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ERLÖSUNG
VOM HERZSCHLAG

DER LYRIKER
DIETER VOLKMANN

Dieter Volkmann im »Massengrab« 1961
Dieter Volkmann im »Massengrab«, 1961

Von Klaus M. Rarisch


Irgendwann Anfang der fünfziger Jahre las ein junger Mann in Berlin seinen Kollegen ein unbekanntes Gedicht vor, von dem er sagte, er habe es in einer verschollenen expressionistischen Zeitschrift entdeckt, es stamme vom frühen Bertolt Brecht aus dessen Augsburger Zeit. Wir geben es gekürzt wieder:

    DIE WÜRMER

    Ihr, die Totengräber unserer Zeit –
    was müht ihr euch?
    Ihr müht euch doch vergebens!

    Laßt doch den Fraß
    dem gierigen Maul der Erde.
    [...]
    Der Wurm des Wahnsinns nährt sich weiter von Gehirnen.
    Die rostigen Schilde falscher Ideale werden wieder blankgerieben:
    Jugend spiegelt eitel sich in ihnen;
    sieht nur das Blonde, ihre Kraft –
    und nicht den Totenschädel, geschminkt mit Blut,
    frisiert mit herrlicher Perücke.

    Seid ruhig, Würmer, seid ruhig!
    Und – lächelt:
    Auch eure nächsten Generationen werden zu fressen haben.

    DER DREIMAL BLUTIGE GOTT
    IST EUCH EIN HERRLICHER KOCH! [1]

Der das Gedicht damals vorgelesen hatte, war Dieter Volkmann, ein Berliner des Jahrgangs 1934. In seiner Ausbildung zum Buchhändler sollte er über Brecht sprechen; und als Vielleser, der er war und bis zu seinem späteren Zusammenbruch blieb, hätte er mühelos das von ihm verlangte trockene Referat in der üblichen Seminarmanier halten können. Aber er wollte sich dem Thema auf andere Weise nähern: mit einem selbstverfaßten, Brecht untergeschobenen Gedicht. Es ist belanglos, inwieweit er damit den Brecht-Ton getroffen hatte; es genügt zu wissen, daß seine Jungbuchhändler-Kollegen die Mystifikation nicht durchschauten. Denn Volkmann erkannte plötzlich, zur eigenen Verblüffung, daß er schreiben konnte. Ein Lyriker war geboren. Ein Poet, der bald seinen eigenen Ton finden sollte.

    EKLOGE I

    Drei Küsse Wind im Haar, das Herz voll Wiesen,
    so hohes Schwalbensegel, träume ein;
    wo einst die Hörner heller Hirten bliesen –
    ein Herzschlag Moos auf Stamm und Stein.

    Der Tod hat sich im Apfelbaum verstiegen,
    sein Schläferatem tanzt im Sonnenstaub:
    Du kannst die Stunden um die Schläfen biegen
    und bist umwandert wie die Frucht vom Laub. [2]

Mehr als 30 Jahre später befaßte sich die Kritik damit. Ernst-Jürgen Dreyer schrieb:

    Vielleicht stört den Leser an diesen Gedichten ein »alter Duft aus Märchenzeit«. Daß sich der Tod im Apfelbaum verstiegen hat, ist tatsächlich ein (Grimmsches) Märchenmotiv: das Motiv vom utopischen Augenblick der angehaltenen Zeit, der Ewigkeit wird wie Suleikens Bild im sprechenden Spiegel. Die »Wiesen« Volkmanns sind ja die von vor dem Fallout von Tschernobyl [...] [3]

Und der Germanist Burkhard Müller, der das Gedicht 1988 in seiner Würzburger Literaturzeitschrift »BLÄTTER« veröffentlichte, erkannte die Mittagszeit in Volkmanns Hirtengedicht

    [...] als Stunde des ausgesetzten Todes [...] [4]

... und urteilte generell:

    Die Ruhe dieser Gedichte ist jedoch keine unvermittelte, und es bleibt zu zeigen, gegen welche ungeheuren Widerstände sie durchgesetzt worden ist. [4]

Als berufstüchtiger, aber schlecht bezahlter Buchhändler lernte Volkmann in Berlin andere junge Poeten kennen und schloß sich mit ihnen 1957 zur literarischen »Gruppe der Vier + 4« zusammen. Man lebte in der dumpfen Adenauer-Ära nach dem Motto »Keine Experimente« – dagegen protestierten die Jungliteraten mit zeit- und ideologiekritschen Versen; das folgende, ironisch als »Elegie« betitelte Gedicht Volkmanns ist ein Beispiel dafür. Ob die darin attackierte Ideologie bis heute, unterschwellig, virulent geblieben ist, mag der Hörer selbst entscheiden, vielleicht unter dem Eindruck des Rechtsrucks bei den Berliner Wahlen vom Januar 1989.

