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Staat und Kunst

Hätte der Staat zur Kunst nur ein Verhältnis wie der sprichwörtliche Blinde zur Farbe, wäre zu dem Thema weiter nichts zu sagen. Die Realität ist aber viel schlimmer. Wer sein halbes Leben in West-Berlin verbracht hat, kann ein ganz besonders trauriges Lied von staatlicher Kunstpolitik singen. Hier versuchten zu Frontstadtzeiten die Kalten Krieger der CDU, begünstigt vom kulturellen Desinteresse der SPD, das geistige Klima der Stadt auf ihr Zwergschulniveau herabzuziehen. Die saftigsten Erfolge konnte dabei der langjährige Kultussenator Tiburtius verbuchen, den der Kritikerpapst Friedrich Luft 1967 in einem Nachruf als »Vaterfigur« feierte. Ohne expressionistisch zum Vatermord aufgerufen zu haben, hätte man sich doch zum Exitus einer solchen Gestalt gratulieren können, wüßte man nicht: Die Senatoren kommen und gehen, aber die Misere bleibt bestehen. Auf das Konto von Tiburtius gingen so verdienstvolle Taten wie: ein Auftrittsverbot für den zu Lebzeiten weltbesten Geiger David Oistrach (der den unverzeihlichen Charakterfehler besaß, Sowjetbürger zu sein), die Vertreibung des Dirigenten Erich Kleiber aus West-Berlin (Kleiber hatte entscheidenden Anteil am Wiederaufbau des Knobelsdorffschen Staatsoperngebäudes im Osten der Stadt), Diskriminierungen gegen die Opernsänger Josef Herrmann und Margarete Klose (die sich weigerten, ihre Verträge mit Ost-Berlin zu lösen, woraufhin sie aus der West-Berliner Oper verjagt wurden).

Man erinnere sich auch daran, daß – obwohl die Katholiken hier eine Minderheit darstellen – die publikumswirksame deutsche Erstaufführung des antiklerikalen Stückes »Die Teufel« von John Whiting 1962 auf Betreiben des katholischen »Petrusblattes« vom Spielplan des West-Berliner städtischen Schillertheaters abgesetzt wurde. Auch Jean Genets gegen die Grausamkeiten des Algerienkrieges gerichtete »Wände« verschwanden 1961 – obwohl ebenso aufwendig wie erfolgreich inszeniert – kurz nach der Premiere in der Versenkung des ebenfalls städtischen Schloßparktheaters. Daß die französische Besatzungsmacht gegen die Aufführung protestiert hatte, dürfte den Kulturpäpsten sehr gelegen gekommen sein; die offizielle Begründung des Chefdramaturgen Albert Bessler für die Absetzung zeugte jedenfalls von kläglicher Heuchelei: die Hauptdarstellerin müsse Urlaub machen (als ob dem wohldotierten Hause eine zweite Besetzung unmöglich gewesen wäre). Schließlich: als nach dem Bau der »Schandmauer« 1961 zum Boykott gegen Bert Brecht gehetzt wurde, machte Indendant Boleslaw Barlog treulich mit – angeblich aus Furcht, man würde ihm sonst die Bestuhlung kurz und klein schlagen.

    (Wichtiges, sonst schwer zugängliches Hintergrundmaterial bietet die marxistisch orientierte Studie von Henning Müller, Theater im Zeichen des Kalten Krieges – Untersuchungen zur Theater- und Kulturpolitik in den Westsektoren Berlins 1945 – 1953, phil. Diss. FU Berlin 1976.)

Nun könnte man die Frage stellen, mit welchem Recht denn der Staat überhaupt Kulturpolitik treibt, d.h. auf die Entwicklung von Kunst und Wissenschaft direkt oder indirekt, hemmend oder fördernd Einfluß nimmt. Die Betrachtung einer juristischen Dissertation mag zur Lösung des Problems beitragen. Daß die Arbeit von Frieder Schäuble, Rechtsprobleme der staatlichen Kunstförderung, jur. Diss. Freiburg 1965, nicht im Buchhandel erschienen und noch dazu etliche Jahre alt ist, macht sie nicht überflüssig, zumal fundierte Äußerungen zu dieser für die Literatur existentiellen Frage nicht gerade häufig sind.

