Johann Gottfried Schnabels Calcant Miszelle von Robert Wohlleben Vor einer Weile begegnete mir ein Verwandter des in Schnabels »Insel Felsenburg« [1] vorkommenden Calcanten, und zwar in Johannes Gillhoffs »Jürnjakob Swehn der Amerikafahrer«. In seinem sehr interessanten Bücherschrank hatte mein Vater eine Ausgabe aus den dreißiger Jahren, [2] die auf mich überkommen ist. Anders als eine ganze Reihe anderer Bücher aus dieser Quelle hatte ich meiner Erinnerung nach dies Buch in der Jugend nie gelesen, bis ich es mir relativ kürzlich und endlich einmal zu abendlicher Lektüre vornahm und »aufmerkte«: noch ein halsstarriger kirchenmusikalischer Beihelfer! Rückblick auf den Schnabelschen Calcanten In »Des Posamentirers Harckerts Lebens-Geschicht« [3] erzählt Harckert »eines Dorff-Schulmeisters Sohn aus der Ober-Laußnitz« von einem seiner beiden Schwäger, einem Leinweber, »der ein gantz heimlicher Narre war, denn weil er etwas weniges schreiben und im Donate Mensa [4] decliniren gelernet, ließ er sich den Dünckel einkommen, es wäre niemand als er, würdiger, mit ehesten ein Viertels-Meister, hernach Raths-Herr, und endlich gar Burgemeister in der Stadt zu werden«. Dieser habe fest an einen in seinem Keller vergrabenen Schatz geglaubt, der ihm den ersehnten gesellschaftlichen Aufstieg ermöglichen würde. »Derowegen streckte der arme Schlucker sein gantzes Vermögen dran, diesen Schatz von berühmten Schatz-Gräbern heben zu lassen, allein, je mehr er sich darbey in recht hefftig drückende Schulden gesetzt, je stärcker fand er sich auf die letzte betrogen [ ].« Er hatte sich also gründlich ruiniert und bewarb sich höchst ausführlich in gestelzt elaborierter Diktion schriftlich um den »Calcanten-Dienst«. Der Stadt-Organist, »ein gantz besonderer Spaas-Vogel«, machte sich über ihn lustig und ihn »vollends zum Narren«: »In folgenden Zeiten hat dieser Organist fast immer seinen Schertz mit diesem gelehrten Calcanten getrieben, und ihm gemeiniglich die Thone angezeiget, aus welchen er treten solle, so daß derselbe auf die Gedancken geräth, das Werck könne unmöglich recht gehen, wenn er nicht vorhero mit dem Organisten behörige Abrede genommen hätte.« Das hatte Folgen, denn »einesmahls, da der Organist unpaß, und der Cantor, welcher ein sehr mürrischer Mann war, die Orgel zur Music selbst spielen muste, kam mein Schwager eiligst hervor gelauffen, und fragte den Cantor: aus welchem Tone das Stücke gienge, ob es dur oder moll, auch was es vor Tact wäre?« Unwirsch kommandierte der Kantor den Kalkanten zurück in die »Bälg-Kammer«, wo dieser aber trotz mehrfacher Aufforderung stur untätig blieb. Schließlich ließ sich der Kantor durch einen Schüler an der Orgel vertreten, »um meinen Schwager einen tüchtigen Ausputzer zu geben«. Heftiger Wortwechsel wächst sich beim Kantor dahin aus, »daß er dem Calcanten ein paar Maulschellen gab, dieser restituirte dieselben cum interesse, warff auch des Cantors schwartze Peruque zum Schall-Loche auf den Kirchhoff hinnunter ihn aber selbst zur Balg-Kammer [!] hinaus«. [5] Die Sache kam vor Gericht. »Dieses machte aber so wohl meinem Schwager als dem Cantori vielen Verdruß, und fehlete wenig, daß der erste nicht sehr zeitig wiederum den Dienst verlohren hätte, der andere aber sonsten gestrafft worden; Jedoch endlich wurde alles in der Güte beygelegt, ich weiß aber selbst nicht auf was vor Art«. Harckert wechselte nämlich vorher auf eine andere Schule, »wo die Schüler nicht so strenge als von unsern Schul-Collegen gehalten« wurden. Der Gillhoffsche Windmacher In einem Brief an den alten Lehrer berichtet Jürnjakob, daß die Einwanderer »meist alles plattdeutsch und aus Mecklenburg« in ihrem Ort in Iowa eine neue Kirche gebaut haben. Die Orgel ist auch neu:
Fazit Calcant und Windmacher haben zwar beide ihren Dünkel, sind aber in anderer Hinsicht wie Gillhoff geschrieben hätte »verschieden getrachtet«. Dem Calcanten bei Schnabel geht es ums Musikalische, dem Windmacher bei Gillhoff ums Arbeitsrechtliche. Unterschiedlich auch der Ausgang der beiden Streitfälle: Während es in der Oberlausitz zunächst vor Gericht geht, wird in Iowa wo es nun auch nicht zu Tätlichkeiten gekommen ist lediglich verhandelt und sogleich zu einer einvernehmlichen Lösung des Konflikts gefunden. Gillhoffs Umgang mit den Quellen für »Jürnjakob Swehn« Wie Gillhoff im Vorwort schreibt, basiere sein Briefroman auf Briefen, die aus dem Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin nach Amerika Ausgewanderte an seinen Vater, den alten Lehrer in Glaisin bei Ludwigslust, gerichtet hatten, ergänzt durch Berichte von Rückwanderern. Alles dann im Endergebnis dem fiktiven Jürnjakob Swehn zugeschrieben. Im letzten Absatz des Vorworts geht Gillhoff auf sein redaktionelles Verfahren ein:
Von darüber hinaus etwa Hinzuerfundenem ist nicht die Rede wo sich doch anläßlich der deutlichen Parallelen zwischen Calcant und Windmacher leicht daran denken ließe. WENN Gillhoff denn Schnabels Roman gekannt hätte womöglich in Ludwig Tiecks 1828 erschienener kürzender Bearbeitung und »so frei« gewesen wäre, sich daraus zu bedienen. Vielleicht handelt es sich aber doch nur um eine Koinzidenz. Insgesamt liest sich Gillhoffs Buch »kurzweilig«. Doch als ich im Schlusskapitel war (»13. Vom Krieg und vom deutschen Erwachen in den Staaten«), [7] mußte ich doch »schlucken«. Abgesehen vom patriotischen Aufwallen zu Beginn des Ersten Weltkriegs und von verunglimpfenden Spitzen gegen John Bull und Uncle Sam, brandet es da auf, fast wie im Vorgriff auf Hans Grimms »Volk ohne Raum«. Jüngeren, an Rückwanderung denkenden deutschen Einwanderern rät Jürnjakob, nach dem deutschen Sieg erst einmal abzuwarten, bevor sie sich im »neudeutschen« Osten ansiedeln: »Seht euch auch vor, daß ihr nicht vorbeigreift. Denn was gutes Land zum Farmen ist, da werden die eingeborenen Deutschen wohl zuerst nach greifen und nicht so lange warten, bis ihr kommt. Es gibt drüben viele Büdner, Häusler und Tagelöhner, die dann nach dem Osten fahren, wo er neudeutsch wird. Also abwarten und Achtung geben auf den Rat der Alten!« [8] Abgeschlossen hatte Gillhoff die Arbeit am Buch im Sommer 1916, also noch vor dem »Steckrübenwinter« 1916/17. Es dürfte noch deutsche Siegesgewissheit geherrscht haben mit der es wohl nicht mehr so weit her war, als das Buch 1917 im Druck erschien. (»Jürnjakob Swehn der Amerikafahrer« ist beim Projekt Gutenberg enthalten, doch ohne dies Schlußkapitel. Wie es sich in dieser Hinsicht mit den zahlreichen Nachkriegsausgaben seit 1949 verhält, weiß ich nicht.) Dezember 2023 Anmerkungen: |
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