    BÖHMISCHE ELEGIE NR. V

    Vorbemerkung: Pneumanien –
    ein von allen vier Seiten unter Druck
    gesetztes Nordreich mittlerer Qualität:
    gedrungene Vergangenheit,
    gasförmige Zukunft,
    Bewohner – Pneumanen.

    Öffnet ihr die Bundeslade –
    seht nur, wie im Speck die Made,
    fett umfüttert von Soutanen
    träumen schwer Pneumaniens Ahnen;
    träumen von dem Ritt gen Osten,
    von dem Blech, das nie wird rosten,
    das zu Orden ausgestanzt,
    ordentlich ins Herz gepflanzt,
    Ordensburgen läßt erstehen,
    Ordensherr und -frau dort gehen.
    Unterm Kreuze das Prälaten
    sammeln kreuzlos sich Soldaten,
    die ihn kreuzweis küssen können,
    wenn sie in den Kreuzzug rennen.
    Kreuzer säckeln die Magnaten,
    wenn sich kreuzen die Granaten,
    nur dem großen Knüppelheere
    geht es um die Krüppelehre,
    und dem Schutz der Straußeneier
    dienen Knochen des Herrn Meier.
    Siegreich wird die Schlacht geschlagen
    und das Hemd nach Trier getragen,
    abendländlich geht zugrunde
    Romas große Rheumarunde,
    und den Rost der letzten Ritter
    segnen des Ignatius Zwitter.

    Seht, es wächst die neue Saat;
    denn im Maßanzug der Staat –
    Embryo, nimm deinen Lauf –
    forstet Nietzsche-Förster auf,
    die das Laub der Männereichen
    herrenbraun mit Met bestreichen,
    von der Wolga bis zur Marne
    rotten aus die fremden Farne.
    Monstranzen-Monstren, Mythen-Müll,
    Schlageter-Schläger, Schiller-Schill,
    krachgeledert – Krupp von Bohlen,
    Goethe-Goten – Gott befohlen,
    Wahnfrieds-Weisen, Rhein und Wacht,
    Wallfahrt der Walpurgisnacht.
    Hört, es dröhnt Colonias Dom;
    Bundesbregen brauchen Brom.
    Lauscht, es wimmert auch von Speyer;
    teutsche Träne tropfe teuer,
    Gott aus Kuchen, schmecke süß!
    bleiern bleut dein Paradies.

    Schließet ihr die Bundeslade –
    ist es um die Made schade;
    denn im Fette der Soutanen
    starben kläglich ihre Ahnen,
    laßt in Frieden sie entweichen
    und dem Wurm ins Brautbett schleichen. [5]

Etliche Zeitungskritiker kreideten Volkmann die lockere, kabarettistische Form solcher Verse als »unpoetisch« an. Der Vorwurf zeugt vom bildungsbürgerlich-antiquierten Poesieverständnis der betreffenden Journalisten und führt sich vor dem Hintergrund großer politischer Lyrik deutscher Sprache, und dafür stehen die Namen Tucholsky, Erich Kästner und Walter Mehring, selbst ad absurdum. Daß Volkmann auch die strenge Form beherrschte, belegt das folgende, zur gleichen Zeit – Ende der fünfziger Jahre – entstandene Sonett.

    ZEIT UND ZAHN

    In allen Eieruhren quält sich Zeit,
    ein Fundevogel zeigt sein Windgesicht;
    am Schwanzgeschlepp schleift scheppernd Herbstgewicht,
    im Nessushemd dehnt Häutungslust sich weit.

    In allen Betten balzt der Untergang,
    am Wetterhahn erhängt sich selig Nacht,
    die Särge bergen ächzend fette Fracht,
    ein Rattenpaar liebt lesbisch lendenlang.

