Gift und Galle, hinter ihr läuft ein Kochtopf über, kreischt
sie vom vierten Stock runter:
»Wiste machen, dette ruff kommst?«
Mit weiten, starren Augen,
an seinem beschmutzten Kleidchen rumwischend,
bis unter die Wade ist am linken Bein das Strümpfchen gerutscht,
ängstet es sich die Treppen hoch;
fällt auf alle Viere.
Oben
steht schon die Entreethür auf.
In allen Ecken sucht sie nach dem Ausklopper.
Die ganze Küche ist voll Dampf!
Robert Ress
Der Lampenschirm taucht das ganze Zimmer
in rosiges Halbdunkel.
Das aufgedeckte Bett leuchtet.
Die Beine übereinandergeschlagen,
beobachtet sie mich aufmerksam durch die gesenkten Wimpern.
Mit einmal bläst
mein erwachter Widerwille dicke Rauchwolken um den Cylinder.
Eine blaue Schlange
windet sich gegen die Decke.
Robert Ress
Der Pastor spricht ein Gebet.
Kaum weint die Mutter.
Schon im Gespräch über den nächsten Kegelabend
steckt der Vater am Kirchhofsthor
eine Cigarre in Brand.
Jetzt steht die Wiege leer fürs Nächste.
Robert Ress
Meine kleine blasse Schwester
schickt mir eine blaue Tüte mit Bonbons.
Mit ihren dünnen Fingerchen hat sie sie zugeknüllt.
Ich mag sie nicht aufmachen.
Freue mich über die vielen Kniffe im harten Papier.
Reinhard Piper
Mir schlottern die Kniee.
Aufs Quaigeländer gelehnt
starre ich ins glitzernde Eiswasser.
Unters Hemd kriecht mir die Kälte.
Zitternd
mit gesträubten Federn
treibt ein Schwan heran.
Ich richte mich auf.
Mit blaugefrorener Hand
opfere ich der Weltseele
mein Frühstück.
Schnappen.
Durch die schwarzen Aeugelchen sieht sie mich dankbar an.
Reinhard Piper
In ihrem Schaufenster
lagerten bleiche Bonbons,
noch aus der Zeit Friedrich Wilhelms IV.
Ihre gebacknen Figuren
waren immer Blessirte oder Krüppel.
Unseliges Weib!
Aber ich liebte sie und träumte von ihr.
Sie war meine Freundin
und schenkte mir Kuchenkrümel;
zwischen ihnen ein Ohrstöpsel aus Watte.
Eines Morgens war der Laden zu.
Der Storch hatte ihr ein Kind gebracht.
Sicher
ein buckliches Kuchenmännchen.
Ach, und sie selber
war eingegangen zu ihren verstorbenen Süßigkeiten!
Georg Stolzenberg
Ich schlendre den Kanal entlang,
die Lippen zusammengekniffen.
Bande! Alle! Ich, du, er, sie, es!
Automaten, gefüllt mit Bosheit!
Auf dem Wasser
in jedem Wellenring eine wilde Ente.
Sie schwimmen heran.
Ich füttre sie.
Wir schließen Freundschaft.
Georg Stolzenberg
Vor seiner goldfunkelnden Burg
lauert der Riese.
Die dunkle Schlucht herauf
stuckert ein Reiter;
seine rostige Rüstung klappert,
die dünnen Beine schlurren über den Boden.
Abmaracht
hinkt der alte Schecke,
senkt den Kopf
und wünscht, er wäre schon Wurst.
Schnaubend zoppt er zurück!
Vor seinen Nüstern an einer langen Stange
gähnt ein riesiger Klingelbeutel mit roten Klunkern.
Der Ritter
fuschert mit zitternden Fingern in seiner Satteltasche.
Nur Krümel.
Donnernd lacht der Goliath,
fischt ihn,
krallt die dicken Knollenpranken um seinen Panzer,
knackt ihn auf
und frißt ihn wie einen Krebs aus der Schale.
