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Klaus M. Rarisch

Was ist Ultimismus?

Über mein Buch
NOT, ZUCHT UND ORDNUNG,
ultimistische Gedichte,
Köln 1963

Klaus M. Rarisch im Lyrikkatalog Bundesrepublik, 1978

NOT

In diesen Gedichten sucht ein Einzelner sich auszusprechen. Es ist nicht materielle Not, die ihn zwingt, die Stimme zu erheben, sondern die Totalität der ideologischen Ansprüche unserer Zeit und Umwelt: nationaler Untertanengeist, soziale Umklammerung, politische Pseudo-Antinomien und religiöser Dogmatismus, in summa die Philosophie des Als-Ob. Wir leben, als ob sich die deutsche Mentalität gewandelt hätte; als ob soziale Gerechtigkeit realisierbar wäre; als ob wir außerhalb der Interessengruppen irgendwelchen Einfluß auf den Staat ausüben könnten; als ob wir metaphysisch ein Recht hätten, so zu leben und überhaupt zu leben; kurzum: wir leben in Heuchelei und Selbstbetrug.

Der Verfasser glaubt nicht, durch seine Gedichte etwas zu ändern, irgendwen beeinflussen zu können. Denn der Geist ist nicht, was er gemäß dem pragmatischen Positivismus unserer Zeit sein soll: bloßes Instrument des Handelns, sondern zugleich weniger und mehr, wenn er schöpferisch wird. Das Bewußtsein des Einzelnen, das sich im Geist ausdrückt, wird in schöpferischer Indifferenz stets sich selbst reflektieren; es gibt keine künstlerische Kommunikation. Der Schriftsteller, der die Ideologien der anderen kritisiert, muß seine geistige Realität dagegen setzen. Aber dieser kreative Prozeß ist ohne jede Verbindlichkeit für andere, weil er sonst nur in eine neue Ideologie ausarten würde. In der Unverbindlichkeit seines Schreibens erkennt der Verfasser seine tiefste Not. Denn: »Monaden haben keine Fenster.« (Leibniz)
 

ZUCHT

Der Philosophie des Als-Ob entspricht auf künstlerischem Gebiet eine Ästhetik, die allen Ernstes anstrebt, das Publikum völlig zu manipulieren. Die Ideologien der »konkreten Posie« z. B. wollen den »Kunstkonsumenten« zwingen, vom »Kunstprodukt« sogenannte ästhetische Informationen entgegenzunehmen, d. h. das Publikum soll auf die immer flüchtiger werdenden Reize des Neuen in der Kunst eingestimmt werden. Diesem Trend zum Neuen folgen alle Schriftsteller, die sich als Avantgardisten fühlen, mögen auch im übrigen ihre immer schneller wechselnden Richtungen sich so voneinander unterscheiden, wie die diesjährige Kleidermode von der vorjährigen. Der gemeinsame Nenner der verschiedensten »Avantgardisten. heißt also: Originalitätssucht. In der Kunst gibt es aber nicht das Neue als Absolutum. Geht man in der Literaturgeschichte weit genug zurück, wird man – häufig z. B. in der Barocklyrik – stets die Vorläufer der jeweilig »modernen« Manieristen von heute finden.

Der Ultimismus setzt an die Stelle des Neuen als ästhetisches Kriterium die Tendenz zum Letzten, Notwendigen. Das Notwendige ist für den Schriftsteller das, was dem Mikrokosmos in seinem Ich den sprachlich einzig adäquaten Ausdruck gibt, was sein individuelles Bewußtsein am klarsten reflektiert. Als Individuum steht der Künstler außerhalb seiner Gegenwart, überhaupt außerhalb der Geschichte; nur als Kollektivwesen ist er ihr unterworfen. Das Ich des Schriftstellers, das seinen notwendigen sprachlichen Ausdruck sucht, kann daher weder »alt« noch »neu« sein: es ist einzigartig. Der Ultimist versucht, die dualistischen Zwänge der historischen Entwicklung in sich dialektisch aufzuheben; seine Kunst hat »progressiv-regressiven Doppelcharakter« (Thomas Mann im »Dr. Faustus«). Selbstverständlich sind diese Überlegungen nicht neu. Friedrich Schlegel mit der Forderung nach einer »progressiven Universalpoesie« oder Arno Holz mit seiner umfassenden theoretischen und praktischen Konstruktion einer Wortkunst aus dem notwendigen (anstelle des »freien«) Rhythmus haben in der deutschen Sprachebene Fundamente und babylonische Turmstümpfe hinterlassen, die es zu vollenden gilt.
 

ORDNUNG

Die Kunst sieht sich noch immer in gewisse klassische Ordnungsschemata eingezwängt, die auf bloß behaupteten, dialektisch durchaus nicht begründeten Antinomien beruhen. Die Unterscheidung zwischen »Gedankenlyrik« und »reiner Lyrik« z. B. gehört dazu. Der Ultimist dagegen arbeitet mit an der Evolution der von Willkür und antiquierten Zufallsnormen beherrschten metrischen und strophischen Gedichtformen zu einer Wortkunst aus immanenter Gesetzlichkeit. Warum dann noch Sonette schreiben? Hier wird der theoretisch überlebte Formenkanon praktisch noch einmal – ein letztes Mal – dargestellt und gleichzeitig ästhetisch zerstört. Denn es ist nur halbe Arbeit, die Sonettform metrisch zerbröckeln zu lassen, wie es z. B. Rilke in den »Sonetten an Orpheus« vorführte. Vielmehr mußte einmal unternommen werden, das Gebäude des Sonetts nach klassischen Grundrissen zu errichten, seine Architektonik im Metrum (d. h. optisch) fest zu fügen und es dennoch von innen auszuhöhlen: durch Alliterationen, Assonanzen und Binnenreime, die mit den Endreimen akustisch korrespondieren und so die Brüchigkeit des ganzen Gebäudes erweisen. Eine Ordnung wird scheinbar gewahrt, aber zugunsten einer höheren liquidiert. Diese Entlarvung einer klassischen Pseudo-Ästhetik entspricht sprachlich dem Angriff auf die Philosophie des ALS-OB und gleichzeitig dem Bewußtsein der Vergeblichkeit seiner künstlerischen Formulierung. Kunst gibt hier keine Weltanschauung, sondern der Künstler entwickelt durch die Kunst seine Ichanschauung.


Abgedruckt in
Lyrikkatalog Bundesrepublik
Hg. von Jan Hans, Uwe Herms, Ralf Thenior
München: Wilhelm Goldmann Verlag 1978