    Ein dürrer Gott singt wild am Narrenpfahl,
    um den der späte Bockskehraus gestaut,
    er schlachtet sich dem Nichts und wird verdaut –

    am Zeitblatt zuckt verzinkt die letzte Zahl;
    in allen Eieruhren knirscht Degout:
    die Zeit wird dünn und fließt dem Weltloch zu. [6]

Die »Gruppe der Vier + 4«, 1957 als Selbsthilfeorganisation junger Autoren gegründet, die ein Forum für ihre Arbeiten suchten, veranstaltete in den zehn Jahren bis 1967 fast 200 öffentliche Lesungen, darunter eine skandalumwitterte Dada-Soirée im Juni 1957, zu einer Zeit, als der Dadaismus in Berlin nahezu vergessen war. Die Veranstaltungen fanden zuerst in ad hoc gemieteten Schulräumen statt und später, von Mitte 1961 bis Ende 1963, im Charlottenburger Kulturkeller »Das Massengrab«, den Dieter Volkmann gemeinsam mit Klaus M. Rarisch leitete. Als Klub entwickelte sich »Das Massengrab« mit schließlich fast 1700 Mitgliedern zur seinerzeit größten literarischen Gesellschaft Berlins. Die Gruppe präsentierte dort auch vergessene Autoren der Vergangenheit sowie, mit Vorliebe, Bücher, die in der Adenauer-Zeit verboten oder konfisziert waren, z.B. »Das Liebeskonzil« von Oskar Panizza oder Klaus Manns »Mephisto«. Den späteren Erfolg dieser Werke hätte damals niemand zu prophezeien gewagt, im Gegenteil: häufige Besuche ungebetener Herren in Ledermänteln waren die »verfassungsschützende« Konsequenz für das »Massengrab«. Wie reagierte nun die Presse auf derlei Absonderlichkeiten? Zuerst und vor allem nahm man die äußere Erscheinung der Vortragenden scharf unter die Lupe. 1957 charakterisierte die BERLINER MORGENPOST Dieter Volkmann so:

    [...] ein 23jähriger Buchhändler mit blonder Mähne und zartem Poetengesicht [...] [7]

Jedoch 1960 vermittelte die Studentenzeitschrift COLLOQUIUM einen ganz konträren Eindruck:

    [...] Gekleidet und gescheitelt mit der schlichten Sorgfalt von Handlungsgehilfen [...] [8]

Nanu? Einerseits »Mähne«, andrerseits »schlicht-sorgfältig gescheitelt« – wie verträgt sich das miteinander und mit der schlichten Sorgfalt journalistischer Wahrheitsliebe? Die Synthese subjektiver Wahrnehmung blieb der Zeitung DIE WELT vorbehalten, 1965, nachdem sich die Gruppe mit einer Lyrik-Lesung sogar in die Akademie der Künste gewagt hatte. Wenigstens Volkmanns Blondhaar schien zu stimmen:

    [...] Bleich und schwarz Herr Rarisch, blond und klein Herr Volkmann [...] [9]

Vielleicht wollten auch die Zeitungsleser nicht mit Literatur belästigt, sondern nur durch Steckbriefe der Literaten erheitert werden. Diese journalistische Methode ist uralt und international bewährt. *) So schrieb der »Corriere della Sera« am 16.2.1910 über eine Veranstaltung der Futuristen im Mailänder Teatro Lirico:

    [...] jetzt ist es so weit: F. T. MARINETTI tritt nach vorn, kühn und kahl. Die Zukunft des Futurismus hat keine Haare auf dem Kopf [...] [10]

Trotzdem setzte der überwiegend militaristische Futurismus sich durch. Der Ultimismus, den Volkmann und seine Freunde Ende 1957 gründeten, war dagegen entschieden pazifistisch und hatte dementsprechend geringere Chancen. Immerhin gab es auch seriöse Presseberichte. Im März 1958 las man im KURIER:

    Eine literarische Vereinigung von acht jungen Menschen zwischen zwanzig und dreißig [...] hat den Ultimisimus kreiert und auf ihre Fahne geschrieben. Was ist Ultimisinus? Die »Ultima ratio«, der letzte Ausweg in einer Epoche künstlerischer Sterilität [...] Und was steht dahinter? Viel guter Wille und viel Ratlosigkeit, eine neue »verlorene Generation«, die nur noch Scherben geerbt hat [...] Die Jugend, die den Saal bis zum letzten Platz füllte, auch sie zwischen zwanzig und dreißig Jahren, hörte sehr aufmerksam zu [...] [11]

Gedichte von Dieter Volkmann erschienen lange Zeit nur in kleinen Zeitschriften, Anthologien, Flugblättern sowie (1958) in einem separaten Heft »Schlafstrom«. Erst 1965 kam als repräsentative Textsammlung der ULTIMISTISCHE ALMANACH heraus, zu dem auch die Alt-Dadaisten Hans Arp, Raoul Hausmann, Richard Huelsenbeck und Walter Mehring Gedichte und Bilder beisteuerten. Da das Buch in einem kleinen Kölner Verlag erschienen war, wurde es von der Kritik weidlich ignoriert. Eine der wenigen Ausnahmen sei zitiert. 1966 schrieb das Fachblatt BUCHMARKT:

    [...] Einen artistischen Protest scheinen uns auch die Ultimisten vom Naturell der Knorr, Rarisch, Teufel und Volkmann vorzutragen [...] Der apokalyptische Zug der jüngsten deutschen Literatur [wird] nirgends so stark sichtbar wie hier bei den Ultimisten [...] Die Protagonisten dieser Kunstauffassung sehen im »endzeitlichen« Zustand den wesentlichen Unterschied zwischen sich und den Dadaisten, mit denen sie im übrigen manches verbindet [...] [12]

Zu den Kernstücken des ULTIMISTISCHEN ALMANACHS gehört Dieter Volkmanns umfangreicher Gedichtzyklus »Michael Nihil« in der Arno Holzschen Mittelachsen-Phantasus-Form. Da der Zyklus zehn eng bedruckte Seiten umfaßt, kann hier nur ein kleines Bruchstück wiedergegeben werden:

Arm
träume ich –
und habe doch vorhin Hölderlin gelesen:
»Ein Gott ist der Mensch,
wenn er –«
Ach!
Mein Traumulus wandert
Hand in Hand mit meinem Hirnus.
Ein Kinnbart lächelt analyselüstern –
Freud weiß alles!
[...]
»Ein Gott ist der Mensch –«.
Nicht!
Wenn er nachdenkt,
darf er
weiterhumpeln. [13]

Diese Passage zitierte Kurt Lothar Tank 1961 in einem Zeitungsbericht über das »Massengrab« und fügte als Kommentar hinzu:

    [...] Nicht übel, diese Nüchternheit. Wie Schalentiere kommen mir die meisten der jungen Berliner vor. Sie haben sich einen Kalkpanzer von Skepsis zugelegt. Phrasendrescher werden ihn nicht zertrümmern. [14]

Eine ausführliche Rezension brachte 1966 die Literaturzeitschrift TOTAL:

    Nicht zufällig endet in dem [...] ULTIMISTISCHEN ALMANACH Dieter Volkmanns Totengespräch für Lebendige [...] damit, daß Oscar Wilde mit ausgebreiteten Armen in die Schatten geht, wie sein Schüler im Geiste – ein Zeitgenosse von Guernica, Auschwitz und Hiroshima – schließlich begreift [...] Da vollführt der von Gottvater betrogene Zimmermann Joseph in Klaus M. Rarischs Einaktern seine metaphysischen Schmerzenstänze, wogegen Dieter Volkmanns Michael Nihil zehn hochkarätige Gedichte lang versucht, seinerseits Gott übers Ohr zu hauen, bis er endlich merkt, daß gasförmige Wirbeltiere in der Regel auf den Besitz von Ohren nicht den geringsten Wert legen. [15]

Im Januar 1961 war Volkmann Teilnehmer am Abrüstungskongreß in Weimar; die Veranstaltung war vor allem für Gäste aus der Bundesrepublik und West-Berlin gedacht. Volkmann versuchte dort, sein Gedicht »Gespenster« vorzutragen, bis ihm der Vorsitzende Peter Huchel das Wort entzog. Hier ein Ausschnitt:

    GESPENSTER

    Neunundneunzig mal zwei Pantoffeln;
    Nußschalen von Erik, dem Wiking:
    Ich belatsche zum erstenmal, hei,
    die Neuwelt der Physik!

    Alle Kinder und Narren
    kommen von Thule,
    Dämonennarrenkinder,
    gebt den Lichtgäulen die Diamantenkralle des Genies,
    fetzt die Flanken der Menschheit,
    hinein in die Fratze der Zukunft!

    Dabei bin ich behaust;
    lausche zwischen Kartoffelsuppe
    und Rauchpilzgerichten
    der Sphärenzither von Papa Planck.
    [...]
    Heute nacht werde ich Opa Schweitzer
    in seine Orgel die Frage schreiben:
    wie man sich von seinem Hirn erlöst,
    wenn auf Thule gehaßt wird?! [16]

Volkmanns Auftritt wurde von der Presse in West und Ost zur Notiz genommen. Die westliche Reaktion:

    Scharfe Kritik am Typ des Gelehrten, der Wissen von Gewissen nicht mehr zu unterscheiden vermag, übte der junge Lyriker Dieter Volkmann [...], indem er sein apokalyptisches Einsteingedicht »Gespenster« vortrug. [17]

Nebulöser formulierte es der Ost-Berliner SONNTAG:

    [...] der junge Ultimist [...] meint, jede Handlung müsse im Bewußtsein getan werden, daß sie die letzte sein und vor der Zukunft bestehen könne [...] [18]

