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Klaus M. Rarisch:
VOM AUSVERKAUF DER POESIE

Die Chancen der Poesie stehen schlecht, wenn z. B. ein großer deutscher Verlag repräsentative Werkeditionen deutschsprachiger Dichter zu verramschen für nötig hält, wie es Albert Ehrenstein 1972 widerfuhr, wobei die Restauflage der 511 Seiten starken Originalausgabe als angebliche »Sonderausgabe« getarnt wurde. Andere Poeten sollen Ehrenstein auf dem Weg in den Ramsch folgen; sie werden sich bei ihm in guter Gesellschaft fühlen, dessen scharfer Ton heute wohl nicht mehr recht aktuell ist. Wenn er etwa schreibt: »Und ewig / Klebt an Sozialdemokraten Verrat« oder sich gegen die »sozialdemokrätzigen Pfaffennaturen« empört, so dürfte er damit dem Star-Autor desselben Verlages, Günter Grass, nicht gerade aus der Seele gesprochen haben.

Wie trübe die Zeiten für Poesie hierzulande geworden sind, zeigt kraß die Äußerung eines anderen Verlages, der immerhin einmal die beiden größten deutschen Nachkriegslyriker – Hans Arp und Gottfried Benn – herausbrachte: »... haben wir uns von der Lyrik ziemlich distanziert, weil die sich in Deutschland so gut wie nicht verkaufen läßt« (Brief vom 10. 8. 1970).

Als das Eigentliche an Lyrik galt jahrelang das, was die »Akzente« druckten. Wie ungeniert aber diese »Zeitschrift für Dichtung« manipulierte, fälschte und diffamierte, beweist die Anmerkung der Redaktion zu Gedichten von M. A. Knorr und mir, die ich leider dort in jugendlicher Naivität veröffentlichte (Heft 5/1961, S. 480): »MANFRED A. KNORR und K. M. RARISCH gehören der Berliner Gruppe der vier + 4 an, die in Berlin durch öffentliche Lesungen bekanntgeworden ist. Sie nennt sich ›Gruppe der Finisten‹.« Daß wir uns in Wirklichkeit Ultimisten nannten und mit Peter Rühmkorf und Werner Riegel nichts zu tun hatten, wußten die Herausgeber der »Akzente« genau. Auf meinen Protest versprach mir Walter Höllerer, im nächsten Heft eine Berichtigung zu veröffentlichen (Brief vom l. 11. 1961). Auf das Erscheinen dieser Berichtigung warte ich heute noch. Aber Höllerer ist ein ehrenwerter Mann, das sind sie alle, alle ehrenwert ... in der Gruppe 47!

Der Ultimismus war keine neue Stilrichtung, sondern der Versuch einer Synthese dessen, was wir – Dieter Volkmann, Manfred A. Knorr, Richard Klaus und ich – als die wesentlichen Errungenschaften der deutschen Literatur seit Arno Holz, dem Expressionismus und Dadaismus betrachteten. Wir griffen bewußt auf die Tradition der Jahre 1910 bis 1920 zurück, nicht aus konservativer Gesinnung oder epigonaler Impotenz, sondern weil uns die Entwicklung seit 1947 mit ihrer eitlen Kahlschlagideologie und ihren Stunde-Null-Phrasen zuwider war. Im Gegensatz zur Originalitätssucht der Pseudo-Avantgardisten wollten wir an die Stelle des Neuen als ästhetisches Kriterium die Tendenz zum Letzten, Notwendigen setzen. Im Laufe der Jahre erkannten wir immer klarer, daß gerade die von der Kritik als besonders original und originell gepriesenen Bestseller-Autoren nur besonders raffiniert verfahrende Abschreiber waren. An einem extremen Fall konnte ich – gestützt auf die Vorarbeiten von Karlheinz Deschner – diese These beweisen (Klaus M. Rarisch, Günther Grass als Plagiator, in: »notabene«, TSAMAS-KULTurmagazin Nr. 3, Sept. 1970, S. 59 ff.).

Meine Entdeckung, daß Figuren und Motive der »Blechtrommel« bis in die Details sprachlicher Formulierungen direkt auf die 1918 erschienene Novelle »Verwandlungen« des Dadaisten Richard Huelsenbeck zurückzuführen sind, ist bis heute unwiderlegt geblieben. Grass selbst hat sich zu dem gegen ihn öffentlich erhobenen Plagiatsvorwurf nicht geäußert. Was hätte er auch erwidern sollen?