Die Arbeit von Schäuble zeigt zweierlei: erstens, daß ein gutwilliger junger Jurist durchaus imstande ist, skandalöse Auswüchse der staatlichen Kulturpolitik zu kritisieren. Dies zwar im maßvollen Ton der wissenschaftlich gebotenen Sachlichkeit, aber darum nicht weniger entschieden. So nennt Schäuble die Dinge auf dem Filmsektor beim Namen: die »Wirkungszensur der Freiwilligen Selbstkontrolle« ist »verfassungswidrig« (S. 194); ebenso berechtigt wird auf den »Zensurgesichtspunkt« bei der Filmbewertungsstelle hingewiesen (S. 245). Durch eine Detailuntersuchung der Vergabebestimmungen für die Kunstpreise der Bundesländer gelingt Schäuble in mehreren Fällen der Nachweis ihrer Illegalität. Zum Kunstpreis des christlich regierten Landes Rheinland-Pfalz bemerkt er mit dankenswerter Klarheit: »Unzulässig ist ... die Vorschrift, daß bei der Beurteilung des künstlerischen Gesamtschaffens zu berücksichtigen ist, ob das Gesamtwerk des Künstlers Anerkennung in der Öffentlichkeit gefunden hat« (S. 227). Das gleiche gilt für den Kunstpreis des Saarlandes (S. 227 f.). Eben dies, nämlich die öffentliche Anerkennung eines abgeschlossenen Gesamtwerkes, ist in der Praxis das entscheidende Kriterium für die Preisverleihung, wodurch sich der affirmative Charakter dieser Praxis demaskiert: von einer Förderung junger Talente, die sich ja in aller Regel noch nicht durchsetzen konnten und die darum eine Unterstützung am nötigsten hätten, kann also nicht die Rede sein. Ein weiterer Stein des Anstoßes ist für den Verfasser die Zusammensetzung der Juries, in denen Beamte zwar prinzipiell nichts zu suchen haben, trotzdem aber oft – etwas außerhalb der Legalität – mitbestimmen. Gegen diese Praxis muckt Schäuble meistens nur gedämpft auf, bezeichnet aber wenigstens den Kunstpreis von Schleswig-Holstein aus diesem Grunde als verfassungswidrig (S. 228).

Die kommunale Kulturpolitik wird in Schäubles Untersuchung leider wegen ihrer Unübersichtlichkeit ausgeklammert. Aber auch die Kommunen verleihen Preise und praktizieren damit politische Macht, graduell zwar weniger intensiv, jedoch prinzipiell genauso arrogant wie etwa das Nobelpreis-Komitee mit seiner unaufhörlichen Folge von Fehlentscheidungen. So heißt der erste Träger des 1972 gestifteten Heine-Preises der Stadt Düsseldorf Carl Zuckmayer. Warum? Ein Beitrag des Ausgezeichneten zu der ebenfalls 1972 erschienenen Anthologie »Geständnisse. Heine im Bewußtsein heutiger Autoren« dürfte die Frage beantworten. Zuckmayers Aufsatz lautet ungekürzt:

»Ich konnte zu Heine, bei aller Bewunderung seiner brillanten Intelligenz und seines dichterischen Vermögens, nie ein Verhältnis finden.«

Weil Heines Geburtsstadt ihrerseits nie ein Verhältnis zu ihrem größten Sohn finden konnte, mußte für sie folgerichtig Zuckmayer als Preisträger prädestiniert sein.

All dies sind jedoch Extremfälle (kultur-)politischer Willkür, über die das Verdammungsurteil eines jeden Kundigen gar nicht ausbleiben kann. Ganz anders steht es mit der zentralen Frage, worauf denn der Staat seine Anmaßung gründet, künstlerische oder literarische Leistungen zu beurteilen und sie dementsprechend einerseits durch Preise, Aufträge und Stipendien zu belohnen, andererseits durch Ignorierung zu bestrafen. Es ist die zweite fundamentale Erkenntnis, die Schäubles Arbeit exemplarisch vermittelt: daß die juristische Deduktion, und sei sie noch so eifrig auf die Orakelsprüche des Bonner Grundgesetzes fixiert, hier offenbar für eine Lösung nicht kompetent sein kann. Schäuble erkennt zwar einleitend: »der Staat kann die Kunst hemmen« (S. 3) und »darf keine Kunstpolitik treiben« (S. 5). Die Dissertation selbst aber bleibt weitgehend eine Apologie eben dieses unzulässigen, in der Praxis jedoch desto heftiger betriebenen kulturpolitischen Gottesgnadentums. Das zeigt sich deutlich, wenn Schäuble die Rückzahlung von einmal zuerkannten Kunstpreisen »in Anlehnung an die Bestimmungen über die Entziehung von Titeln, Orden und Ehrenzeichen« regeln will (S. 205 f.): demnach wäre die staatliche Kunstförderung eine Art von Trostpflaster für die höheren Weihen des Bundesverdienstkreuzes, die zu empfangen ein simpler Künstler vom Staat im allgemeinen nicht für würdig befunden wird. Schäubles Definitionsversuch der Kunst, zu dem er durch die Unbestimmtheit von Art. 5 Abs. 3 GG genötigt wird, ist – wie alle anderen vor und nach ihm – mißlungen, und zwar deshalb, weil er einen einseitig symbolistischen Kunstbegriff zugrundelegt (S. 20), in den auch noch ein kräftiger Schuß völkischer Ideologie eingegangen ist: »Die Existenz des Künstlers wurzelt in der Gemeinschaft; daraus erwachsen seiner künstlerischen Freiheit, so weitreichend sie auch sein mag, Grenzen« (S. 6 f.).

