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Klaus M. Rarisch:
»Die Hexe« von Jules Michelet


Den Ketzerprozeß von Loudon, der mit dem Feuertod des Urbain Grandier am 18. August 1634 endete, kennt man aus zahlreichen literarischen Gestaltungen; erwähnt seien nur die Bücher von Jaroslaw Iwaskiewicz (»Mutter Johanna von den Engeln«, 1946, verfilmt 1960), Eyvind Johnson (»Träume von Rosen und Feuer«, 1949), Aldous Huxley (»Die Teufel von Loudon«, 1952) und das Drama »Die Teufel« von John Whiting (1961), dessen deutsche Erstaufführung am Berliner Schillertheater 1962 auf Betreiben des katholischen petrusblattes abgesetzt wurde. Neuerdings hat Krzysztof Penderecki den Stoff für die Opernbühne komponiert.

Der eigentliche Historiker des Hexen- und Zauberwahns aber ist Jules Michelet (1798–1874), dessen klassische Abhandlung »La Sorcière« (1862) seit kurzem wieder in der zeitgenössischen Übersetzung von R. Klose vorliegt: »Die Hexe«, herausgegeben und mit einem engagierten Nachwort versehen von Günther Emig, Verlag Jakobsohn, Berlin 1977. Diese Edition ist umso verdienstvoller, als man deutsche Ausgaben von Michelets mehrbändigen Hauptwerken »Histoire de France« und »Histoire de la Révolution française« im Sortiment vergeblich suchen wird.

Dem Studium der »grauenvollen Literatur des Hexenwesens«, den »Dummheiten der Dominikaner« (S. 7) und den fast unübersehbaren Prozeßakten widmete Michelet dreißig Jahre; es ist ihm gelungen, auf nur 200 Seiten einen soziologisch und sozialpsychologisch fundierten Abriß des Phänomens vom Altertum bis zum 18. Jahrhundert zu geben.

Michelet geht von dem »satanischen Hauptprinzip« aus, »daß alles verkehrt geschehen muß«, nämlich »gerade entgegengesetzt dem, was die fromme, heilige Welt tut« (S. 67). Nach diesem Prinzip ist für ihn die Beziehung zwischen Satan und Hexe organisiert; dieses Prinzip liegt auch seiner eigenen Betrachtungsweise zugrunde – mit anderen Worten: Michelet steht dezidiert auf Seiten Satans, insofern es die Hexe ist, »die den Satan hervorbrachte« (S. 87), die »die Frau Satans, und man kann zugleich sagen: seine Mutter« ist (S. 89). Der gegenteilige Standpunkt der Kirche ist bekannt: für sie hat Satan als Vater der Lüge die Hexe hervorgebracht. Das Verdienst Michelets ist es, nach dem »satanischen Hauptprinzip« das Kirchendogma vom Kopf auf die Beine gestellt zu haben.

Er erhebt seine Stimme für die wehrlosen Opfer: »der allgemeine Märtyrer des Mittelalters, die Hexe, sagt nichts, ihre Asche ist in den Wind gestreut« (S. 196). Auf detaillierte Schilderungen der Folter- und Vernichtungsmethoden verzichtet er ebenso wie auf die ausführliche Wiedergabe inquisitionsgerichtlicher Erfolgsstatistiken. »Die Glücklichsten sind die, die man tötete« (S. 9). Die anderen wurden eingemauert, nach dem zynischen Inquisitionsjargon »in pace« versetzt. So erreichte die Kirche am besten ihr Ziel: lebendige Tote zu schaffen, um sie auf ihre jenseitige Bestimmung vorzubereiten: »Die anstößige Idee einer Hölle, in der Gott die ruchlosesten Verbrecherseelen dazu anwendet, die weniger schuldbefleckten, die er ihnen zum Spielzeug überliefert, zu quälen und zu martern, dieses schöne Dogma des Mittelalters verwirklichte sich dem Buchstaben nach« (S. 34).