Übrigens keine unzutreffende Definition der ultimistischen Mentalität. – Da Volkmann, wie gesagt, nach drei Minuten von Peter Huchel unterbrochen wurde, unterbrach er seinerseits am nächsten Tag eine endlose Propagandarede mit dem unerschrockenen, in der DDR noch nie dagewesenen Zwischenruf »Beim Thema bleiben!« Darauf bezog sich der Berliner Kritiker Hellmuth Kotschenreuther in einem Artikel über das »Massengrab«:

    Wogegen sie [die Ultimisten] mit Versen, Prosa, Songs und Bildern revoltieren, zeigte sich bald: Gegen Klerikalismus, Militarismus, Faschismus, Nationalismus und alle anderen Ideologien. Wofür sie kämpfen, wurde etwas später deutlich, nämlich 1961 auf dem »Nationalkongreß für Frieden und Abrüstung« in Weimar. Es war Dieter Volkmann, einer der Gründer des »Massengrabes«, der es wagte, eine Marathonrede des Mitglieds des sowjetzonalen Politbüros und Chef-Agitators der SED, Albert Norden, mit dem lauten und von der Weltpresse achtungsvoll notierten Ruf nach Sachlichkeit zu unterbrechen. Die Bewohner des »Massengrabes« besitzen offenbar etwas, was deutsche Intellektuelle nur selten besitzen: Zivilcourage [...] [19]

Stilistisch zeichnen sich Volkmanns Gedichte durch einen Hang zur Emphase, ja Ekstase aus. Die mehrteiligen Komposita (z.B. »Dämonennarrenkinder«) evozieren einen Wortrauschzustand, der jedoch exakt kalkuliert ist und zu der von Kurt Lothar Tank konstatierten Nüchternheit zurückfindet. Der unvollendet gebliebene Mittelachsen-Zyklus »Michael Nihil« offenbart nach dem Vorbild von Arno Holz die Tendenz zum gigantomanischen Weltgedicht. Gegenläufig dazu zeigt aber Volkmanns Lyrik auch den formalen Zwang zur extremen Verknappung, zum Sonett und sogar zur Haiku-Form. Der ULTIMISTISCHE ALMANACH präsentiert unter dem Titel »Hiroshima« Volkmanns »15 Haiku-Variationen über einen japanischen Totentanz«. Daraus ein Beispiel, das dreizeilige Kurzgedicht »Das Loch«:

    Ich lache dich leer und höflich an;
    doch brich dem Schrei die Flügel –
    Herz, hier war Hiroshima! [20]

Dieses Haiku besteht nur aus ein- und zweisilbigen Worten, mit Ausnahme des letzten: »Hiroshima«, das der Autor zum Überfluß noch gesperrt gedruckt haben wollte. Sinnvoller und eindringlicher wäre der Vers aber so zu betonen: »Herz, hier war Hiroshima!« Denn in diesem »war« kulminiert bis auf weiteres unser Atomzeitalter, die kollektive Tragödie, an der gemessen die individuellen Eifersuchtsdramen der Vergangenheit zur Bedeutungslosigkeit verblassen, auch wenn sie künstlerisch so eindrucksvoll gestaltet sind wie der Höhepunkt im Schlußmonolog von Verdis Shakespeare-Oper: »Otello fu – Othello war«. – Eine kleine Überlegung zeigt, wie präzise Volkmann das jeweils stringenteste Wort gewählt hat. In seiner Lyrik wird sonst viel gelächelt und wenig gelacht. Wenn aber hier der erste Vers lautete »Ich lächle dich leer und höflich an«, so würde er dem Titelbegriff »Loch« nicht gerecht werden. – Man hat Volkmann und dem Ultimismus überhaupt Epigonentum vorgeworfen. Volkmann nannte seine Vorbilder überdeutlich beim Namen, indem er Arno Holz als Heiligen und Gottfried Benn als seinen Vater bezeichnete. Zukunft hat nur, wer sich zu seinen Ursprüngen bekennt. Volkmann hat Zukunft.

    VERGESSEN

    Ich weihe dich wie Wein – du Weltenthalten:
    Der Tag hat mit der Nacht den Kuß getauscht,
    Ein kleiner Junge hat vorm Schlaf gelauscht,
    Und weich umarmen sich am Kreuz Gestalten.

    Der Querholzbaum ragt schauernd in die Ferne,
    Wie Mutter sanft schwillt ihm die Erde nach,
    Ein harter Büßer liebt nun sein Gemach,
    Ein altes Auge sucht die alten Sterne.

