Der Virtuose unter den etablierten deutschen Gegenwartslyrikern ist Peter Rühmkorf. Seine gesammelten Schriften zur Poetik umfassen Aufsätze, Reden, Rezensionen und Briefe aus den Jahren 1962 bis 1978, wobei man Quellenangaben über die jeweiligen Erstveröffentlichungen vermißt. Dreierlei macht Rühmkorfs neues Buch lesenswert: zum ersten verrät es viel über seine Vorbilder, sein technisches Know-how, über Arbeitsbedingungen und Zielvorstellungen seiner Lyrik; zum anderen besticht der Autor durch die Grobheit, mit der er die polit-frustrierte Erwartungshaltung mancher Leser enttäuscht; und letztlich fasziniert das Buch noch da, wo es verschweigt oder verschweigen muß, weil sich sein Urheber damit abgrenzen will wie denn der Schweizer im Vergleich zu anderem Käse sich durch seine Löcher definiert. Oder, um es weniger anrüchig zu sagen: Wie es im Schach vorzügliche Angriffsspieler gibt, die sich in der eigenen Deckung gefährliche »Löcher« leisten, was den farblosen Defensivstrategen nie beikommen würde. Das Geleitkapitel, kokett ans Ende des Bandes gesetzt, spricht mit dem allerletzten Wort aus, wovon der Autor handelt: von »Artistik«. Daß dieser Formulierungskünstler, Versjongleur und Wortartist, ideologisch in der Luft hängend, seine tödlichen Saltos in der Zirkuskuppel boden- und ratlos vollführt, unbeachtet vom Publikum, das sich lieber an gitarreklimpernden Stimmungsbarden ergötzt, zeigt allerdings das ganze Buch Zeile für Zeile. Höchstform erreicht Rühmkorf denn auch mit der Analyse des kommerzialisierten Wolf Biermann, des »geschulten Schmerzensmannes«, den »eine unkritische Affenliebe« hierzulande »jahrelang in Zuckerwatte eingesponnen« hatte, bis man ihn nach seiner selbstprovozierten Ausbürgerung 1976 insgeheim in die DDR zurückwünschte, während ihm Rühmkorf den Platz hier bei uns neben Reinhard Mey oder den beiden Udos von Herzen gönnt. Wohlgemerkt: Kritikwürdig ist für Rühmkort nicht Biermanns Gesinnung, sondern die Plattheit ihrer Artikulation. Attackiert wird nicht die politische Melodie, sondern ihr immer flacher werdendes Arrangement. Vielleicht mußte Biermann, einst zur Symbolfigur innerkommunistischer Opposition verklärt, sich auf der kapitalistischen Kulturszene als »ausgebuffter Selbstzerfleischungsdarsteller« etablieren? Fragt sich nur, wie sich Rühmkorf als Mann des Widerspruchs selbst etablieren konnte. Mit Recht distanziert er sich gleich eingangs von der »perfekten Mittelmäßigkeit« der nachkriegsdeutschen Poesie; mit Recht ordnet er die bundesdeutsche Lyrik in den »zeit-, gegenstands- und bedingungslosen Enthaltsamkeitsbezirk des derzeitig abendländischen Kunstquietismus« ein. Was die dezidierten Quietisten nie gestört hat, es gehört zu Rühmkorfs traumatischen Urerfahrungen: das »Erschrecken vor der Wirkungslosigkeit des dichterischen Wortes«. Nur aus diesem Trauma erklären sich die Keulenhiebe, die der sonst das elegante Florett bevorzugende Polemiker auf die »Damen und Herren Studierenden der Literaturwissenschaft« niedersausen läßt, deren »Traum von einer Diktatur des Proletariats unter Anleitung der Intelligenz« er auf ein dogmatisches Banausentum zurückführt, das vom Gedicht Wirklichkeitsveränderung fordert, wo es bestenfalls zur Wahrheitsfindung beitragen kann. Verstiegene Ansprüche dieser Art weist er saugrob in die Schranken: »Man kann vom Ochsen nichts anderes als Rindfleisch und vom Gedicht kein Corned beef verlangen, es ist ja gerade die ästhetische Kompensation des nicht vorhandenen Rindfleisches«. Für ihn ist das Gedicht, bescheidener- und ehrlicherweise, »eine Interessenvertretung des Ich«, was nichts mit dem