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Klaus M. Rarisch
Tristan Corbière
Paria und Ankokrignet

    Dem Andenken an Jean Bréjoux

Spricht man vom Einfluß der neueren französischen Lyrik auf die deutsche Literatur, so fallen todsicher die Namen Baudelaire, Mallarmé, Verlaine und Rimbaud. Wer aber liest noch – um nur wenige Versmeister aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herauszugreifen – den bescheidenen François Coppée, den sarkastischen Jules Laforgue, den zarten Albert Samain oder den melodischen Francis Vielé-Griffin? Und wer kennt wenigstens vom Hörensagen Tristan Corbière (1845–1875), dessen man sich doch spätestens aus Anlaß seines 100. Todestages 1975 auch in Deutschland hätte erinnern müssen?

Als Corbière, eigentlich mit dem vom Vater geerbten Vornamen Édouard behaftet, den er aber romantisierend durch «Tristan» ersetzt hatte, dreißigjährig starb, galt er als literarischer Geheimtip. Der Satanist Joris-Karl Huysmans beispielsweise reagierte hellsichtig auf die von Corbière ausstrahlende Faszination. In seinem 1884 erschienenen Roman «À rebours» (Gegen den Strich) präsentiert Huysmans als symptomatische Figur den dekadenten Ästheten des Esseintes, der sich monomanisch in die morbide Literatur des fin de siècle verbohrt. Corbière empfindet er als erbsündenträchtige Verlockung:

    … Tristan Corbière, der 1873 mitten in die allgemeine Gleichgültigkeit hinein eins der exzentrischsten Bücher geschleudert hatte: «Die gelben Liebschaften». Des Esseintes, der Banales und Gemeinplätze so stark haßte. daß er selbst die tollsten Narrheiten und barocksten Extravaganzen hingenommen hätte, verbrachte leichte Stunden mit diesem Buche, darin sich das Kecke mit einer unordentlichen Energie verband, darin überraschende Verse in vollkommen unverständlichen Gedichten aufleuchteten, etwa in den Litaneien des «Schlummers», den er bisweilen … «einen obszönen Beichtvater totgeborener Betschwestern» nannte. Es war kaum noch französisch; der Dichter sprach Kauderwelsch, schrieb im Telegrammstil, ließ Verba fort, scherzte, machte unerträgliche Witze – plötzlich aber wanden sich aus diesem Wirrwarr tolle Einfälle heraus, hüpfende Grimassen, und dann ein Schmerzensschrei, schrill wie eine Cellosaite, die reißt. Dazu blitzten mitten in diesem steinigen, willkürlichen und zusammenhanglosen Stil voll ungebräuchlicher Worte, unerwarteten Neubildungen und einsamen Versen, die keinen Reim hatten, prächtige Ausdrücke auf; außer seinen «Pariser Gedichten» hatte Tristan Corbière in einem Stil von fast bezwingender Klarheit das Bretonische Meer besungen (Joris-Karl Huysmans, Gegen den Strich, übersetzt von Hans Jacob, Potsdarn 1921, S. 183).

Nun, «vollkommen unverständlich» dünken uns die 94 Gedichte in Corbières einzigem Buch «Les amours jaunes» nicht, wohl aber dunkel, hermetisch, esoterisch, wie schon der Titel, denn – was sind «gelbe» Liebschaften? Eros auf das Gelbe zielend, auf das gelbsüchtig Kranke, vergilbend Welke wie zugleich auf das trübe Gelb ketzerbrandmarkender Judensterne, beides zur Synthese zwingend in der jähsteilirren Farbaggression van Goghscher Sonnenblumen. Zudem drückt diese Farbe in Frankreich falsche Gefühle aus (z.B. rire jaune – heuchlerisches Lachen). Gelb ist auch die Farbe des betrogenen Ehemannes, des Hahnreis (cocu). Corbière war eigentlich kein «cocu», aber er versuchte vergeblich, die Frau eines Freundes für sich zu gewinnen, verfolgte das Paar überallhin – und fühlte sich wohl auch in seinen Gedichten als Liebender verlacht, als ein Mensch, der sich schon um die bloße Möglichkeit der Liebe betrogen sah.

Schwer zu entziffern – selbst für französische Lyrikexperten wie Jean Bréjoux – sind allerdings Corbières maritime Verse, rauh wie der Ozean und mit nautischen Fachausdrücken bestückt; dunkel sind die seiner Heimat gewidmeten Gedichte, wenn sie Urworte der Bretagne wiederaufleben lassen. So mußte auch Bréjoux die «Ankokrignets» und «Kakous» erst aus dem Bretonischen ins Französische übersetzen, um Corbières Beschwörung der «zu Tode Zernagten» und «Aussätzigen» verständlich zu machen. Es erstaunt also nicht. daß unsere gängigen Anthologien ihn nicht kennen oder nicht nennen. Immerhin findet sich in dem Band «Französische Lyrik von Nerval bis zur Gegenwart» (herausgegeben von Flora Klee-Palyi. Wiesbaden 1958) die Übertragung eines zwölfzeiligen Corbière-Gedichtes von Lothar Klünner. Eine längst vergessene Auswahlübersetzung, der «Gelben Liebschaften» von Georg Schneider erschien 1948 bei Heinrich Ellermann in Hamburg. Will man sich aber näher über den Dichter informieren, muß man schon zu Kindlers Literatur-Lexikon greifen, das wenigstens in dem Supplements-Band Zuverlässiges bringt:

    Tristan Corbière war ein Sonderling, er war häßlich, er war krank (seit seinem sechzehnten Lebensjahr litt er an schwerem Gelenkrheumatismus, und er starb an der Schwindsucht); er liebte das Meer, sein Segelboot, seinen Hund (den er wie sich selber Tristan nannte); er verbrachte die längste Zeit seines Lebens in der heimatlichen Bretagne, unternahm eine größere Reise durch Italien und verkehrte eine Zeitlang in der Pariser Boheme … Nach seinem Tode entdeckte Paul Verlaine den bereits wieder Verschollenen; er eröffnete mit seinem Aufsatz über ihn seine Bildnisse der «verfemten Dichter» (poètes maudits) und leitete damit Corbières Einfluß auf den Symbolismus ein.

