschneide… Nach dem dritten Zusammenbruch unter meinem Eisernen Kreuz letzter Klasse verlief sich mein Passionsweg im Sande.

Aber über dem Portal eines P.P. kathedralte sie: Bamberger Reiter, unio mystica, Rainer und Maria. Lächeln atmen reiten – immer auf der Stelle. Keep riding: und hurre hurre, hop hop hop, auf allen Fernsehantennen erwarteten mich die Geier vom 3. Programm Etruriens und von Hadramaut (oder Sulzbach-Rosenbergs und von Mühlhausen?) – hurra! die Toten reiten schnell… Ihrer Allgegenwart nicht länger gewärtig, krümmte sich mir die zerscherbte Landschaft auf der Rückseite ihrer Neumondphase zum Fragezeichen Unerforschlichkeit. Da erhob unversehens der Prediger in der Wüste Leppich S.J. seine gesalbte Stimme aus dem Bauch einer leeren Familienflasche: Mach mal Pause, halleluja! Das Bamberger Ross scheute, die Reiterin stürzte Chimäre

 

Herab vom Turm
. . . . . . . . . . . . . . . .
Fortgang, Gaspard.

47 wohlerhaltene Steuerungselemente aus ihrem zertrümmerten Musenbusen, zu einem Gruppenmobile umgebaut, ziehen heute über meinem Schreibtisch astronautische Gedenkkurven an Olympia.

 

II
GIULIETTA

Vor Jahren sah ich mir den Film »Ich« an, den ich Jahre zuvor über mein Leben gedreht hatte, das wiederum Jahre zurücklag. Vielleicht sollte ich dieses Thema nach einigen Jahren wieder aufnehmen? Jede Abweichung von der alten Fassung wäre mir allerdings fatal, wenn ich die Mühe der Einstudierung bedenke. Im übrigen fragt es sich, ob ich mir überhaupt die Titelrolle geben soll und ob sie mir zusagen würde, wenn ich sie mir gäbe. Die Regie im »Ich« würde ich jedenfalls nur dann übernehmen, wenn ich für die Rolle des Ich mich hätte. Da ich aber im Prinzip gegen Remakes bin und ausserdem kaum noch einmal einen Produzenten finden würde, schlage ich vor, die Wiederaufführung des alten »Ich« abzuwarten, der damals grossen Erfolg bei mir hatte. Längst hätte ich »Ich« wieder laufen lassen, müsste ich mich nicht der Schlussszene erinnern, in der aus meinem Nachlass das Drehbuch zu einem neuen »Ich« auftaucht. Nichts spricht dafür, dass darin überhaupt eine Rolle für mich vorgesehen ist.

In »Ich« sah ich mich zu einer Zeit, da mich die Kurtisane G. verliess, der ich seit langem derart verfallen war, dass ich beschlossen hatte, sie einem ahnungslosen Freund als Ehefrau abzutreten, um ihr dadurch eine bürgerliche Existenz zu schaffen. Einfacher wäre es gewesen, ich hätte G. geheiratet, aber damals begann ich gerade, mich für sie zu halten. Ich glaubte, mich durch eine Verehelichung mit mir der Blutschande schuldig zu machen; denn als G. wusste ich nicht, dass ich als Kammergerichtsrat H. widernatürliche Beziehungen mit mir nicht hätte pflegen können, streng juristisch gesehen.

H. versuchte daher, G. zu verführen, die indes standhaft blieb, eingedenk der Devise Lucrezia Borgias: Lieber unzüchtig leben als inzüchtig sterben! Für ihn gab es also nur noch eine diabolische Chance (und hier setzte die Handlung des Films ein): - indem er sie konsequent mit »Herr Kammergerichtsrat« titulierte, würde sie (nämlich die, die er zu sein glaubte) dem Wahn verfallen müssen, er zu sein – so glaubte er jedenfalls.

»Ich« zeigt mich nun in Ichumarmung brünstig. Als Kurtisane will ich mich mit mir mischen. Als Richter bin ich verloren, denn mir wuchert unter der pandektenfarbenen Haut das Scharlachfleisch der Hure, mürbegeritten zwischen den Schenkeln Dschingis Khans. Ich steige in mir wie Quecksilber in den Adern der Selbstmörder, wenn ich den Schatten des Mannes in Saftzuckungen blumig von innen aufdehne, bis ich mich aus mir herauswürge, grenzenlos enthäutet, die Nachgeburt in einer ölig irisierenden Lache von Fruchtwasser zurücklassend. Unter dem gurgelnden Finale der Nichtgeborenen spiegle ich mich in dem befreiten Succubus, den ich vergebens dazu verurteilt habe, in mir, zur Promethidenleber geschrumpft, auf das Geierweibchen Wally zu warten. Die Komödie am kaukasischen Kreidefelsen ist aus, aber der Titel »Samsara«, den ich auf einer Schiefertafel um den Hals gehängt als Reklamemann durch die Strassen trage, wird, je öfter von meinen Lachtränen abgespült, desto öfter wieder weiss auf schwarz menetekelt. Meine Zähne knirschen zusammen. Vor mir das succubische Weib öffnet wie unter dem Biss eines unsichtbaren Bettlers ihren Bauch, eine berstende Blutmelone. Aus der brandgelb sich färbenden Gebärspalte entartet ein Weib, das wiederum berstend neue Gebärfleischlichkeit fortsetzt – ein babylonischer Turm aus Leibern wächst in den Himmel. Ich bin Zeuge, ohne zeugen zu müssen – schattenlos, erlöst. Gleitenlassen… in eine steinerne Wanne, bucklige Diener füllen sie langsam mit Ameisensäure. Zuerst werden die Augen gelöscht, dann verzischen die lauten Sinne; vor der Fäulnis nun bewahrt, zerfällt alles schaumig ins Ichwerdegewesensein.