Seit wir 1958 den Ultimismus kreiert hatten, boykottierte uns die Gruppe 47. Huelsenbeck schrieb dazu: »Natürlich bin ich ein Ultimist, was kann man sonst in dieser Zeit sein? Ich glaube in der Tat, daß der Ultimismus der natürliche Erbe Dadas ist« und: »Die Gruppe 47 ist die literarische Waffen-SS«. Die Methoden dieser sich linksliberal gebärdenden, tatsächlich aber faschistoiden Clique analysierte ich 1965 in der Einleitung zum »Ultimistischen Almanach« (Wolgang Hake Verlag Köln, S. 13) anhand eines in der Studentenzeitschrift »Anrisse« (Nr. 33/1963) erschienenen Interviews. Meine Äußerung war eine der Todsünden, für die es keine Absolution gibt:

    Zum Exempel hier ein Dialog mit Hans Werner Richter, der, vom Interviewer naiv angerissen, das Unfehlbarkeitsdogma seiner Kritikerpäpste folgendermaßen formulierte:
    »ANRISSE: ... Nur Leute, die bei Ihnen gut abschneiden, werden von den Verlagen groß herausgestellt. Ist das beabsichtigt?
    Richter: Das ist völlig unbeabsichtigt. Natürlich wissen wir, daß unsere Wertung in der Öffentlichkeit anerkannt wird.
    ANRISSE: Haben Sie einen Maßstab für diese Wertung?
    Richter: Es gibt keinen Maßstab. Das pendelt sich in der Kritik aus. Es ist eigentlich nie passiert, daß wir einen Autor falsch beurteilt haben.«
    Der wunde Punkt in Richters selbstherrlicher Aussage verrät sich durch das unentschlossene »eigentlich«: denen, die dazugehören, den »Eigentlichen«, ist eine falsche Kritik nie widerfahren; das Urteil über die Neulinge wird »ausgependelt«, wie die Prophezeiungen gewisser Hellseherinnen.

1967 erschien unter dem Titel »Außerdem« eine Anthologie, der ein »Grußwort« von Richter vorangestellt war. In meiner Rezension des Bandes hieß es: »Wenn ich ein Buch mit dem Untertitel ›Deutsche Literatur minus Gruppe 47 = wieviel?‹ zur Hand nehme, erwarte ich als Einleitung alles andere als eine Apotheose eben dieser Gruppe aus der Feder ihres Hauptgeschäftsführers Hans Werner Richter, der sich hier noch dazu als jugendliche Naive produziert, anstatt allmählich ins Charakterfach überzuwechseln. Wenn Richter biedermännisch lügt, er habe zu den Tagungen der Gruppe ›nur unbekannte Autoren eingeladen, nicht prominente‹ (S. 6), so muß er wohl die Zeit seit dem Jahre 47 und das Blow up der damals Unbekannten zu den heute Prominenten verschlafen haben. Er schreibt, die von ihm Ein- (richtiger wäre: Vor-)geladenen seien doch alle freiwillig gekommen, nichts habe sie dazu gezwungen, ›es sei denn der eigene Ehrgeiz‹ (S. 7). Sehr wahr! Genauso wie nichts einen Hungernden dazu zwingt, bei der Heilsarmee einen Napf Suppe nebst geistlicher Erbauung zu fassen, es sei denn der Ehrgeiz, am Leben zu bleiben. Aber Richter ist ja bekanntlich gar kein Doktrinär, er gesteht also verschämt, ein weiterer Grund für die Teilnahme an den Gruppentagungen könnte ›wie in den ersten Jahren – das Interesse an handwerklicher Beurteilung des noch unfertigen Manuskripts‹ (S. 7) gewesen sein. Wie in den ersten Jahren! Denn heute sind die Gruppengenies keine simplen Handwerker mehr; unfertige Manuskripte werden sie sich vermutlich erst wieder leisten können, wenn sie den Nobelpreis in der Tasche haben.«

