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Der Kuß der Medien in 1000 Berlin 26
Wenn der arme Poet zum Mikro greift:
Nun gibt es Klaus M. Rarischs Sonette sogar auf Cassette

Irgendwann muß es in unseren Tagen passiert sein. Die Medien haben sich mit den Musen verbrüdert oder vielmehr verschwistert. Ein entschiedener kulturhistorischer Wendepunkt, dessen genaues Datum nicht exakt fixiert werden kann. Die Modernisten mögen jubeln, die Altmodischen lauthals klagen, die Ewig-Besonnenen ihr »Abwarten, abwarten?« verkünden – in einer urbanen Landschaft, in der es Kulturkaufhäuser wie Fnac oder Virgin gibt, muß etwas geschehen sein.

Nun hat die Technifizierung von Kunst und Kultur schon früh, spätestens mit der Erfindung der Schallplatte begonnen. Aber erst jetzt, wo man sowohl »Vom Winde verweht« samt »Scarlett« als auch den neuesten CD-Player am gleichen Ort ersteht, zeigen sich die Konsequenzen. Videogerät und Weitwinkelobjektiv haben sich gleichberechtigt als Kulturobjekte neben die Reclam-Ausgabe von »Wilhelm Meister« gesetzt.

Darauf reagieren inzwischen nicht nur die Mammut-Unternehmen, sondern auch die Mini-Kulturträger, zum Beispiel die Kleinverlage. Auch bei ihnen scheint zum Kuß der Musen derjenige der Medien getreten. Den Hamburger Robert-Wohlleben-Verlag haben wir an dieser Stelle schon einmal vorgestellt, als er die 99 Sonette unseres Erz-Berliner Sonett-Poeten Klaus M. Rarisch für 25,60 DM herausgebracht hat. Wohlleben hat sich ja auf Sonette spezialisiert, eine schwierige, daher mehrfach totgesagte literarische Spezialität. Er gehört daher auch zu den denkbar kleinsten Verlagen in alten und neuen deutschen Landen. Ein Ein-Mann-Unternehmen. Wenn auch kein rückständiges. Denn jetzt legt es Rarischens Sonette auch in modernem Gewand, auf zwei Tonbandcassetten von je 60 Minuten Dauer, vor, vom Dichter gesprochen und für wenig mehr Geld als fürs Buch: 30 DM. Eine überraschende Entwicklung, umso mehr als Rarisch eigentlich der letzte ist, dem man zutrauen würde, daß er in seinem Nord-Berliner Dachkämmerchen in der Lage sein würde, die 99 Sonette nicht nur zu rezitieren, sondern auch aufzunehmen und auszusteuern. Das wäre, als wenn Spitzwegs »Armer Poet« statt einer Gänsefeder im Mund ein Mikrofon vor demselben hätte.

Aber Rarisch, der sich selbst als einen »verspäteten Caféhausliteraten« bezeichnet – seine frühesten Sonette sind allesamt in einem längst nicht mehr existierendem Caféhaus am Bahnhof Zoo entstanden –, kann sich auch ohne perfektes Tonstudio hören lassen. Ein geübter Sprecher, der auch schon mehrfach den längsten Satz der Literaturgeschichte – von Amo Holz, Gesamtdauer zwei Stunden – vorgetragen hat, beherrscht, mit Ausnahme weniger Knackser und Raschler, auch anscheinend vollendet die Technik.

Er spricht akzentuiert, prägnant und nicht unpathetisch. Wahrscheinlich wäre Otto Sander besser als er, aber gewiß nicht so echt. Man erlebt hier gleichsam Literatur direkt. Irgendwo soll eine Aufnahme mit Tolstois Stimme existieren. Was würde man darum geben, Goethe, Schiller, Kleist vom Tonband zu hören, auch wenn man da Überbetontes, zudem auf Frankfurterisch oder Schwäbisch vorgesetzt bekäme. Man merkt auch Rarisch an, daß er Berliner ist (und ob!), aber wer seine harte, auf Sprache wie in Bronze gegossene Poesie mag, erfährt gerade durch jene Überbetontheiten, wie manches gemeint ist – ironisch oder wütend oder leise beiseitegesprochen. Die Medien haben den Musen, wie es scheint, nichts weggenommen, sondern ihnen einen Schuß Authentizität beigegeben.

Wohlleben bietet übrigens, für 15 DM, noch gleich ein weiteres Band »Hörbar: Sonette« an, auf der der verstorbene Berliner Dichter Richard Klaus, Rarisch (mit Sonetten von Dieter Volkmann, einem verschollenen Poeten) und Wohlleben selbst zu hören sind. Die Zukunft hat auch in der Holstentwiete 1, Hamburg 50, bereits begonnen, nicht zuletzt mit Direkt-Literatur aus Berlin 26, vom Dachstübchen direkt in die Stereoanlage. Die Modernen: ein Fortschritt! Die Altmodischen: ein Sakrileg! Die Gemäßigten: Warten wir ab!

Heinz Ohff

DER TAGESSPIEGEL, 2.1.1992


     
 

Heinz Ohff bei fulgura frango
Klaus M. Rarisch bei fulgura frango

 

 



 

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