Zu welch grotesken Resultaten dieses Denkschema führt, wird offenbar, wenn Schäuble das kreative Subjekt aus dem künstlerischen Prozeß wegeskamotiert: »Es muß ... fraglich erscheinen, ob der Künstler selbst jenes menschliche Individuum sein kann, welches den Gegenstand zu einem Kunstwerk macht ... Von daher ließe sich deduzieren, daß der Künstler als derjenige, der zum Vorhandensein des Kunstwerks wesensnotwendig ist, auszuschließen sei« (S. 46). Die sachliche Voraussetzung für jede gerechte Kunstförderung, nämlich die Kompetenz des Mäzens zum ästhetischen Wert- bzw. Unwerturteil, nimmt Schäuble unkritisch als gegeben hin. Zwar untersage das Grundrecht der Kunstfreiheit »dem Staat ein Urteil über den Grad künstlerischer Vervollkommnung« (S. 63), indessen sei bei staatlichen Leistungen an Private »die Skala berechtigter Differenzierungsmöglichkeiten so groß, daß der Gleichheitsgrundsatz selten verletzt sein kann« (S. 167). Nach welchen Kriterien aber – wenn die ästhetischen nicht anzuwenden sind – sollte der Staat wohl »berechtigt« differenzieren können? Und wie, wenn die Differenzierung so weit geht, einige (oder auch nur einen einzigen) Künstler von jeder Förderung auszuschließen? Im ökonomischen Bereich wäre das als Wettbewerbsverzerrung verpönt. Schäuble gibt zu: »nicht nur die Verweigerung solcher Leistungen« (Subventionen) »wirkt sich als ein Eingriff aus, den gleichen Effekt hat die einseitige Unterstützung eines Konkurrenten im Wirtschaftsleben« (S. 149); er sagt auch im Einklang mit der sogenannten herrschenden Lehre: »Wo die staatliche Leistung an einen Begünstigten zugleich eine Beeinträchtigung eines Konkurrenten bewirkt, liegt ein Eingriff in dessen Individualsphäre vor« (S. 166). Was aber dem Unternehmer recht ist, braucht dem Künstler noch lange nicht billig zu sein, dessen Individualsphäre nach Schäubles Ansicht des rechtlichen Schutzes nicht bedarf, denn Konkurrenz im Kulturbetrieb »ist eben nicht typisch« (S. 168) – weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Und damit basta!

Im übrigen huldigt Schäuble der »Annahme, daß ... von seiten der Förderer nur selten direkt in das künstlerische Bestreben eingegriffen wird« (S. 193). Überall dort behilft sich Schäuble mit ideologisch motivierten Annahmen, wo die Literatur- und Kunstsoziologie längst gegenteilige Befunde erbracht hat. So mutmaßt er, manche Verleger gewährten »jungen Schriftstellern zur Vollendung eines Werkes hie und da ein Stipendium« (S. 197, Anm. 119), während es sich in der Praxis – selten genug! – bestenfalls um Vorschüsse auf künftige Honorare oder Tantiemen handelt. Von historisch überholten Voraussetzungen geht er auch bei der Beurteilung des Volksbühnenunwesens aus, wenn er zwar erkennt, daß diese Institutionen oftmals »eher eine Belastung für das Theater« bedeuten, dies aber mit »sozialen Erwägungen« rechtfertigt (S. 98) – als ob die Volksbühne heute noch eine soziale Funktion hätte und nicht lediglich das fatale Talent, sich aufgrund einer entsprechenden Phraseologie subventionieren zu lassen! Es sei noch ein bemerkenswerter Lapsus notiert, den Freud in seine Musterkollektion aufgenommen haben würde. Schäuble meint (S. 126), Zuschüsse an einzelne Künstler seien rechtlich nicht als Maßnahmen der Sozialhilfe zu qualifizieren, »auch wenn sie deren Lebensunterhalb (!) gewährleisten«.