Den Nobelpreis hat die ganze Gruppe im Kollektiv ja inzwischen glücklich errungen. Wem das noch neu sein sollte, der kann sich darüber von der »Zeit« (Nr. 43 vom 27. 10. 1972) belehren lassen: »Böll selber hätte offenbar, wenn überhaupt mit dem Nobelpreis, dann nur mit dem halben gerechnet. Und für Grass ist die schwedische Entscheidung natürlich hart«. Natürlich, aber der Ärmste wird sich zu trösten wissen, denn: »Wenn man den Konsensus der Sachverständigen, die einem anderen westdeutschen Nobelpreis-Kandidaten vor Böll den Vorzug hätten geben mögen, als Vorschlagsliste ausgewertet hätte, dann stünden auf den ersten fünf Plätzen ehemalige ›Mitglieder‹ oder sogar ›Preisträger‹ der Gruppe 47: Grass, Lenz, Walser, Johnson, Enzensberger«. Wenn die »Zeit« das nur oft genug wiederholt, wird es auch die Jury in Stockholm endlich kapieren, aus deren Begründungen sich ja heute schon viel Positives herauslesen läßt: »Lesen wir die Begründung richtig, wonach Böll der Nobelpreis zuerkannt wurde ..., dann kann auch eine verspätete, aber darum nicht weniger berechtigte Ehrung der Gruppe 47 (seligen Angedenkens) herausgelesen werden«. Ja, lesen müßte man können! Der Urheber dieser feinsinnigen Interpretation ist Feuilletonchef, heißt Rudolf Walter Leonhardt und gesteht in derselben Ausgabe seines Blattes in anderem Zusammenhang: »Ohne die Tagungen der Gruppe 47 selig verstünde ich zum Beispiel noch weniger von deutscher Literatur heute«. Welch edle Bescheidenheit! Aber muß man denn etwas von Literatur verstehen als Apologet einer Gruppe, der es um Macht und Geld geht und für die »Literatur« bestenfalls ein Vorwand ist?

Gerechterweise bleibt allerdings zu erwähnen, daß nicht nur der Nobelpreis ein (kultur-)politisches Machtinstrument ist, sondern daß es mit Literaturpreisen überhaupt seine eigene Bewandtnis hat. Zu der 1972 erschienenen Anthologie »Geständnisse. Heine im Bewußtsein heutiger Autoren« lieferte Carl Zuckmayer einen Beitrag, der ungekürzt folgendermaßen lautet: »Ich konnte zu Heine, bei aller Bewunderung seiner brillanten Intelligenz und seines dichterischen Vermögens, nie ein Verhältnis finden.« Dementsprechend – und keinen Eingeweihten wird es wundernehmen – heißt der erste Träger des 1972 gestifteten Heine-Preises der Stadt Düsseldorf: Carl Zuckmayer. So hat auch Heine nicht umsonst gelebt, denn wie anders sollte man deutsche Dichter ehren, die nicht zu den Matadoren der Gruppe 47 gehören und also keine Aussicht auf den Nobelpreis haben?

Was machen junge Autoren ohne den kleinsten Literaturpreis, ohne Geld, ohne Protektion und ohne Zugang zu den Massenmedien? Sie gründen z. B. ein Kellerlokal, installieren darin einen Klub und veranstalten Lesungen und Diskussionen. Bei den Ultimisten hieß dieses Unternehmen »Das Massengrab«; es existierte von Mitte 1961 bis Ende 1963 und wurde mit mehr als 1600 Mitgliedern zur größten literarischen Gesellschaft in Berlin. Im »Massengrab« fanden Debütanten ihr Forum und Arrivierte ihre polemische Abfertigung. Am liebsten aber gruben wir als literarische Frankensteins die Leichname vergessener Autoren aus, um sie wiederzubeleben, was die Pressekritiker bei ihren spärlichen Besuchen anrüchig fanden. So schrieb die Journalistin Gisela Huwe über eine Lesung aus »Là-Bas« von Joris Karl Huysmans: »... hier aber wurde man den Eindruck nicht los, daß das Abnorme um seiner selbst willen gesagt wurde. Und da fängt es dann wirklich an, bedenklich zu werden« (»Der Tag« vom 20. 10. 1962). Frau Huwe muß aber ihre Bedenken später tapfer überwunden haben; als nämlich einige Zeit danach von ihr ein Rundfunkbeitrag über Huysmans gesendet wurde, fand sie den alten Satanisten gar nicht mehr so abnorm.

Dasselbe Prinzip – Diffamierung verbunden mit Ausbeutung – praktizierte auch Arnold Bauer, der meine Interpretation von Max Herrmann-Neißes Erzählung »Der Todeskandidat« verriß, gleichzeitig aber eine Bemerkung, die ich über den Dichter (er sei als Vorläufer des absurden Theaters anzusehen) gemacht hatte, als seine – Bauers – eigene Entdeckung wiedergab (»Kurier« vom 15. 8.1962).

