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RW im Garten (Photo: Brigitte Wohlleben)Pantomime im Kreis
von Robert Wohlleben

Der Tageszeit entsprechend, stand die Sonne hoch, Ihre mißtrauischen Reflexe gleißten auf dem Wasser der Kleinen Alster, das von wer weiß woher in träge Vibration versetzt wurde. Ich lehnte mich weiter hinaus über das Eisengeländer und versuchte von meiner Höhe aus, im opak schimmernden Wasser diese treibenden Partikel auszumachen: Algen oder Sedimente. Ich überlegte einen geradlinigen Verlauf (Rolle vorwärts, fallen lassen), der sich so wohltuend vom sonst so Gewohnten unterschiede. Doch durch Räuspern brachte sich neben mir Repsold in Erinnerung.

Ich stellte mir seine schnappenden Suppenbläserlippen vor, als er nörgelnd, mit der Spur einer wässrigen Hemmung in der Stimme, meinen Namen aussprach und mir, ohne eine Antwort abzuwarten, Frage um Frage stellte; – hier und jetzt, wo die Luft verdorrt und ausgelaugt stand und ein stickiger Aschegeschmack tief hinten in den Rachen hineinstieß. Er hatte mich ausgemessen und ich schien seine Kataloge in Unordnung gebracht zu haben. Meine weder ihn noch mich betreffenden Briefe erhielten jetzt einen Trauerrand. Seine Worte, seinem wohlgeordneten Wortschatz entlehnt und nach angemessener Einfärbung an mich gerichtet, fand er an entlegenen Schrottplätzen seines Gedächtnisses wieder, desgleichen sein Gelächter, das nur noch er begriff. Als ob er nichts anderes zu tun hätte: wieder maß er mir ein neues Muster an. Er merkte auch alles: ich trieb Dinge, an die ich sonst nicht im Traum gedacht hatte.

Das Wort Traum wollte mir plötzlich ein Stichwort scheinen, von dem aus ich in einzigem Zuge alle Abläufe in neue Faltungen drapieren könnte. Doch schon während ich mich umwandte, um gleich Repsold mit dem Rücken gegen das Geländer zu lehnen, riß mir im Atem Bitterkeit darüber, daß ich mir selbst nicht würde glauben können, spräche ich solche Formeln, von fern herdringende aus verbotenen Spielen, brüchigem Eis und Einsamenherbst. Repsold sprach weiter, grämlich und drängend. Ein neuartiger Mechanismus entzog meine Antworten seinen Fragen, nichts fiel ihm ein außer »Zufall« und »Widerhall«. Repsold wollte partout Gras wachsen hören. Immer noch hielt mir Enttäuschung über den Verlust des Auswegs, der als einziger sich angedeutet,hatte, die Gesichtshaut gestrafft. Schockende Wellen von Verkehrslärm schwemmten gegen mich. Um den Rathausmarkt raupten Straßenbahnen, rotierten Autokolonnen und spannen Fußgänger die Spuren eines unglaubwürdigen Karambols. Ich konnte nichts tun. Selbst die winzigste Bewegung,wäre gegen einen Wall von Überlegungen geprallt.

So stand ich gegen die helle Staubigkeit des offenen Platzes. Repsold wand sich unter seinen Schultern und gurgelte weiter seine Fragen. Ob ich denn niemanden mehr brauchte – ihn nicht und andere nicht. Ob ich nicht mehr genug Substanz hätte, um eine Anrede auf mich zu nehmen. Wieder riß eine Vergitterung auf: ein blendender Durchblick, plötzlich und eisblau. Doch dann trieben Blöcke von schwerer Wucht in die Perspektiven: ein Dschungel wucherte wild und heckte seine wütenden Blumen. Von Substanz zu reden war Frevel: wie sollte mein mir zugefallener Anteil an Substanz der Menschheit bei deren hybridem Wachstum anders als dünn und zaghaft sein. Hört denn nie der Mythos auf, uns zu tyrannisieren? Ich lachte und lachte in Repsolds Fußballstargesicht. Offensichtlicher hätte er seine Unglaubwürdigkeit nicht machen können. Jetzt stimmte alles: Teergeruch von dort, wo fern ein Straßenbau voranschritt, mißtönende Straßenbahnglocken, die rauhe, starre Kühle des Metalls an meinen Fingerkuppen und vor allem dies Licht, das stetig wie Staubfall niederging; – alles dies war an seinem Ort, aber hier fragt man doch nicht.