Welche dialektischen Purzelbäume der Staat angesichts der Kunst zu schlagen vermag, zeigt der Fall Wolf Biermann. Gemeint ist nicht seine Ausbürgerung aus der DDR im November 1976; daß eine sich zuweilen atheistisch gebärdende Regierung plötzlich auf das stockkatholische Ritual der Exkommunikation zurückgreifen zu müssen glaubt, ist wie alle Glaubensdinge nicht diskutabel – auch Biermanns Glaube an das sozialistische Dogma wird daraus zweifellos nur neue Stärkung ziehen. Gemeint ist vielmehr seine ambivalente Haltung zur westlichen Linken, genauer: zur APO der sechziger Jahre (für Vergeßliche: APO = Außerparlamentarische Opposition).

Nach dem mißlungenen Attentat auf den APO-Führer Dutschke schrieb Biermann das Lied »Drei Kugeln auf Rudi Dutschke« (Mit Marx- und Engelszungen, Verlag Klaus Wagenbach, West-Berlin 1968, S. 73-75), in dem als »Schütze« auch auf den Regierenden Bürgermeister von West-Berlin Klaus Schütz angespielt wird:

»Des zweiten Schusses Schütze
Im Schöneberger Haus
Sein Mund war ja die Mündung
Da kam die Kugel raus«

Wie Zuckmayer zu Heine – geschweige denn zu den heutigen Düsseldorfer Stadtvätern – »nie ein Verhältnis« gefunden hat, dürfte demnach auch Klaus Schütz kaum die besondere Sympathie Biermanns gefunden haben. Und eben dies bewog Schütz dazu, Biermann den West-Berliner Fontanepreis des Jahres 1969 zu verleihen.

Die Zeremonie ging zur Mittagszeit des 18. März 1969 in der Eichengalerie des Charlottenburger Schlosses vonstatten. Der 18. März war übrigens ein Dienstag, also ein ganz gewöhnlicher Arbeitstag, so daß ganz gewöhnliche Proleten (oder im APO-Jargon: Lohnabhängige) nicht in Versuchung geführt wurden, die Feierstunde durch ihre Anwesenheit zu verunzieren (apoistisch: zu verunsichern).

Nun kann der Staat, in West-Berlin durch Schütz repräsentiert, wie gesagt, Preise verleihen, wann und an wen er will. Er bedient sich dazu einer »unabhängigen« Jury, die die Preisträger auswählt (nach welchen Kriterien immer) und ihnen, falls die Entscheidung politisch opportun ist, dann eine erbauliche Laudatio halten darf. Schlagen aber die Juroren den Falschen zur Auszeichnung vor (zum Exempel einen Mann, der als Staatsfeind gilt, wie vor aschgrauen Jahren – kurioserweise – Günter Grass in Bremen, dessen spätere SPD-Wahlkämpferkarriere damals noch nicht vorauszusehen war), können sie ohne weiteres durch loyalere Leute ersetzt werden. Eine öffentliche Kontrolle, gar eine gesellschaftliche Willensbildung von unten nach oben, auf die die APO so großen Wert legte, ist im System staatlicher Kunstpreise nicht vorgesehen. Doch Juroren sind ehrenwerte Männer, das sind sie alle, alle ehrenwert. Sie dürften in diesem Falle also als selbstverständlich vorausgesetzt haben, daß Biermann den Preis ablehnen werde.

Der aber schrieb seinem Verleger Klaus Wagenbach: »Lieber Verleger, der Preis gehört mir, das Geld gehört natürlich der APO.« Natürlich, denn Biermann ist ein ehrenwerter Mann. Ehrenmänner können mit ihrem Geld machen, was sie wollen. Sie können es sogar der APO schenken. Und weil die APO aus ehrenwerten Männern bestand, wird sie an das Sprichwort vom geschenkten Gaul gedacht haben. Und Gedanken sind frei, wie ein anderes Sprichwort sagt.