interesselosen Wohlgefallen am Kunstschönen einer bürgerlich-idealistischen Ästhetik zu tun hat. Wie eine Literatur durch Vertreter ganz anderer handfester Interessen systemkonform manipuliert, korrumpiert und ruiniert werden kann, dafür steht bei uns die Firma »Gruppe 47«. Rühmkorf jedoch bringt das Kunststück fertig, diesen ominösen Klub mit seiner eitlen Kahlschlagideologie in seinem Buch nur einmal und auch da nur beiläufig zu erwähnen. Er stellt sich dieser Strömung indirekt entgegen: indem er immer wieder eine »schöpferische Revision des deutschen Expressionismus« fordert, die eben auf Betreiben der 47er nicht stattgefunden hat. Rühmkort übt notwendige Wiedergutmachung mit wechselndem Glück: erhellend seine Ehrenrettung Gottfried Benns, den er als Vaterflgur mit der Haßliebe des verlorenen Sohnes analysiert; blaß dagegen etwa seine Interpretation des berühmten Achtzeilers »Weltende« des Jakob van Hoddis, den er nicht tief genug auslotet. Grotesk verzerrt die flüchtige Skizze über Mondgedichte mit der Mißdeutung von Arno Holz; subtil-widersprüchlich dann wiederum die Kommentare zur eigenen Parodietechnik, die Selbstdarstellung als literarischer Abdecker, wie auch die unausgesprochene Identifikation mit dem als Parodisten bisher kaum entdeckten Ringelnatz. Anläßlich einer Rezension von Conradys Anthologie »Das große deutsche Gedichtbuch« vermißt Rühmkorf zwar Beiträge zweitklassiger Zeltgenossen, die kürzlich als Vertreter einer »Neuen Subjektivität« hochgelobt wurden; daß dagegen zwei Dutzend beste Dadaisten und Expressionisten (von Hugo Ball über Johannes R. Becher, Richard Huelsenbeck, Rudolf Leonhard und Gustav Sack bis zu Alfred Wolfenstein) bei Conrady fehlen, übersieht er. An gleicher Stelle zählt er »im Augenblick acht überragende Schwergewichtler« unserer Lyrik aber die Namen dieser acht verschweigt er. Aus kollegialer Rücksichtnahme? Um achtzig andere nicht zu kränken? Daß Rühmkorf auch ein Verlagsgutachten von 1976 abdruckt, das er als Rowohlt-Lektor über ein so niemals erschienenes Gedichtmanuskript von Reiner Kunze erstattete, ist Geschmackssache und als solche nicht diskutabel. Immerhin wird man daran erinnert, daß er in seiner ganzen Lektorenzeit keine einzige Entdeckung präsentieren konnte. Über die verlagsinternen Zwänge, die das verhinderten, hätte man gern Näheres von einem Insider erfahren aber Rühmkort schweigt. Hat er wirklich schon resigniert : »Müde vom täglichen Kampf gegen die literarische Prostitution?« 1963 sah Rühmkorf die »Vertrauenswürdigkeit der Poesiekritik« durch die berüchtigten »unausgesprochenen Stillhalteabkommen« der einander lobhudelnden Lyriker gefährdet und plädierte für »polemische Ausfälle einzelner streitbarer Geister«, zu denen er damals zweifellos gehörte. In dem nachgeschobenen Geleitwort von 1978 entschuldigt er sich für vermeintliche frühere Irrtümer: die »leichtfertig schroffe Abfertigung Helmut Heissenbüttels«, die »zeitweilige Unterschätzung Ernst Jandls« und die »mittlerwelle ein wenig vergilbten Vorbehalte gegenüber Hans Magnus Enzensbergers Gedichten«. Hätte er doch lieber für seine leichtfertige, vergilbte Überschätzung der Professorenlyrik Walter Höllerers um Pardon gebeten, in dem er 1962 »unter Ausnahmen eine besondere Ausnahme« zu erkennen glaubte. Man sieht: Ein Mann wird älter. So viel Ausgewogenheit mag einen Geheimrat in Weimar geziert haben bleibt sie aber der Weisheit letzter Schluß auch für den abgeklärten Aufklärer, als den sich Rühmkort hier zu stilisieren beliebt? Klaus M. Rarisch die horen, Nr. 114, 2. Quartal 1979
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