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Zielscheibe Arno Holz

Gerhard Schulz: Arno Holz

von Robert Wohlleben



Gerhard Schulz, Ordinarius für deutsche Literaturwissenschaft in Melbourne, schrieb eine Monographie über Arno Holz (1863–1929). Die Arbeit soll »eine Bestandsaufnahme des Werkes aus dem Blickpunkt der Gegenwart« sein und dabei die »sozialen, psychologischen und literaturgeschichtlichen Koordinaten des Autors« berücksichtigen. Keineswegs gehe es darum, »das Standbild eines Autors zu errichten oder die Rettung eines Verkannten zu versuchen«.

Was kommt dabei heraus? Einige Beispiele: »Dem scheinbar Konsequenten fehlte es an intellektueller Konsequenz und Orientierung« (S. 36). »Maßlosigkeit und Überheblichkeit in der Einschätzung seiner eigenen Leistungen« (S. 98). »Holz’ Unfähigkeit, in eigenen Angelegenheiten differenziert zu denken« (S. 108). Die Dramenfigur Dorninger ist »ein wesentlicher Teil seiner Persönlichkeit« (S. 125) und: Dorninger ist »das Porträt eines Psychopathen« (S. 126). »Holz, von finsteren Tyrannengelüsten beherrscht« (S. 190). »Masochismus gesellt sich zu Sadismus« (S. 203). Bei Holz kann nicht »an abnormalen Zügen oder Tendenzen in seiner Persönlichkeitsstruktur gezweifelt werden« (S. 209)! »Arno Holz in seiner verirrten Bürgerlichkeit« (S. 229). Werke von Arno Holz schwollen »ins Ungemessene und Maßlose« wie »Die Blechschmiede« (S. 143), und über ein Gedicht aus dem »Phantasus« heißt es: »Das Ganze zerschellt an der Trivialität des Vorwurfs« (S. 204).

Arno Holz also ein intellektuell minderbemittelter, gesellschaftlich desorientierter Psychopath. Dem Verdacht, ein Standbild errichten zu wollen, setzt sich Gerhard Schulz bei so viel massiver Diffamierung gewiß nicht aus. Seine Studie enthält zuhauf Indizien, wie sehr Arno Holz ihm auf die Nerven geht. Sie ist ein Beispiel, wie in der Literaturwissenschaft Ressentiment zur Methode gemacht werden kann.

Trotz seines eher schmalen Werkes ist Arno Holz stets ein sperriger Autor geblieben. Seine Werke verlangen, zur Kenntnis genommen zu werden. Aber sie sind vielfach keiner der definierten literarischen Strömungen des Jahrhundertanfangs eindeutig zuzuordnen, – was insbesondere »Die Blechschmiede« und »Phantasus« in ihren großen Spätformen angeht. Als zeitlebens sprachverliebt oder gar hypnotisiert durch Sprache kann man Arno Holz, den unentwegten Sprachexperimentator, getrost bezeichnen. Will man seine dichterische Entwicklung durch so viele verschiedenartige Ausdrucksformen hindurch verstehen, muß man sich zunächst über die Funktionen klarwerden, die Sprache für das Individuum im gesellschaftlichen Kontext haben kann.

Deutlich ist für Arno Holz ihre Funktion als »Abzeichen« lebenswichtig: Dies Abzeichen kann Ansprüche sowohl signalisieren als auch sichern und darüber hinaus Status dokumentieren. Mit den zunächst naiv und direkt übernommenen Formen der konventionellen Literatursprache der 80er Jahre schrieb der junge Holz die Lyrik, die in seinem »Buch der Zeit« (1885) gesammelt ist. Doch schon rasch muß er empfunden haben, daß diese Sprachformen ihm nicht authentisch zugehörten. Das bedeutete einen Verlust der Sprache, und seitdem ist er in seiner gesamten Entwicklung als Dichter folgerichtig auf der Suche nach der verlorenen Sprache.