Das »Massengrab« wurde 1961 eröffnet, kurz vor dem Bau der Mauer in Berlin. Man wird sich daran erinnern, daß der Kalte Krieg damals in vollster Blüte stand. Westberlin war die Hochburg des Antikommunismus, Brecht durfte nicht gespielt werden und uns besuchten unauffällige Herren vom Verfassungsschutz. Die Tatsache an sich war selbstverständlich; was uns ärgerte, war der Umstand, daß uns die Literaturreferentin des Kultussenators, die unsere Arbeit eigentlich hätte fordern sollen, die Spitzel ins Haus geschickt hatte. Ich erwähne das hier nicht, um mich nachträglich zum Märtyrer zu stilisieren, sondern um künftigen Literatursoziologen eine Anregung zu geben; vor allem aber, um junge Autoren zu warnen: sie sollten sich nicht am Evangelimann orientieren (»Selig sind, die Verfolgung leiden«), sondern lieber an einem Vers von Paul Scheerbart: »Charakter ist nur Eigensinn, es lebe die Zigeunerin!« Senat, Gruppe 47 und Presse bilden in der Berliner Kulturpolitik seit langem ein unentwirrbar ineinander verfilztes Etwas, ein unenträtselbares kafkaeskes Spulenwesen Odradek – Allegorie für die Korruptheit einer endzeitlichen Welt. Dabei war es jahrelang der bewährte Roßtäuschertrick der Dunkelmänner um H. W. Richter, wechselnde Einladungen statt fester Mitgliedschaften zu praktizieren, also im Unklaren zu lassen, wer dazugehörte. Nachdem dieser Trick allmählich durchschaut wird, behauptet die Gruppe jetzt, nach ihrer Vollversammlung am l. Mai 1972 in Berlin, sie habe sich aufgelöst, um nach wie vor ungestört im Trüben fischen zu können. Wie die Presse dieses Manöver mitmacht, zeigt der symptomatische Artikel einer jüngeren Dame, die sich Sibylle Wirsing nennt, aber nicht so heißt. Ihr Kommentar (im Berliner »Tagesspiegel« vom 4. 10. 1972) muß quasi übersetzt werden, aus der Sprache der Manipulateure in die der Manipulierten. Der Einfachheit halber seien Original und Übersetzung gegenübergestellt:

Sibylle Wirsing:

In der ausführlichen Sendung des Dritten Programms »Die Gruppe 47, 1947 – 1972« hörte man nun von dem Mentor Hans Werner Richter auf die Frage, ob die Gruppe noch bestehe und Bestand haben werde: »Die ›Gruppe 47‹ gehört der Vergangenheit an.«
 

 

Klaus M. Rarisch:

Das in Westberlin produzierte 3. Fernsehprogramm, seit eh und je den 47ern hörig, sendete wie nicht anders zu erwarten die Aufzeichnung der letzten Gruppentagung in ermüdender Ausführlichkeit; dabei war die einzige kulturpolitische Neuigkeit, die über belanglosen Gruppenklatsch hinausging, die von Richter unverfroren geäußerte Lüge: »Die ›Gruppe 47‹ gehört der Vergangenheit an.«


Denn ein Stilprogramm, das mehr sein will als allenfalls ein Vorschlag und ein Versuch, ist doch schon wieder eine diktatorische Maßnahme. Die »Gruppe 47« hat sich indessen zu keiner Stil-Clique verfestigt. Entsprechend dem Willen von Hans Werner Richter gab es keinen geschlossenen 47er Kreis. Es gab keine Mitgliedschaft auf Dauer, sondern immer nur, von Mal zu Mal wechselnd, persönliche Einladungen. Die Macht, die der stets regenerationsfähigen Gruppe zuwuchs, hing mit den engen Verbindungen zusammen, die sie im Laufe der Jahre mit den Literaturkritikern und den Verlegern eingegangen war.

 


Ein Stilprogramm erfordert künstlerische Zusammenarbeit und gemeinsame ästhetische Bemühung; dazu hatte die Gruppe 47 nie Zeit, denn sie wollte sich ja zu einer Macht-Clique verfestigen. Mangels anderer gemeinsamer Interessen als rein kommerzieller gab es keinen geschlossenen 47er Kreis, sondern immer nur, je nach den wechselnden ökonomischen Konstellationen, persönliche Einladungen. Die Macht, die sich die stets opportunistische Gruppe erschlich, beruhte auf ihren nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit organisierten Beziehungen zu Literaturkritikern und Verlegern.