Georg Stolzenberg
Graphik aus W. Jordans seinerzeitigem Innenplakat NEUE LYRIK
fürs Regiment Sassenbach
Nachbemerkung
zur Meiendorfer Internet-Miniatur Nr. 1
In den Jahren 1898 bis 1903 erschienen im Verlag von Johann Sassenbach in Berlin acht Hefte mit je 50 Gedichten:
PHANTASUS,
erstes und zweites Heft (1898, 99), von Arno Holz (18631929)
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NEUES LEBEN, erstes, zweites, drittes Heft (1898, 99, 1903), von Georg Stolzenberg (Klavierlehrer und Komponist, 18571941)
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FARBEN (1899) von Robert Reß (Gesangslehrer, 18711935)
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BEFREITE FLÜGEL (1899) von Rolf Wolfgang Martens (reicher Mann, 18681928)
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MEINE JUGEND I (1899) von Reinhard Piper (damals Buchhandelsgehilfe, später Verleger, 18791953) unter dem Pseudonym Ludwig Reinhard
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(Zeitweise gehörte der junge Lyriker Paul Victor zur Gruppe, schied aber aus, bevor es ans gemeinschaftliche Veröffentlichen ging.)
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Arno Holz hatte die Gruppe vermutlich spätestens ab 1897 zusammengezogen. Bis 1899 traf sie sich regelmäßig zu Werkstattsitzungen. Arbeitsziel war, die damalige neue Lyrikkonzeption von Arno Holz in Gedichte umzusetzen. Ideen dazu hatte er nach früheren Ansätzen im Verlauf gemeinsamer Arbeit mit Paul Ernst in den Jahren 189597 entwickelt. Als theoretische Schrift zum Thema 1899 REVOLUTION DER LYRIK.
Motivischer Anspruch war, möglichst genaue Ausschnitte eines zeitgenössischen Bewußtseinsstroms zu fassen die Realität um die Jahrhundertwende mit ihren Umwälzungen und Bedrohungen richtete allerhand im Bewußtsein an. Das sollte alles zur Sprache kommen.
Wie in den beiden Phantasus-Heften von Arno Holz (Reprint in RUB Nr. 8549) gehts auch in den Gedichten der »Schüler« oder »Jünger« um Wiedergabe innerer oder äußerer Wirklichkeit: ein Erlebnis, eine Beobachtung, eine Empfindung und vielleicht ihre Veränderung, ein Traum, ein Hirngespinst. Viele der Gedichte sind auch heute noch frisch, einige tief anrührend.
Die Literaturwissenschaft hat die Gedichte der »Holz-Schule« bislang unterschlagen. Beispielsweise schreibt Gerhard Schulz im Nachwort zum Reclam-Phantasus von »unfreiwilligen Parodien«. Er greift damit ungenau auf eine ältere, seinerzeit parteiische Verurteilung zurück, hat aber dem Anschein nach die Gedichte gar nicht angesehen. Einen ersten Aufsatz über die beachtlichen Gedichte des »Regiments Sassenbach« bietet das text+kritik-Heft Arno Holz (t+k 121).
Ottensen, 30. Mai 1985 / 14. Juni 1994
Robert Wohlleben
Etwas mehr dazu
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Zum 150. Geburtstag von Arno Holz
am 26. April 2013
Antreten zum Dichten!
Lyriker um Arno Holz
Rolf Wolfgang Martens
Ludwig Reinhard (d. i. Reinhard Piper)
Robert Reß
Georg Stolzenberg
Paul Victor
Mit Nachwort herausgegeben
von Robert Wohlleben
Oktav, 160 Seiten. Preis kart. 13 Euro
ISBN 978-3-942901-07-9
Im März 2013 bei
Reinecke & Voß, Leipzig.
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Regiment Sassenbach: Literarische Werkstatt um Arno Holz (18971903)
Motivgeflecht beim Regiment Sassenbach
Bedeutungslose Impressionen, unfreiwillige Parodien?
Die schwierige Rezeption der Gedichte
aus Arno Holz Lyrikwerkstatt
(bei signaturen-magazin.de)
»Kennst du das Land«
späte Compagnie-Arbeit mit Hans Schlegel
(hg. von Klaus M. Rarisch)
Der Leutnant im Tiergarten
gesehen von Arno Holz und Paul Ernst
Parodien auf Gedichte von Arno Holz und seinen »Schülern«
Bei Robert Reß gibts was zu HÖREN:
»Auf der Schützenwiese«
und
»Der Herr Privatdozent«
aus seinem Gedichtband »Farben« von
1899,
gesprochen von RW
und mit Gitarren begleitet von Bernd Liefke und Thomas Schmidt
Rechte an Auswahl und Kommentierung bei RW, im übrigen bei den Erben der Autoren
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