Nimmt man seinen Charakter hinzu, wie er z. B. in seiner umfangreichen Korrespondenz, in Berichten über ihn und nicht zuletzt in seinen literarischen Äußerungen sichtbar wird, versteht man die Krisenhaftigkeit seiner Entwicklung. So verbissen-genau hielt er sich an die Spielregeln seiner Zeit, daß er z. B. für Innovation und Hochleistung auf literarischem Gebiet gleiche Honorierung beanspruchte, wie sie von der Wirtschaft auf naturwissenschaftlich-technischem Gebiet zugestanden wurde.

So führte er ein auf Arbeit ausgerichtetes Bürgerleben und wehrte sich dagegen, zum Marginalen gemacht zu werden wie so viele andere gleichzeitige Künstler. Zu seinem Rahmen gehörte die Dachkammer als Arbeitsplatz ebenso gut wie die stinknormale Wohnung fürs Familienleben, die wütende Verteidigung seines Platzes im Pantheon der Literatur ebensogut wie die Aufgeräumtheit des Backhühner-Essens mit den Freunden regelmäßig jeden Mittwochabend.

Gewiß ist Arno Holz eine »problematische Natur« und der Umgang mit ihm – damals wie heute – nicht leicht. So mag zu verstehen sein, daß Gerhard Schulz in seiner Untersuchung prononciert und wiederholt mit der Kategorie des »Psychisch-Abnormen« oder des »Psychopathischen« operiert: Damit präpariert er Holz als eine Art Pappkamerad und bringt ihn auf Zielscheibendistanz. Als Instrument für eine literaturwissenschaftliche Untersuchung sind solche Kategorien jedoch ungeeignet, denn woher sollte eine Norm als Bezugsgröße zu gewinnen sein? Literatur oder Menschen nach der Norm gibt es nicht.

Gerhard Schulz praktiziert ein Verfahren, Standards in seine Untersuchung einzubringen, die dann von Arno Holz nicht erfüllt werden. Schulz hält die Standards offensichtlich für von vornherein valid und folgert nichts aus dem Umstand, daß sie für Arno Holz so wenig passen, – also unangemessen sein könnten. Immer wieder geschieht es, daß Gerhard Schulz seine Vorstellungen von Persönlichkeit, Vorgehen und Aufgaben eines Dichters durch Arno Holz verletzt sieht: Schulz verlangt vom »Phantasus« eine »wirkliche Transzendenzerfahrung«, wo er bei Holz nur die »auslotbare Tiefe der eigenen Seele mit ihrer bunten Fülle von Gedanken, Gefühlen, Vorstellungen und Empfindungen« (S. 208) feststellt. Holz’ »starke Sentimentalität« berührt ihn peinlich und wird nach dem Standard einer aktivistischen und unemotionalen Intellektualität als »Rückzug« verurteilt (S. 196). Die Liste der von Schulz an Holz gestellten und unerfüllt gebliebenen Forderungen ist lang. Ihr Muster: Dem Schlachter übelnehmen, daß es bei ihm keinen Fisch gibt.

Gerhard Schulz befaßt sich bei der Betrachtung Holzscher Texte so gut wie ausschließlich mit ihrer Oberflächenbedeutung. So kann es geschehen, daß er in Werken aus verschiedenen Schaffensphasen – wie z. B. in den beiden Heften »Phantasus« von 1898/99 und im erstmals 1916 erschienenen großen Phantasus – fast die gleichen Motivsummen findet und daraufhin feststellt: »Holz macht in seiner Laufbahn als Schriftsteller keine eigentliche Entwicklung durch« (S. 17). Bei seiner Art der Fragestellung erscheint ihm auch die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit den Holzschen Dramen nicht als sinnvoll: Er gesteht ihnen allenfalls »dokumentarischen Wert« zu (S. 98). Übersehen ist dabei beispielsweise, wie das an der Schwelle zum Alterswerk entstandene Drama »Sonnenfinsternis« (1908) sozio- und psycholinguistische Fragestellungen geradezu herausfordert.