Was Michelet gleich eingangs feststellt, beweist er historisch exakt: »Aus welcher Zeit datiert die Hexe? Ich sage es ohne Zögern: aus der Zeit der Verzweiflung. Aus der tiefen Verzweiflung, deren Ursache die Kirche war, und ich sage es ohne Scheu: die Hexe ist ein Verbrechen der Kirche« (S. 8). Die Hexe ist nichts anderes als die »in Verzweiflung geratene Frau« (S. 79); zur Entstehung der Hexe bedurfte es »des unglücklichen Druckes eines eisernen Zeitalters, desjenigen der grausamen Notwendigkeit; die Hölle mußte selbst als ein Zufluchtsort, als ein Asyl gegen die Hölle von hier unten erscheinen« (S. 40). Das Mittelalter war nichts anderes als das Inferno auf Erden.

Präzise legt Michelet die Gründe dar, warum das Mittelalter verzweifelte; wie im mittelalterlichen Feudalsystem der freie Mann Vasall, der Vasall Diener und der Diener Sklave wurde (S. 25); wie die Leibeigenen nach 1300 die schwarze Messe als Revolutionsversammlung begingen: »Menschliche Brüderlichkeit, eine Herausforderung, an den christlichen Himmel gerichtet, ein unnatürlicher Gottesdienst des Gottes Natur – das ist der Sinn der schwarzen Messe« (S. 79). Priesterin dieser Messe ist die Frau, die »vom Christentum verdammte Eva« (S. 78) – die Hexe. Angebetet wird der »große leibeigene Rebell, … der ungerechterweise aus dem Himmel Verjagte« (S. 79) – Satan. Bezeichnend für den modernen sozialgeschichtlichen Ansatz Michelets ist seine Feststellung, daß die Frauen, die an den schwarzen Messen teilnahmen, von dort nie schwanger zurückkamen: Man war zu wirkungsvollen Verhütungsmethoden genötigt, weil sich die Unterschicht aus juristischen und ökonomischen Gründen kaum Kinder leisten konnte. Im übrigen erschienen die Teilnehmer paarweise oder in festen Kleingruppen; Promiskuität wurde auf den schwarzen Messen nicht praktiziert.

Methodisch interessant ist auch das Bestreben Michelets, so weit wie möglich Mythen und Märchen in die Analyse einzubeziehen. »Die Märchen haben einen historischen Teil« (S. 28). Besonders klar ist dies im Falle des Ritter Blaubart, des historischen Kindermörders Gilles de Rais, der als Marschall von Frankreich und Zeitgenosse der Jeanne d’Arc 1440 hingerichtet wurde: »Der famose Gilles de Rais, der einzige, dem man den Prozeß machte, wurde bestraft, nicht weil er seine kleinen Leibeigenen geraubt (sehr häufig vorkommende Sache), sondern weil er sie dem Satan geopfert hatte« (S. 93). Der Satanist Joris-Karl Huysmans verarbeitete den Stoff in seinem exorbitanten Roman »Là-bas« (Tief unten, 1891); noch 1976 erschien Gilles de Rais auf der Ballettbühne in Fernando Arrabals »Bilder des Ruhms«. – Auch einen anderen Vampirstoff, die Braut von Korinth, interpretiert Michelet, wobei er die perverse Gestaltung des Sujets durch Goethe scharfsinnig kritisiert (S. 16 ff.).