    Die Ruhe dehnt sich wispernd in den Lauben,
    Der Bach klappt die Forellenaugen zu,
    Die Wabe summt im Honigton der Ruh –

    Zag tropfen nur der Kerze heiße Trauben.
    Die Zeit treibt hin wie’s Schifflein unterm Stege;
    Und weit zum Morgen warten Wind und Wege. [21]

Dieses Gedicht stammt aus Volkmanns Zyklus »15 Maurerische Sonette für einen Holzschneider«, der kürzlich in der Reihe »Meiendorfer Drucke« im Robert Wohlleben Verlag Hamburg erschienen ist. Wir werden daraus noch weitere Beispiele bringen.

    URNENSCHRIFT

    Er ruht: Wahrhaftig, ja! ihm wurde Frieden.
    Die Fackel senkt aufs Herz – erlöst vom Schlag,
    Es wachsen Zedern in den hohen Tag,
    Und keine Hand ist nun im Zorn geschieden.

    Er sprach vom Riegel: Grab; von Freiheit: Leben,
    An krummen Krücken brach er auf zum Ziel,
    Er nannte es sein Totentänzchenspiel
    Und mußte flink dazu die Glieder heben.

    Den Leib raubt fort Geburt der Elemente;
    Der Salamander ringt vom Flammenstoß
    Und wird im Moos von Findlingswiegen groß:

    Wer dieses Werden selbst in sich erkennte –
    O Mensch! am harten Arbeitsholz des Ruders
    Gedenk der freien Asche Deines Bruders. [22]

Hier tritt das spezifisch »Maurerische« im Mozartschen Sinne am deutlichsten zutage; sonst bleiben diese Bezüge eher hermetisch unter der Oberfläche. Die Einzeltitel der 15 Sonette, wenn man ihre Initialen als Akrostichon liest, ergeben den Begriff »MEISTER VOM STUHL«. Volkmann selbst war niemals Freimaurer, hätte auch, als Deklassierter, nicht die gesellschaftlichen Voraussetzungen dafür erfüllt; schon gar nicht 1975, zur Entstehungszeit des Zyklus. Ein befreundeter Arzt hatte dem damals schon kranken und gehetzten Autor einen sanatoriumsartigen Aufenthalt und damit die nötige Ruhe zum Schreiben ermöglicht. Zuvor, gegen Ende der sechziger Jahre, hatte sich Volkmann, enttäuscht und zermürbt, aus dem literarischen Leben zurückgezogen. Seine Ehe war längst zerbrochen; neue Beziehungen endeten strindbergisch: im Zwang zur wechselseitigen Zerstörung und Selbstzerstörung. Die Flucht in den Alkohol zog unerbittlich den sozialen Abstieg und die Vereinsamung nach sich. Dennoch: bis zum endgültigen physisch-psychischen Zusammenbruch hörte Volkmann nicht auf zu schreiben; leider konnte nur ein Bruchteil seiner Manuskripte aus dem Obdachlosenasyl gerettet werden.

    IRRGANG

    Es spielt ein Spaß sein Spiel wohl unter Glocken:
    Ein Hoch! dem Erz, den hundert Hämmerlein,
    Und was da tanzt aus Puppenkämmerlein –
    Dem Meister dieser Räder, Klöppel, Nocken.

    Der Kaiser kommt, Papst, Tod und edle Leute,
    Balztanzen Bürger, Bauern, Bettelsack,
    Es walkt und walzt die Scham, der Hurenfrack –
    Ach, daß der Meister mir’s Mirakel deute.

    Das knirscht im Turm, das schnarrt im Werk der Räder,
    Der Zeiger ruckt verkrampft zur fetten Zwölf;
    Den Hammer hebt in Wut der Märchenelf –

    Schlag dröhnt ins Werk, verspielt im Wurf ein jeder.
    Gewichte torkeln tosend hin zur Tiefe:
    Ich lauschte, ob man nach dem Meister riefe. [23]

Wie hier den mittelalterlichen Totentanz, finden wir in dem Sonett-Zyklus Motive aus vielen uralten Mythen in äußerster Komprimierung verarbeitet: den ägyptischen Osiris-Totenkult, die See- und Luftfahrermythen um Odysseus, die Argonauten und Ikarus sowie, nicht zuletzt und in Auseinandersetzung mit Rilkes Orpheus-Sonetten, das Motiv des antiken Sängers und Urpoeten. Ausgespart hat Volkmann ein Mythologem, das zur Parabel seines eigenen Schicksals wurde: das des phrygischen Königs Midas, unter dessen Händen sich alles in Gold verwandelte und den Apollo grausam bestrafte. Was immer Volkmann schrieb, es geriet zum Gedicht, von dem er nicht leben konnte, das vielmehr sein Leben aufzehrte, bis ein Gott, bis sein eigener Dämon ihn mit Krankheit schlug. Ein einziges Mal, 1961, veröffentlichte Volkmann eine Rezension, und zwar über einen posthum erschienenen Gedichtband seines früh verstorbenen Freundes Manfred A. Knorr. Mit diesem Text hat sich Volkmann als Lyriker zugleich selbst charakterisiert:

    Erstaunlich ist an den vorgelegten Gedichten das Beieinander von zeitkritischer Aussage und lyrisch formulierten »Untergängen«. Knorr war [...] ein »denkender Träumer«. Er vergaß über dem »Schattenlaub der Nacht« nicht die Gespenstermarionetten des Tages, die bei ihm oft die politischen Visagen aktueller Ereignisse trugen. Knorr war in seinen Versen kein moralklappernder Weltverbesserer; er suchte das Gefühl, wenn der Intellekt dämonisch zerstörte, er suchte den Intellekt, wenn das Gefühl die Schalmei zum erbärmlichen Totentanz entseelter Kunstfiguren blies. [24]

Volkmanns Lyrik steht jetzt zur Wiederentdeckung an. Wie konnte aber dieser Poet, der das Berliner Literaturleben immerhin für ein Jahrzehnt prägen half, während der letzten zwanzig Jahre so völlig vergessen werden? Sein Fall lehrt aufs neue: Hierzulande verhalten sich ästhetische Qualität und Publikumserfolg umgekehrt proportional zueinander.

    ERKENNTNIS

    Weh ist doch Weh – verweht in Untergängen;
    Des Kaisers Kutte traut der Volksmann nicht,
    Ihr weigert er des Bettels Kirchenlicht,
    Gezündet auf den kolossalen Rängen.

    Die Hostie quillt aus Priesters fetter Pranke
    Dem Schelm, der blödeselig sie zerkaut
    Und schnarcht sich greinend ein auf Eselshaut;
    Ein Fraß-Suff-Wurm ist der Warum-Gedanke.

    Willkommen, Fürst! laßt einen Teppich schnurren,
    Geböllert, speichelt, was Mechanik hält,
    Das Kurtisanenfleisch wallt aus dem Zelt –

    Den Pudel unterm Schoße würgt das Knurren.
    Da scharren Krallen auf das Reich der Made:
    Die frischen Leichen säumen die Parade. [25]

Dazu konstatiert Burkhard Müller:

    [...] das Gedicht beginnt mit »Weh ist doch Weh – verweht in Untergängen« (worauf Gottfried Benn, wäre es sein Einfall gewesen, mit Recht stolz gewesen wäre) [...] [26]

1984, im Alter von 50 Jahren, brach Volkmann hilflos lallend zusammen und wurde in eine Nervenklinik eingeliefert. Diagnose: irreversibles Korsakow-Syndrom mit partieller Hirnschädigung. Nach menschlichem Ermessen wird er sein Leben in einer geschlossenen Heil- oder Pflegeanstalt beschließen müssen. Im folgenden Schlußstück seiner »Maurerischen Sonette« heißt es: »Wir winken, irgendwem, von Turm zu Turm«. Im Elfenbeinturm hat Dieter Volkmann nie gewohnt. Ein Lebenszeichen kann er selbst nicht mehr geben; der Turm, der ihn nun einschließt, ist der des armen Hölderlin am Tübinger Neckarufer. Dieter Volkmanns Lyrik aber ist das Leuchtfeuer in seiner, in unserer Nacht.

    LOGE

    O komm! und laß uns Ev’ und Adam spielen,
    Doch vor der Apfelspeise, bitt ich aus:
    Ich geh zuerst in unser Puppenhaus
    Und schenke bunte Kiesel Dir, von vielen.

    Wie schön sich Hände um die Steinchen schmiegen –
    Ich träume oft bei Deinem Mädchenspiel
    Und sah die Frau, in Leere und Gefühl;
    Wenn später sie verstreut am Boden liegen.