Und daß die Holzsche Stilentwicklung bis hin zur endlich gefundenen persönlichen Sprache im Alterswerk durch einige radikale Neuorientierungen charakterisiert ist, kommt bei Schulz’ Betrachtungsweise nicht in den Blick. Angesichts des großen »Phantasus« resigniert er: »Der Sinn bei Holz liegt suggestiv in Klang, Rhythmus, Ton und ist als Denkzusammenhang nicht mehr zu fassen« (S. 227). Wie nun aber der Sinn zu finden sei, bleibt unerklärt. Nirgendwo ist versucht, die Leistung der Sprache im »Phantasus« zu formulieren. Nicht einmal auf den richtungweisenden Erklärungsversuch Döblins wird hingedeutet, wonach das Funktionieren der »Phantasus«-Sprache mit der Wirkungsweise eines Kandinskyschen Bildes zu parallelisieren sei.

Daß den »Phantasus«-Texten durchaus Denkzusammenhang eignet, mag man z. B. dem nicht genug zu empfehlenden Tonband der Edition S Press abhören, das Klaus M. Rarisch m. E. authentisch mit dem »längsten Satz der Weltliteratur« besprochen hat (s. meine Rezension in den horen 94, S. 59). Voraussetzung allerdings, daß man Denken nicht im »Kopf« aufhören läßt, d. h. die doch künstlichen Grenzen unemotionaler Intellektualität wären aufzuheben.

Selbst wo sich Gerhard Schulz mit Bedeutungen befaßt, kommt es gelegentlich zu Fehlinterpretationen: Wenn z. B. Holz zur Zeit des 1. Weltkrieges sein »Phantasus«-Stück »Macht-Mythus« schreibt, erblickt Schulz in der dort gegebenen »Schilderung von Grausamkeiten und Blutlust, von Machtakten und Besessenheiten« nur »Gleichgültigkeit gegenüber den Grausamkeiten der den Dichter umgebenden Welt« und Konformität »mit den inhumanen Tendenzen des Zeitalters« (S. 189), statt – was leicht wäre! – gerade diesen Text als Holzens Antwort darauf, als kathartische Lossprechung aufzufassen.

Auch auf faktische Ungenauigkeiten ist hinzuweisen. Besonders eklatant: Die Rolle, die Paul Ernst für Holzens Beziehung zum Sozialismus spielte, ist ganz unterschlagen. Lediglich in einer Anmerkung im Zusammenhang mit der Entstehung der Komödie »Sozialaristokraten« (1896) findet sich der Hinweis: »Ernst wohnte zur fraglichen Zeit bei Holz und arbeitete mit ihm zusammen« (S. 250). Also nichts über ihrer beider Mitarbeit an der Zeitschrift »Der sozialistische Akademiker« und auch später nichts über die Zusammenarbeit bei der Entwicklung der neuen »Phantasus«-Lyrik ab Mitte der 90er Jahre.

Insgesamt leidet die Materialbasis der Studie darunter, daß der Arno-Holz-Nachlaß (seit 1969 öffentlich zugänglich) nicht eingesehen wurde. Ferner wäre zu wünschen gewesen, daß über die im Druck vorliegenden Quellen hinaus, u. a. aus dem Nachlaß in den Horen 88, auch unveröffentlichte Materialien benutzt worden wären. So liegen allein im Arno-Holz-Archiv der Berliner Amerika-Gedenkbibliothek etwa 2500 Briefe von Holz. Diese Dokumente zeigen einen gewiß oft irrenden, gewiß zwiespältigen, gewiß schwierigen Menschen im fortwährenden Kampf mit Schwierigkeiten, die er sich selbst schuf und die andere ihm bereiteten. Beim Einblick in diese Dokumente hätte sich allmählich Vertrautheit einstellen können mit den Ecken und Kanten der Person Arno Holz. Eine fratzenhafte Überzeichnung wäre vermieden worden.

Gerhard Schulz: Arno Holz. Dilemma eines bürgerlichen Dichterlebens. München: C. H. Beck (1974), 277 S.

[nachgestelltes Motto]

Makulaturprofessor

Wohin auch meine Zehen treten –
disjekte Membra des Poeten.
Dies Kunstwerk tut mir wirklich weh,
das macht, ihm fehlt die Grundidee!

    Arno Holz (Die Blechschmiede)

die horen, Nr. 103, 3. Quartal 1976, S. 63 f.