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Klaus M. Rarisch:
ICH WEISS, DASS RÄCHER HARREN
 

Wenn ein literaturkritischer Aufsatz 60,8 % Zitate und 39,2 % Originaltext des Verfassers enthält, dürfte der Autor von dem professoralen Streben nach gesicherter Erkenntnis, nach unumstößlichen Gewißheiten geleitet sein. Erscheint ein solches Meisterstück fleißiger Zitierkunst fünfspaltig in dem Wochenblatt der bundesrepublikanischen Intellektuellen-Elite »DIE ZEIT« (Nr. 21 vom 22. Mai 1987), wird der Urheber zugleich als glänzender Journalist beglaubigt, mit dessen stilistischer Brillanz hierzulande höchstens noch Marcel Reich-Ranicki wetteifern kann. Handelt es sich außerdem gar um einen Gedenkartikel zum l00. Geburtstag eines deutschen Lyrikers jüdischer Herkunft, dessen »Dichtungen und Briefe«, lange unterschätzt, nun erstmals komplett erschienen sind, wenn auch nur in der Schweiz, so wird jeder Laie eine Rehabilitierung des von den Nazis Ermordeten erwarten.

Nur den Kenner unseres Literaturbetriebs wird es nicht erstaunen, daß ein professoraler Journalist und journalistischer Professor diese Erwartungen enttäuscht und sich damit den Karl-Kraus-Preis in Höhe von 30.000 DM verscherzt hat, der ihm im September 1986 unter der Bedingung zugesprochen wurde, »daß der Preisträger sich verpflichtet, künftig von der Veröffentlichung eigener Schriften Abstand zu nehmen und einen nützlichen Beruf zu ergreifen«. Wie sollte einer Abstand nehrnen, dem es offenbar nicht um schnöden Mammon und profanen Beruf geht, sondern um höhere Berufung?

Der Dichter, der sich gegen seinen Kritiker nicht mehr wehren kann, heißt Jakob van Hoddis; der verhinderte Karl-Kraus- Preisträger heißt Fritz J. Raddatz. Dieser FJR, nicht zu verwechseln mit FJS, wendet 306 Druckzeilen auf, davon 186 Zeilen (60,8 %) Zitate und 120 (39,2 %) als Resultat eigenen Bemühens. Er zitiert, korrekt wie ein Student im Proseminar, die Autoren van Hoddis, Johannes R. Becher, Else Lasker-Schüler, Georg Heym, Alfred Richard Meyer, Regina Nörtemann (die Herausgeberin der van Hoddis-Gesamtausgabe), Kurt Hiller sowie anonyme »Patientenberichte« und den Landesverband der jüdischen Gemeinden Rheinland-Pfalz.

Seine Kernfrage lautet:

    War Jakob van Hoddis ein wichtiger Lyriker, ein großer Dichter?

Seine Antwort ist nicht nur, wie er selbst gesteht, »respektlos«, sondern ebenso unbegründet wie unbegründbar:

    Gewiß nicht.

Anstelle von Argumenten für sein Fehlurteil liefert FJR gebetsmühlenartig wiederholte Floskeln: van Hoddis »brachte die Zeit zum Tanzen«, »war Zeitgenosse in des Wortes wahrster Bedeutung«, »war ein Zeitpulsführer«. Gewiß: Jeder ist Genosse seiner Zeit, wenn auch nicht immer, glücklicherweise, der ZEIT. Was aber hat FJR gegen van Hoddis einzuwenden?

    Seine Gedichte kommen nie zur Ruhe, sie haben fast nie jenes Moment der Stille, des Schwebens, Einhaltens, das wohl große Lyrik prägt.

Setzt der Leser für »wohl« hier synonym »vielleicht», begreift er, was gemeint sein kann: Was große Lyrik prägt, würde FJR bestimmen, wenn er es nur selber wüßte. Es könnte wohl jenes undefinierbare Moment sein – oder wohl auch nicht. Das Moment des Einhaltens ist jedoch dem FJR nicht gegeben, sonst hätte er seiner Schreibwut Einhalt geboten und die verheißenen 30.000 DM kassiert.

Ganz nebenbei (in koketten Klammern) erwehrt sich FJR

    der (stilistisch leider germanistisch-holprigen) gründlichen Biographie Helmut Hornbogens

über van Hoddis. Stilistisch gottlob journalistisch-schwammig formuliert FJR selbst, wenn er ausnahmsweise einmal nicht zitiert:

    Hat sich das Brennglas, unter dem er zum unvergeßlichen einen Gedicht die Zeit einbrannte, sich verdreht und den Autor versehrt?

Hat sich was, Deutsch fünf! – würde jeder Klippschullehrer mit roter Tinte drunterschreiben. In der Tat: hier hat sich was sich verdreht, aber was? Wie, um Himmels willen, kann sich ein Brennglas verdrehen? Sollten es gar die Hirnwindungen des FJR sein, die sich hier konfuserlich verdreht haben? Dagegen fällt die klassisch schiefe Metapher vom Brennglas, unter dem van Hoddis angeblich die Zeit zum Gedicht einbrannte (mit der pseudoexpressionistisch »steilen« Inversion: »zum Gedicht die Zeit«) kaum noch ins Gewicht.

Zu befürchten bleibt, daß selbst dieser stilistische Galimathias nicht dazu führen wird, das Ansehen des Autors FJR in den Augen der ZEIT-Genossen zu »versehren«. Der Titel seines Artikels ist natürlich auch ein Zitat: »Ich weiß, daß Rächer harren«. Aber FJR weiß das eben nicht. Daß seine Schmähung des armen van Hoddis nach Rache schreit, hat FJR wohl nicht gemerkt. Oder doch?



 


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