    O fühltest Du mein Herz vor Sterben zittern –
    So ernten wir, verstreut, die Einsamkeit
    Und werden, einzeln, Tote vor der Zeit,

    Die sich auf Straßen jedes Du verbittern.
    Wir winken, irgendwem, von Turm zu Turm;
    Und unsre Tage teilen Wunsch und Wurm. [27]

*) Angemerkt von RW: 1900 ging der seinerzeit einflußreiche Literaturwissenschaftler Richard M. Meyer (für Arno Holz ein »litterarischer Ehrabschneider«) mit tückisch aus den Fingern gesogenen Signalements gegen die Dichter vom »Regiment Sassenbach«, also gegen die »Arno Holz-Schule« und ihre beachtliche Produktion vor: »Schrecklich aber sind die, die ganz aus der Doktrin selig werden. Ein neuer Dichterhabitus ist Mode geworden: weiche bartlose Gesichter mit glattem, mauerartig anliegendem Haar und sehr weicher Stimme schauen aus samtkrägigen langen Röcken im Schnitt der Biedermeierzeit heraus. Von ihnen erscheinen jeden Tag Bändchen voll bedeutungsloser Impressionen; was man sonst dem Tagebuche anvertraute, muß nun unter den Titeln ›Meine Jugend‹, ›Neues Leben‹, ›Befreite Flügel‹, ›Farben‹ u. dgl. ins feindliche Leben hinaus.« (Zitiert nach Richard M. Meyer: Die deutsche Literatur des Neunzehnten Jahrhunderts. 3. Aufl., Berlin 1906, S. 868)

[1] Ultimistischer Almanach, hrsg. von Klaus M. Rarisch, Wolfgang Hake Verlag, Köln 1965, S. 78.
[2] Blätter, Zeitschrift für Literatur, Würzburg, 3. Jg. 1/88, Nr. 8, S. 2.
[3] Ernst-Jürgen Dreyer, »Blutlaugensalzbeladen ziehn die Kähne – Klaus M. Rarisch und andere noch zu entdeckende Dichter«, unveröffentlichter Aufsatz (aus dem Manuskript zitiert).
[4] Burkhard Müller, Brief an Ernst-Jürgen Dreyer vom 22.2.1988.
[5] Das Massengrab – Blätter für das Menschenmaterial, Berlin, Nr.1, März 1961 (Flugblatt).
[6] Diskus, Frankfurter Studentenzeitung, Nr. 9, November 1960.
[7] Wolfgang Paul, »Kleinkinder des Olymp«, Berliner Morgenpost vom 7.12.1957.
[8] colloquium, August 1960.
[9] »Ultimismus«, Die Welt vom 28.9.1965.
[10] Christa Baumgarth, Geschichte des Futurismus, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1966 (rowohlts deutsche enzyklopädie, 248/249), S. 41.
[11] »Was ist Ultimismus?«, Kurier vom 18.3.1958.
[12] Buchmarkt, Düsseldorf, Nr. 1/1966, S. 85 (Autor: Fritz Werf).
[13] Ultimistischer Almanach, a.a.O., S. 71 f.
[14] Kurt Lothar Tank, »Ferien in Berlin«, Sonntagsblatt, Hamburg, Nr. 36 vom 3.9.1961.
[15] Dr. R. Bleich, »Über den Ultimistischen Almanach«, in: TOTAL, eine macabre Zeitschrift, Bremen, Nr. 11/12 [1966], S. 10 f.
[16] Ultimistischer Almanach, a.a.O., S. 80 f.
[17] »Gespräch um nicht zu sterben – Weimar«, in: Diskus, Frankfurter Studentenzeitung, Nr. 2, Februar 1961.
[18] Sonntag (Ost-Berlin) vom 12.2.1961.
[19] Hellmuth Kotschenreuther, »Kellerkinder im Kunstgarten«, Berliner Morgenpost vom 24.8.1962.
[20] Ultimistischer Almanach, a.a.O., S. 83.
[21] Dieter Volkmann, 15 Maurerische Sonette für einen Holzschneider, Robert Wohlleben Verlag, Hamburg 1989.
[22] Ebenda.
[23] Ebenda.
[24] Dieter Volkmann, »Die Fuge des Unvollendeten«, in: Diskus, Frankfurter Studentenzeitung, Nr. 4, Mai 1961.
[25] Siehe Anm. 21.
[26] Siehe Anm. 4.
[27] Siehe Anm. 21.

Urheberrechtliche Anmerkung

Dieter Volkmann, * 15. 2. 1934 in Berlin, † 13. 2. 2019 in Minden

Die Rechte an dem Zyklus »15 Maurerische Sonette für einen Holzschneider« von Dieter Volkmann liegen beim Robert Wohlleben Verlag, Grünebergstraße 78, 22763 Hamburg.
Über die Rechte an allen anderen Texten von Dieter Volkmann verfügt: Klaus M. Rarisch, Tessenowstr. 42, 13437 Berlin.
Der Verlagsvertrag über den vergriffenen »Ultimistischen Almanach« ist durch Zeitablauf gegenstandslos geworden; die Rechte an den einzelnen Beiträgen sind an die Autoren zurückgefallen.

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