Für die einen ist die »Gruppe 47« heute eine verlorene Heimat, für die anderen eine überlebte Elite-Organisation.

 


Für die Außenstehenden ist die Gruppe 47 heute ein raffiniert getarntes Oligopol.


Nüchtern faktisch sahen die verlagsversierten Gesprächspartner, Jürgen Kolbe und Fritz J. Raddatz, die Situation: Mit der Wandlung des verlegerischen Gewerbes, der Abwendung von der Literaturpflege und der Hinwendung zum Bücher-Management, sei die wesentlich protektive Funktion der Gruppe gegenstandslos geworden. Wie fragwürdig ein Fortleben der Gruppe aus internen Gründen wäre, deutete Hans Werner Richter an, als er darauf hinwies, daß sich mit der Verschärfung des politischen Bewußtseins gegen Ende der 60er Jahre innerhalb der Gruppe eine Tendenz zum kritischen Rigorismus angebahnt habe und die ästhetische Prüfung der Texte mehr und mehr einer Prüfung des politischen Gewissens gewichen sei.

 


Die Vertreter der etablierten Verlage, Kolbe und Raddatz, ließen zynisch durchblicken, daß das Niveau ihrer Produktion inzwischen sogar unter den Standard der Gruppe 47 gesunken sei; damit seien die Manipulationspraktiken der 47er entbehrlich geworden. Die Anpassungsschwierigkeiten eines politischen Opportunisten deutete Richter an, als er darauf hinwies, daß innerhalb der Gruppe seit Ende der 60er Jahre zunehmend mit pseudolinken Argumenten kritisiert werde, wogegen das von ihm selbst bevorzugte ästhetizistische Geschwätz nicht mehr ankomme.


So gehört zu Richters historischem Verdienst vermutlich nicht nur die Initiative, durch die Gruppen-Kommunikation Literatur gefördert zu haben, sondern auch, durch die Stillegung der Gruppe eine mögliche Diktatur verhindert zu haben.

 


Was immer Richter tut, ist wohlgetan: ob er nun seiner Gruppe als Manager dient oder ob er die Existenz eben dieser Gruppe abstreitet – ihm gereicht alles zu »historischem Verdienst«; von dem pekuniären Verdienst, der ihm und der Gruppe »zuwuchs«, ganz zu schweigen.

Bevor sie für einige Zeit pausierte, erlebte die Gruppe 47 Mitte der 60er Jahre ihren großen Auftritt in Princeton/USA. Bei dieser Tagung wurde aber auch zum ersten Male Widerspruch gegen die autoritäre Art der Diskussionsleitung durch H. W. Richter laut. Der Augenblick war psychologisch geschickt gewählt: Die jungen Schriftsteller, die sich jahrelang in der Hoffnung auf Protektion nicht nur der Kritik der etablierten Gruppenmitglieder gestellt, sondern sich auch ihrem dogmatischen Unfehlbarkeitsanspruch nolens volens gebeugt hatten, begannen zu zweifeln und den Tagungen fernzubleiben. Der Nachwuchs fing an, knapp zu werden. Die Gruppe brauchte dringend eine Blutzufuhr und hoffte heimlich auf rebellische, aber andererseits natürlich wiederum auch nicht allzu scharfe Töne aus der jüngeren Generation, um das Signal zum Kurswechsel geben zu können. Der nun die sanfte Rebellion artikulierte, wies sich schon durch seine provozierende Haartracht als dezidierter Vertreter der sogenannten Nachwuchs-Literatur aus. Es war Peter Handke, der damit auf einen Schlag bekannt wurde: die Publikumsbeschimpfung war geglückt! Einer von der alten Garde, der in diesem Moment mit Hebbels Meister Anton hätte ausrufen können: »Ich verstehe die Welt nicht mehr!«, war Walter Höllerer, ordentlicher Professor der Technischen Universität Berlin, Direktor des Literarischen Colloquiums Berlin und Träger des Westberliner Fontanepreises. Wie weiland Landgraf Hermann von Thüringen die Minnesänger auf der Wartburg um sich scharend, hatte Höllerer seit 1959 die Nachwuchstalente nach Berlin gezogen, hatte sie später in seinem Gästehaus am Wannsee auf Senatskosten beherbergt, beköstigt, subventioniert und im Verfassen von Literatur jeder Art unterwiesen – und das alles, um nun erleben zu müssen, daß ein Außenseiter aus Österreich, der nie durch seine Schule gegangen war, in Amerika das große Wort führen durfte! Verständlich, daß ihn da die Sorge des Hausvaters befiel.