(Die Reste des Kammergerichtsrats, in seinen Talar gewickelt, fischt man später stinkend aus dem Canale.) – So weit der Film. Mag sein, dass er zuviel Handlung auslässt, die ich vergessen habe, vielleicht eine Liebesepisode, aber ich denke selten an Giulietta.

 

III
ANTONIA

Gestorben in einer Zeit, da es schicklich ist, Särge im Plastikbeutel zum Friedhof zu fahren, lass mich dir ins Grab nachrufen: Sei unbesorgt! Denn die Würmer werden nicht zu anspruchsvoll sein für dich. Die Erde hat nicht kirchliche Druckerlaubnis – sie sei dir leicht.

Du in deiner hygienischen Verpackung hast deine Seele gerade rechtzeitig entlassen, bevor sie anfing, fett zu werden. Vielleicht hat sie das Skalpell auch sanft gekitzelt, an ihrer g’schämigsten Stelle. Sie wollte nicht empfangen die Lehren der Weisen, so da verkünden DEN über uns. Jedoch es gibt keine Empfängnisverhütung, wenn ER dich verführt hat. Sänftiglich wuchern dir violette Christrosen in den Hirnschächten, zwey muntere Paradeisvögelin spielen Bruder und Schwesterherz rings um dein Herz, du hörst den Embryo Jesus wider die Pharisäer in deinem Dickdarm predigen. Da gibt das Messer seine Benefizvorstellung. Langsam hebt es wie einen roten Bühnenvorhang deine Bauchdecke. Wer führt den Kaiserschnitt, wenn Bittermandelmilch deine Brüste schwellt, wenn du mit Liliensucht schwanger gehst? Eine Armada corridatrunkener Schiffe: kreuzen die Egel gegen dich auf und werfen ihre Anker wie geschliffene Stierhörner in das rote Tuch deines Fleisches.

Wie ein Klumpen von Egeln unter Menschenhaut ist die Masse verzuckt, die mich in deinen letzten Stunden an dich erinnerte – und unter dem Triunphgeblubber siegreicher Egel im Goldfischglas schlich deine Stimme über die Schwelle der Stummheit, wie sie Dr. Bleich als Tonbanddokument der Auflösung fixierte. Souvenir – die Stimme eines Gebärheilands, der gleichgültiges Volk anfleht: Kreuziget mich, denn wahrlich, ich habe meine Nachfolgekindlein schon in eure Welt entnabelt!

Aus Prinzip Verzweiflung war ich gegen die gemütsbrühige Art in der Anstalt, den Patienten Genesungsphrasen vorzuknödeln. Wenn Dr. Bleich schwäbelte, sah man Hölderlin vom Psychiater kommen. Geheilt! …Er ischt seinem Ziel entgegengeschtorbe, pflegte Dr. Bleich das Resultat seiner Arbeit zu kommentieren, im Tone eines Politikers, der vom Abgang des Kollegen von der anderen Fraktion plaudert. Und wie in der Hand eines Pantomimen beschrieb das imaginäre Skalpell des Doktors vor den Augen der Hinterbliebenen den Sektionsvorgang, der im Keller des Gebäudes gerade eine schwarzweisse Schar von Rembrandtdeutschen zusammengeführt hatte. Dr. Bleich gab keinen Bericht, sondern in optischen Chiffren den Exitus selbst, der, durch seine knappen Gesten evoziert, als Kollektivschicksal erschien. Solange Gedichte für Messer gehalten würden, dürfe sein Messer sich keine poetischen Freiheiten erlauben, äusserte der Doktor zuweilen, wenn er musische Naturen vor sich zu haben glaubte. Das klang hippokratisch. Der Ausdruck »Endlösung« war vermieden.

Mich führte Dr. Bleich in seine Dunkelkammer, wo die Nachtschwester fixierte, was er entwickelt hatte. Ich spürte das später, sehen konnte ich zunächst nur die Schale mit der stumpfen Flüssigkeit, die eine aasgrüne Lichtscheibe reflektierte. Der Phosphormond schwappte auf mich zu, wurde, ehe er mich schluckte, vom Rand der Schale abgeschnitten, schaukelte wieder zum Doktor zurück, der ihn sorgfältig dirigierte; ich hörte die Schwester zischen: Injizieren liess sich nichts mehr, schliesslich schien sie wie ein Gerippe dazuliegen, hihi, spritzen Sie mal, wenn Sie nur noch Haut und Knochen vorfinden und nirgends Fleisch… Was sollte ich der Jungfer antworten, die zu morphium- und lourdeswassersüchtig war, um sich nicht die Opiate nach Möglichkeit selbst zu applizieren. Diese Stimme wollte stechen, aber ich war radial skelettiert, meine Hohlwelt rings von Chitin umgeben, fugenlos, bis die grüne Lichtscheibe transparent wurde, quecksilbrig verwesend auseinanderfloss. Zwei tote Augen erstanden auf aus dem Grund der Schale, umgaben sich gedankenblass mit Fleischkonturen – dein Bildnis! Es war die gleiche Aufnahme, die schon jahrelang auf meinem Schreibtisch gestanden hatte, Papier hinter Glas, tot. Erst jetzt, da ich es lebendig werden sah, gingen mir die Augen über, ich leckte mir die Tränen mit der Zunge vom Mundwinkel auf und wusste, es war das Salz des Nachher. Das Brot, das wir beide gegessen hatten, war Salpeter geworden.

Ich habe das Foto nicht fixieren lassen. Das Tonband deiner Agonie werde ich nicht abspielen. Dein Todesschrei wird nie wieder laut werden. Für mich darf deine Stimme nicht unsterblich geworden sein, Antonia.

Rechte bei Klaus M. Rarisch