Dieser «Sonderling» (wie anders könnte ihn die liebenswerte Pedanterie des Lexikographen charakterisieren?) schuf unter dem Titel «Die Jahrrnarktssängerin und die Wallfahrt nach Sainte-Anne» eine große, 236 inspirierte Verse aufbietende Ballade, die in moritatenhafter Schärfe, al fresco, ein bitteres Bild von Elend, Scham und betrogener Hoffnung der wunderheilungsheischenden Pilgerscharen aus Kranken, Krüppeln, Bettlern, Säufern und Huren malt, wie sie sich nach La Salette, Lourdes, Montserrat – und eben nach La Palud in der Bretagne wälzten und (wer weiß, wie lange noch?) wälzen werden.

Wer Poesie nach ihrer Breitenwirkung beurteilt und ästhetische Kriterien mit Erfolgsziffern verwechselt, sollte sich sein Weltbild füglich von einer Figur wie Corbière nicht verwirren lassen. Leser, die Gedichtbände mit Sensationsauflagen suchen, sind in der Gesellschaft gitarreklimpernder Polit- und Stimmungsbarden Wolf Biermann ohnehin besser aufgehoben. Ihnen wird auch Corbières selbstverfaßter Nekrolog nichts sagen: Er starb und war gefaßt darauf zu leben – / Er lebte um dem Sterben zuzustreben.

Ätzendere Lyrik schrieb selbst Villon nicht, aber Corbières Wirkung blieb auch in Frankreich gering. Wie Jean-Pierre Rosnay, der Herausgeber der Taschenbuchausgabe von «Les amours jaunes» (Paris 1963) feststellte, hatte das Werk in den 90 Jahren seit der Erstausgabe noch keine 50000 Leser gefunden. In Deutschland mögen es kaum 500 Menschen sein, denen Corbière, der «Paria», etwas bedeutet. Nachfolgend eine eigene deutsche Fassung dieses Gedichtes (der Dank für die zugrundeliegende Rohübersetzung gebührt Professor Jean Bréjoux, Le Bouscat/Bordeaux).

Paria

Solln sie die Republik bewahren,
Freie Menschen! – den Hals in Eisen –
Solln sie im trauten Nest sich paaren! …
– Ich singe dürre Kuckucksweisen.

Mir ist das Herz kastriert, die Milz geraubt.
Ich trockene aus, mein Schwung wird schwer wie Blei …
Hab ich an ihre Freiheit je geglaubt?
Ich ewig Einziger bin ewig frei.

– Mein Vaterland liegt irgendwo;
Und da die Erde rund ist, so
Werd ich ihr Ende wohl kaum sehen …
Mein Vaterland ist, wo ich es befohlen:
Ob Land, ob Meer, fest unter meinen Sohlen
Liegt es, bleib ich nur aufrecht stehen.

– Geh ich zur Ruhe, ist mein Vaterland
Nur wo ich das zerwühlte Lager fand.
Da zwing ich in den Arm, an meinen Leib
Die beßre Hälfte, presse mich
An sie, die seelenlos wie ich …
Sie ist, was ich nicht habe, ist ein Weib.

– Ein hohler Traum: mein Ideal;
Das Unenvartete am Horizonte –
So frißt an mir die Heimwehqual
Nach jenem Land, das ich nie sehen konnte.

Folgt ihrem Weg von Carcassonne
Bis nach Timbuktu auch die Hammelherde …
– Mein Weg jedoch, er folgt mir schon.
Ganz gleich, wohin ich immer gehen werde.

Wie über mir die Flagge weht,
Zur Himmelskrone stolz erhöht:
Es ist der Windhauch in meinem Haar …
Reden in den Sprachen, die man spricht,
Halte ich aus doch halte sie nicht;
Wenn ich will, dann schweige ich sogar.

Mein Denken ist dürrer Blätterfall:
Ist Luft, die ich zusamrnentrug.
Mein Wort ist der leere Widerhall,
Der nichts sagt – und damit genug.

Vergangenheit: was ins Vergessen fällt.
Eine Hand, daß sie mich zusammenhält,
Muß die andere versorgen.
Erinnerung – Nichts – Nur meine Spur.
Was vorbeigeht, ist Gegenwart nur.
Meine Zukunft – Morgen … morgen.

Ich habe keinesgleichen für mich;
Ich bin, was sich aus mir hat machen lassen.
– «Zu hassen ist das menschliche Ich …»
– Doch mich kann ich weder lieben noch hassen.

– Das Leben ist eine Dirne, na schön,
Die ihre Lust ausläßt an mir …
Meine Lust ist: sie in Lumpen zu sehn,
Sie so zu nehmen, ohne Gier.

– Götter? … Durch Zufall kam ich auf die Welt;
Vielleicht gibt's die durch Zufall ebenso …
Wolln die mich kennenlernen: denen fällt
Das leicht, die finden mich schon irgendwo.

– Wo ich auch sterbe, auftun wird für mich
Das Vaterland auch ungebeten sich,
Und groß genug fürs Leichentuch darin …
Noch eins: wozu? … Da in der Erde
Mein Vaterland ich finden werde,
Geht mein Gebein bestimmt von selbst dahin …

Aus dem Französischen von Klaus M. Rarisch;
Interlinearversion: Jean Bréjoux

 

 

 

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