    Die Sorge des Hausvaters

    Blick ich umher in diesem edlen Kreise:
    da sitzen sie in meinem Gästehaus,
    so viel der Knaben, tapfer, deutsch und weise,
    und dichten kühn auf Höllerer komm raus!

    All dies geschieht nur zu Fontanes Preise,
    und die verdiente Ehrung bleibt nicht aus.
    So führt mich nach der Neuen Welt die Reise,
    da wachse ich noch über mich hinaus.

    Doch eh der Morgen tagt, bin ich verzagt:
    ein Langhaarjüngling wagt, was mir versagt:
    die Publikums- (Gott sei ’s geklagt!) Beschimpfung!

    Du Wicht! Nie hast du meine Lust geteilt,
    hast nicht als Gast im Gästehaus geweilt ...
    Ich fühl ’s: die Poesie krankt an Verpimpfung!

Inzwischen hat Professor Höllerer seinen Handke-Schock längst überwunden und die unzähligen Jungautoren, die ihm seitdem aus Österreich zugewachsen sind, erfolgreich und nahtlos in das Literarische Colloquium integriert.

Wie oft wurde uns schon der Untergang des christlichen Abendlandes prophezeit – aber siehe, seine sittlichen Grundpfeiler: Staat und Kirche, Familie und Privateigentum, Militär und Polizei, Justiz und Jugendschutz, sie alle stehen unerschütterlicher denn je. Der ideologische Überbau ist zum Betthimmel im staatlich bewachten Eheschlafzimmer umfunktioniert worden. Die klassischen Dichter, einst des deutschen Bildungsbürgers liebster Besitz, existieren in unserem Bewußtsein nur noch als Gespenster, die hinter unverständlichen, ausgehöhlten und pervertierten Idealen herjagen. Sie sind uns so fremd geworden wie etwa Turnvater Jahn oder Marschall Blücher, die doch für unsere Väter oder Großväter noch irgendetwas bedeutet haben müssen. An ihre Stelle sind für uns Vaterflguren anderer Art getreten: im besten Falle Herbert Wehner, schlimmstenfalls Pater Leppich – so oder so eine trostlose Alternative. Wozu soll da noch die Poesie gut sein? Laßt doch die Modedichter von heute ihre sterilen Lobgesänge auf die Demokratie oder je nach Bedarf auf diesen oder jenen Musterdemokraten intonieren. Und die Revolution? Die ist vom Büchner auf den Grass gekommen.

    Das gerettete Abendland

    Kalte Krieger tragen Kutten,
    alte Nutten tragen Krieger,
    überm Bette balzen Putten,
    überall bleibt Amor Sieger,
    Syphilis frißt Linksabbieger,
    liquidiert wird Ulrich Hutten.
    Väter turnen über Mütter,
    schlecken, schlingen, schlucken, schlürfen –
    darauf einen Magenbitter!
    Väter müssen. Söhne dürfen
    später nach Salpeter schürfen ...
    Schiller sucht Malteserritter,
    Goethe sucht Kartoffelkäfer;
    Vater Jahn scheucht Untertanen
    zur Partei der Pegnitzschäfer;
    Veteranen küssen Fahnen-
    tücher ihrer Blücherahnen.
    Morgen kommt der Siebenschläfer!
    Volkswartbund und Leppichs Massen,
    Vera Brühne zu entsühnen,
    sonntags nie von Christus lassen.
    Muttergottes lächelt ihnen,
    Ablaß blüht aus den Ruinen,
    wenn sie dolce vita hassen.
    SPD schließt Konkordate,
    Notstand ist ein frommes Werk.
    Atheisten winseln Gnade:
    »Wehner, grauser Todeszwerg,
    schlugest uns bei Godesberg!«
    ... Büchner-Grass wird Erzprälate.


Seite 13–24 in
IG Papier & Schreibmaschine
Junge Autoren zur Lage … Die Lage junger Autoren

Herausgegeben von Wolfgang Fienhold
Starnberg: Werner Raith Verlag 1973


Rechte bei Klaus M. Rarisch