Aus Anlaß des 50. Geburtstages des damals noch in Ostberlin lebenden Günter Kunert am 6. März 1979 hat der Hanser-Lektor und Gelegenheitslyriker Michael Krüger den Sammelband »Kunert lesen« herausgegeben. So sicher Kunert eine Ehrung verdient hätte, so gewiß hat das Buch diesen Zweck verfehlt. Das fängt schon beim Titel an, der einen »Reader« verspricht, ein Lesebuch mit Kunerts besten oder populärsten Gedichten und Prosaarbeiten, während es sich tatsächlich nur um Beitrage über Kunert von Freunden, Kollegen, Kritikern, Übersetzern und Professoren handelt. Leider sind diese Aufsätze alte Hüte, sie dürften größtenteils bereits an anderer Stelle erschienen sein, wenn dies auch aus den Anmerkungen nicht klar hervorgeht. Nur eine Skizze von Heinz Czechowski wird als Originalbeitrag ausgewiesen; die übrigen Texte zwar auch, »wenn nicht anders angegeben«, aber diese Angaben fehlen eben weitgehend. Stattdessen hängt Krüger seinen Autoren teils läppische Charakterisierungen, teils peinliche Lobsprüche an. So erfährt man überflüssigerweise, daß Christopher Middleton »Katzenliebhaber« und daß Ludvik Kundera als Übersetzer »ein unermüdlicher Vermittler« sei, während Fritz J. Raddatz als »Autor des noch immer besten Buches über die Literatur der DDR» angepriesen wird. Die sonst üblichen, hier fehlenden Klappentexte mit ihren banalen Superlativen wurden hier also in das Buch selbst einbezogen. Es ist weder möglich noch nötig, auf alle Beiträge näher einzugehen, aber ein bezeichnender Text sei herausgegriffen: Marcel Reich-Ranickis Rezension von Kunerts Erzählungsband »Die Beerdigung findet in aller Stille statt«. Diese Pseudokritik war schon 1968 in der »Zeit« und erneut 1974 in Buchform erschienen und wirkt nun, beim dritten Aufguß, nicht eben genießbarer. 1968, auf dem Höhepunkt der Studentenrevolte, zeigten sich in der Bundesrepublik literarische Ansätze, deren politische Richtung Reich-Ranicki nicht paßte. Die betreffenden Schriftsteller nennt er nicht beim Namen, um sie desto pauschaler abkanzeln zu können. Es seien »mehr oder minder gescheiterte« von »bemitleidenswerter Impotenz«, die »snobistisch« ihr »künstlerisches Unvermögen zum ästhetischen Gesetz erheben« wollten, die »nur noch vor sich hin blödeln und die Sprache aus sich herausblubbern lassen« könnten, die den Leser »mit stumpfsinnigen Aufzählungen langweilen« wollten und »impertinent und schamlos genug» seien, »ihren Wortbrei als Kunst zu deklarieren«. Wohlgemerkt meint Reich-Ranicki, wenn er so virtuos aus dem Wörterbuch des Unmenschen deklamiert (nur den Begriff »entartet« schenkt er sich), hier nicht etwa seine Mitstreiter von der Gruppe 47. Seine moralinsaure Empörung richtet sich vielmehr gegen jene Verderbten und Verderbenbringenden, die »ihre Bücher mit Aktfotos (unter besonderer Berücksichtigung der Genitalien) schmücken«. Gemeint ist ein amüsanter Bildband von Peter O. Chotjewitz, den weniger konservative Kritiker als literarischen Ulk toleriert hätten. Nachdem Reich-Ranicki so die ihm nicht genehmen linken Autoren des Jahres 1968 erledigt zu haben glaubt, läßt er einen Seitenhieh auf die ihm vermeintlich unterlegenen Kritikerkollegen folgen: sie würden bei Erzählungsbänden gern die zyklische Komposition der einzelnen Texte loben, was seiner tieferen Einsicht nach nicht legitim sei. Man fragt sich vergebIich, was das alles mit Kunert zu tun haben soll. Von dessen zehn Geschichten findet er »fünf vorzüglich und die übrigen jedenfalls bemerkenswert« ein Geschmacksurteil, das sich literarischen Maßstäben entzieht und über das man daher nicht diskutieren kann. Wir haben hier also einen Rezensenten dingfest zu machen, der ohne jedes Erkenntnisinteresse, ohne jede innere Beziehung zu seinem Gegenstand nach Schema F schreibt, der einen der bedeutendsten DDR-Schriftsteller dazu mißbraucht, die Folie für die Vorurteile des Kritikers gegen die linke BRD-Literatur abzugeben. Man kennt das Verfahren ja spätestens seit Tacitus, der die vermeintliche Tugendhaftigkeit der alten Germanen seinen »verderbten« römischen Zeitgenossen als leuchtendes Gegenbeispiel vor Augen führte, ohne an der germanischen Mentalität selbst auch nur im geringsten interessiert zu sein. Daß aber ein derart penetrantes Moralisieren in der bundesrepublikanischen Literaturkritik fröhliche Urständ feiern könnte, hätte man nicht erwartet. Schade um Kunert, der eine intelligentere Interpretation nicht zu scheuen brauchte! Der beste Beitrag des Bandes stammt von Kunert selbst und ist ein Brief von 1978 an die Redaktion der Ostberliner kulturpolitischen Zeitschrift »Sonntag«, der dort wie leider zu erwarten war nicht veröffentlicht wurde. Kunert untersucht darin mit subtilem Sarkasmus die Motive des denunziatorischen DDR-Rezensenten Werner Neubert, dessen im »Sonntag« erschienene Kritiken er dahingehend analysiert, »daß die irrationalen Unterstellungen gegen Minderheiten immer den Sexualbereich einbeziehen« und dem er zu Recht »moralistischen Rigorismus ohne jede Selbstreflexioa« bescheinigt. Ohne weiteres läßt sich diese Analyse auf BRD-Rezensenten vom Schlage Reich-Ranickis übertragen. Der kulturpolitische Unterschied zwischen beiden deutschen Staaten besteht nur darin, daß ein drüben geschriebener und dort unterdrückter Leserbrief glücklicherweise hüben noch gedruckt werden kann, wogegen das umgekehrt kaum möglich wäre. Im übrigen hat Kunert eben wegen dieser Affäre und nicht etwa aus Opportunismus im Oktober 1979 die DDR verlassen. Beim Titel des vorliegenden Bandes wurde ein Ausrufezeichen weggelassen, er müßte eigentlich, im Sinne des militärischen Imperativs »Alles mal Herhören!« lauten: »Kunert lesen!« eine Aufiorderung, die man trotz ihres barschen Tones befolgen sollte. Klans M. Rarisch die horen, Nr. 120 (1980)
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