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Ich zôch mir einen valken    mêre danne ein jâr.
dô ich in gezamete    als ich in wollte hân
und ich im sîn gevidere    mit golde wol bewant,
er huop sich ûf vil hôhe    und fluog in anderiu lant.

Sît sach ich den valken    schône fliegen:
er fuorte an sînem fuoze    sîdîne riemen,
und was im sîn gevidere    alrôt guldin.
got sende si zesamene    die gerne geliep wellen sîn!


Der von Kürenberg


Menschliches Elende

Was sind wir Menschen doch! Ein Wohnhaus grimmer Schmerzen.
Ein Ball des falschen Glücks, ein Irrlicht dieser Zeit,
Ein Schauplatz herber Angst, besetzt mit scharfem Leid,
Ein bald verschmerzter Schnee und abgebrannte Kerzen.

Dies Leben fleucht davon wie ein Geschwätz und Scherzen.
Die vor uns abgelegt des schwachen Leibes Kleid
Und in das Totenbuch der großen Sterblichkeit
Längst eingeschrieben sind, sind uns aus Sinn und Herzen.

Gleich wie ein eitel Traum leicht aus der Acht hinfällt
Und wie ein Strom verscheußt, den keine Macht aufhält,
So muß auch unser Nam, Lob, Ehr und Ruhm verschwinden.

Was itzund Atem holt, muß mit der Luft entfliehn,
Was nach uns kommen wird, wird uns ins Grab nachziehn.
Was sag ich? Wir vergehn, wie Rauch von starken Winden.


Andreas Gryphius


Gebet

Den Nächsten lieben sollst du, steht geschrieben.
Verzeih mir, Herr! ich hasse meine Nachbarn.
Steht mir Helene Harth, die böse Sieben,
im Weg mit ihrem zoophoben Dachsparrn,

spinnt in halbstundenlangen Diatriben
vorm Haus Herr Stierle-Stackelberg sein Fachgarn,
so will ich beide grüßen – aber lieben?
das, Gütiger, liegt außerhalb des Machbarn.

Kannst du nicht gegen ihr Beiseitestieren,
mit dem sie die Entschlossenheit kaschieren,
den Kirschbaum gegenüber meinem Fenster

zu fällen, um dort Müll zu deponieren,
Gerechter, mich desensibilisieren?
und mich beruhigen: «Du siehst Gespenster»?


Ernst-Jürgen Dreyer ©