Schatten von Vorübergehenden glitten über unsre Füße. Ich wartete auf Repsold, und er war schon wieder da: er hätte den Eindruck, ich kapselte mich ab und zöge mich auf mich selbst zurück; und wieder die Substanz. Aber ich hatte nicht länger dies Loch hinter mir: nein, ich wäre so, von einem herbeigeführten Zustand könnte keine Rede sein. Repsold schnappte aquariumswürdig, monströser Zierfisch. Während verschiedene Glocken von da und dort die Stunde schlugen, entwickelte er Ansichten in Bezug auf die Existenz des Menschen, ein pausenloser Optativ. Mit Antithesen, Fragen und Redensarten bastelte er an seinem hergespiegelten Lebensgefühl. Schon zogen mir nur noch ohnmächtige Schauer von Erinnerung über die inneren Flächen. Meinen Blick hängte ich an einen Polizisten, der unter seiner weißen, sonngrellen Mütze den Platz überwandelte, seine Arme signalisierten pendelnd in die Sonnenstunde. Er geriet an einen Fußgängerüberweg, wo er unter wiederholtem Wenden des Kopfes bei der Ampel verhoffte. Halt bei Rot: man sieht, wie viel heute die psychotechnische Beeinflussung erreicht. Durch Abbruch seiner Rede brachte sich Repsold in Erinnerung, der mich inzwischen triumphant widerlegt hatte. Um uns krümmte sich der Raum. Ich wandte mich gegen Repsold und sprach ein Wandteppichmuster in Grau und Braun, fast alte Chinaarbeit mit versteckten Silberfäden, die hier und da aufglommen, ein langgeschwänzter Drache wuchs und züngelte – oder Federschlange? Hiermit staffierte ich mich aus und wollte von Repsold einen Beweis für die Relevanz seiner Thesen haben. Repsold hingegen überschritt einen Feuerbach, der Würfel war gefallen und zeigte: Gott.

Ein Lastzug wälzte sich durch mein Gehör. Ein uralter Schlager pulste an irgendeinem Ort im Hirn: wie ich mir einen Falken abgerichtet hatte. Über die Himmelsiris blänkerte ein Sportflugzeug. Für meine Einwürfe einen Gegenstand zu reklamieren, gab ich auf, als ich zum soundsovielten Male einem stumpfen Laut nachgelauscht hatte, einem gedämpft gedachten von Graphit oder Juninacht voll Regen. Ich griff ihm hinterher und fiel in diese Gebärde, aus der ich mich selbst ansah: die Hand, zur halben Gesichtshöhe erhoben, hielt nichts als die Schatten der gekrümmten Finger. Repsold, einen Moment lang zum Versatzstück degradiert, wurde wieder Mittelpunkt meines Gesichtsfelds. Auch er sah mich an. Er sagte keinen Ton, schien erstarrt zu sein, als ginge es ihm wie mir. Sein Gesicht war von großer Plastik und gedoppelter Farbigkeit, mein Blick stieg in jede Schattenpore hinab – keinem Bildhauer nähme ich soetwas ab! Doch Gottseidank! einmal mehr gelang mir der Münchhausentrick trotz meiner modisch kurzgehaltenen Haarpracht. Freude an dieser mittelmäßigen Quadrille kam in mir auf, an dieser Pantomime im Kreis, in die Namen einschossen: Repsold hielt sich noch in schwerem Gewölke. Der wortlose Wochentag wies erneut seine blutige Blessur: Repsold ordnete sich zu einem Grinsen und kniff die Augen gegen die hochstehende Sonne. Ich hob die Schultern und ließ sie vorsichtig wieder hinunter.

Erschien 1960 in der Nummer 5 oder 6 der Hamburger Zeitschrift Student und Gesellschaft

RWs Lohnsteuerkarte 1960


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