Die hervorragende soziale Funktion der Hexe, die von ihren Klienten respektvoll nur als »kluge«, »gute« oder »schöne Frau« angesprochen wurde, erkennt Michelet ganz klar: »Tausend Jahre hindurch war die Hexe der einzige Arzt des Volkes« (S. 6). Auch in dieser Beziehung blieb die Reaktion nicht aus: »die Kirche erklärte im 14. Jahrhundert, daß, wenn eine Frau ohne studiert zu haben, zu kurieren wagt, sie eine Hexe ist und sterben muß« (S. 11). Dagegen bekannte der bedeutendste Arzt der Renaissance, Paracelsus, alles nur von Hexen, Hirten und Scharfrichtern gelernt zu haben. Michelet bezeichnet das Mittelalter als »krankes Zeitalter« (S. 87) und beschreibt in dem Kapitel »Der Satan als Arzt« die typischen Krankheiten des 13. bis 16. Jahrhunderts: Aussatz, Veitstanz (Epilepsie), Pest und Syphilis; er resümiert am Schluß des Buches: »Die Medizin ist hauptsächlich das wahre Teufelswesen, eine Empörung gegen die Krankheit, gegen die Plage, die von Gott geschickt wurde; eine offenbare Sünde ist es, die Seele auf dem Weg in den Himmel aufzuhalten, sie in das Leben zurückzuversenken« (S. 197).

Sieht man von dem zu Michelets Zeit noch nicht geprägten tiefenpsychologischen Vokabular einmal ab, mit dem man heute die Inquisitoren als sadomasochistische Typen beschreiben würde, ist sein Psychogramm Sprengers, des Mitverfassers des »Hexenhammers«, ein Kabinettstück: Das Credo quia absurdum, die Verbohrtheit des geborenen Propagandisten (Goebbels vergleichbar) und Fanatikers (Himmler vergleichbar) tritt klar hervor. »Dies ist das unbestreitbare und bestimmte Verdienst Sprengers. Er ist ein Dummkopf, aber ein furchtloser; er stellt kühn die fast gar nicht verteidigbaren Sätze auf … Dieser solide Scholastiker, der, voll sinnloser Worte, ein geschworener Feind ebensosehr der Natur als der Vernunft ist, bläht sich in seinen Büchern, in seiner Soutane, in seinem Schmutz und seinem Staub mit einem stolzen Glauben … Mit einem grausamen Mann würde man sich vielleicht herausziehen können, aber bei diesem guten Sprenger ist nichts zu hoffen; seine Menschlichkeit ist zu stark; man wird ohne Gnade verbrannt« (S. 98 ff.). Mit beißendem Sarkasmus analysiert Michelet den »Hexenhammer« selbst: »Der Malleus enthält, wie alle Bücher dieser Art, ein sonderbares Zugeständnis, daß nämlich der Teufel an Platz gewinnt, d. h. daß Gott verliert, daß also das von Jesus gerettete menschliche Geschlecht eine Beute des Teufels wird; dieser schreitet von Legende zu Legende sichtbar vorwärts; welchen Weg hat er seit den Zeiten des Evangeliums, wo er ganz und gar glücklich war, wenn er sich in Schweineställen einquartieren konnte, bis zu der Periode Dantes zurückgelegt, wo er als Theologe und Jurist den Heiligen Beweisgründe anführt, mit ihnen streitet und beim Beschluß seiner siegreichen Schlußfolgerungen mit triumphierendem Gelächter sagt, indem er die bestrittene Seele mit fortnimmt: ›Du wußtest also nicht, daß ich Logiker war?‹« (S. l0l f.).

Über den Sinn seiner historischen Studie zu einer Zeit, die das Hexenwesen für endgültig überwindbar hielt, äußert sich Michelet metaphorisch: »Komm, o Sonne! Man betet dich schon im voraus an, aber nur, indem man noch den letzten Augenblick des Traumes im Gedächtnis hat« (S. 198). Michelet, der den Satan als Lichtbringer und personifizierten Befreier begrüßt, schwingt gemäß dem »satanischen Hauptprinzip« als erster den Hexenhammer in »verkehrter« Richtung und läßt ihn auf die tonsurierten Köpfe seiner Erfinder zurücksausen.

Erschienen in
Materialien und Informationen zur Zeit (MIZ)
Berlin
Nr. 1/1977



 


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