Nun bedürfen zwar nicht Sprichworte, wohl aber Dichterworte der Interpretation. Wenn der Dichter Biermann subtil zwischen Preis und Geld unterscheidet, erhebt sich die Frage, was von dem Preis übrig bleibt, wenn man das Geld verschenkt. Übrig bleibt aber die Ehre. Ehre wem Ehre gebührt, und Biermann ist ein ehrenwerter Mann. Jedes APO-Mitglied wird ihm diese Ehre gegönnt haben. Nur Walter Ulbricht, der bekanntlich zum Establishment gehörte, war anderer Meinung, und das mit Recht, denn eigentlich hätte ja ihm ein West-Berliner Staatspreis gebührt für seine unermüdlichen Beiträge zur Stabilisierung des westlichen Staatssystems. Es war also nur logisch, daß Ulbricht Biermann keine Ausreisegenehmigung nach West-Berlin erteilte. Und damit wäre der Staatsakt im Charlottenburger Schloß beinahe geplatzt, denn zu einer stilvollen Preisverleihung gehören ja zwei: einer der verleiht und einer der entgegennimmt.

Aber um ein letztes Sprichwort zu bemühen: Wenn die Not am größten, ist Gottes Hilf am nächsten. Als rettender deus ex machina in der Misere des verleihungswilligen Klaus Schütz tauchte unversehens der liebe Verleger Klaus Wagenbach auf und nahm entgegen. Jedoch nicht ohne stummen Protest, denn was ein richtiger APO-Verleger ist, versteht sich auf die hohe Kunst, einen Preis vom Bürgermeister anzunehmen, ohne dem dabei die Hand zu drücken. Das nennt man revolutionäre Taktik. Bald darauf fand Wagenbach auch die Sprache wieder, um seinen Protest zu artikulieren. In einem Zeitungsartikel post festum motzte er auf: »Und wenn staatliche Stellen weiterhin Kunstpreise vergeben wollen«, (sie wollen, Herr Wagenbach, denn das brauchen sie zu ihrer Selbstbestätigung) »so müssen sie sich auf Widerspruch gefaßt machen.«

Das verspätete Bekenntnis eines Verlegers am Scheidewege. Aber nützt uns das? Nein! Denn das schafft die Tatsache nicht aus der Welt, daß sich der West-Berliner Senat für lumpige zehntausend Mark ein kulturpolitisches Alibi ersten Ranges aufbauen konnte, dank der Mithilfe von Biermann und Wagenbach. Aber den also Geehrten ging es ja nicht ums Geld, sondern um die Ehre, die, so glaubten sie, der Staat ihnen ohne Gegenleistung zukommen lassen müßte. Die simpelsten Gesetze der politischen Ökonomie, deren Kenntnis man bei APO-Literaten voraussetzen sollte, hätten sie da eines Schlechteren belehren können. In unüberbietbarer Pseudonaivität schrieb Wagenbach in seinem Rechtfertigungsartikel: »Seit wann muß die Gesinnung mit der der Herrschenden übereinstimmen?« Seit es Herrschende gibt, die Preise verleihen, und Beherrschte, die sie annehmen! Oder konkreter: spätestens seit Wagenbach seinen Verlag gründete, seit er selber als Kunstpreisjuror füngierte und seit seinen Verlagsautoren mit schöner Regelmäßigkeit die West-Berliner Literaturpreise zuerkannt werden.

Und so werden sie auch in Zukunft unter sich bleiben, die ehrenwerten Männer vom Literaturestablishment, die sich stolz zur Linken zählen, so werden sie weiterhin staatliche Auszeichnungen einheimsen und anschließend, als nichtssagende Publikumsbeschimpfung und zur Verhöhnung der Leser, die sie für dumm verkaufen wollen, heuchlerischen »Widerspruch« androhen. Daß es auch anders geht, demonstrierte seinerzeit der Architekt Gerd Neumann, der den ihm zugedachten Preis ablehnte, um sich nicht durch eine offizielle Dekoration korrumpieren zu lassen. Seine Haltung war nicht »ehrenwert«, aber ehrlich.

Meine Parodie »Zehn Mille für Wolf Biermann« erschien zuerst (natürlich ohne den »Epilog 1976«) fast gleichzeitig in zwei Literaturzeitschriften (exitus, Heft 3, Mai 1969, und Die Hören, Nr. 75, Frühjahr 1969). Hier der Text:

ZEHN MILLE FÜR WOLF BIERMANN
Fontanepreis Westberlin 1969

Zehn Mille für Wölfchen Biermann
Eine mutige Tat vom Senat
Wir haben genau verstanden
Was das zu bedeuten hat


Ach Deutschland, deine Dichter!
Es ist das alte Lied
Schon wieder Ruhm und Preise
Was nimmst du an die Scheiße
Du weißt doch was Dir blüht!


Der erste Kommentar kam
Aus Springers Zeitungsreich:
Wie selbstlos der Senat ist!
Das macht die Leser weich


Ach Deutschland, deine Dichter!


Des Geldes Geldverschenker
Im Charlottenburger Schloß
Sein Image zu polieren
Zehn Mille kostet’s bloß


Ach Deutschland, deine Dichter!


Der Edel-Apo-Verleger
Verlegen stand dabei
Er lauschte der Laudatio
Von Skrupeln nicht ganz frei


Ach Deutschland, deine Dichter!


Zehn Mille für Wölfchen Biermann
Ihm galten sie nicht allein
Wenn wir uns jetzt nicht wehren
Wird alles käuflich sein


Ach Deutschland, deine Dichter!


Es haben die paar Herren
So viel schon korrumpiert
Statt daß sie Biermann kaufen
Gehörn sie abserviert!


Ach Deutschland, deine Dichter!


Epilog 1976

Man hat ihn ausgebürgert
Eine mutige Tat der Partei
Er kann es nicht verstehen
Er war dem Staat doch treu


Ach Deutschland, deine Dichter!
Es ist das alte Lied
Noch immer Staatsschikanen
Er mußte es doch ahnen
Was ihm von oben blüht!

Wagenbach fühlte sich daraufhin bemüßigt, mir am 31.5.1969 einen Brief zu schreiben, in dem es hieß: »Was hätte ich denn, nach Ihrer Meinung, tun sollen? Widersprechen, wie ich schrieb? (Habe ich gemacht) Mit der Trillerpfeife was veranstalten? (Habe ich gemacht) Herrn Schütz ohrfeigen? (Habe ich nicht gemacht) ... Was soll denn das heißen: den Preis – also nominell – nicht anzunehmen? Das heißt, daß der Senat DM 10.000,— im Säckel behält und einen neuen Wasserwerfer kaufen kann ...«

Ja, was hätte Wagenbach machen sollen? Den Preis nicht anzunehmen, hätte sicher keinen neuen Wasserwerfer bedeutet, denn der Betrag stand nun mal im Kultur- und nicht im Polizeietat. Der Senat hätte das Geld dann nolens volens einem anderen Autor zukommen lassen müssen – und womöglich gar einem von Wagenbach nicht verlegten! Daß Wagenbach dies nicht zulassen durfte, bedarf keiner weiteren Erörterung. Ebensowenig aber, daß der Preis an dem kleben bleibt, der ihn annimmt. Notleidende Schriftsteller, die Geld welcher Herkunft auch immer bitter nötig haben, können es sich nicht leisten, eine Staatsprämie mit hohler pathetischer Geste wegzuschenken. Wer aber auf Almosen nicht angewiesen ist, braucht sich keiner »staatlichen Kunstförderung« zu unterwerfen, durch die die Kunst korrumpiert und nur der Staat selbst gefördert wird. Eine Standard-Kurz-Laudatio à la Zuckmayer, zweckmäßig, prägnant und staatserhaltend, sollte für alle zukünftigen Preisverleihungen an Dichter (Musiker, Maler, Bildhauer etc.) gesetzlich vorgeschrieben werden:

»Ich konnte zu N.N., bei aller Bewunderung seiner brillanten Intelligenz und seines dichterischen (musikalischen, malerischen, bildhauerischen etc.) Vermögens, nie ein Verhältnis finden.«

Mit dem Geld, das dadurch für die bisherigen Festredner gespart würde, könnte der Staat dann neue Preise stiften, bis jeder Deutsche entweder als Beamter Preise verleiht oder als Künstler Preise entgegennimmt.

Klaus M. Rarisch

Aus:
Die Ungeduld auf dem Papier und andere Lebenszeichen
aufgespürt von Bodo Morshäuser und Jürgen Wellbrock
Berlin: edition der 2 1978

Rechte bei Klaus M. Rarisch