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Transsubstantiation
(Atelierkulisse mit Zeichner)

von Robert Wohlleben

Jens Cords: Im Zerrspiegel 1960?


Das Cembalo klirrt und dahinter zucken unsichtbar Schamanentrommeln, als Aldringer (Beschwörungsjohlen in der Geste) durch den einfallenden rötlichen Lichtbalken in den Wust von Papier greift, der (absturzbedroht) am jenseitigen Tischrand dem Raum eine Dimension von Tiefe mitteilt. Mit der rückläufigen Bewegung zieht Aldringer einen angegilbten Zeichenblock zu sich heran, richtet den Block nach der Tischkante aus und zieht (gleichzeitig) mit den Beinen den Stuhl näher an den Tisch heran (Füße um die Skelettstuhlbeine gehakt). Jetzt ist der Kreis abgesteckt. Der Zauberkreis abgeteilt von allen Nicht-Zauberkreisen (abgehoben, abgesenkt), geglättet ein Hexentanzplatz: Fläche für neue ›Projektionen‹ (Ausgießungen und Verwandlungen).

Abwartend läßt Aldringer die Hand mit dem Federhalter verdunkelnd über dem unbefleckten Papier schweben. In langsam pulsender Bewezung sammelt sich dort die Schwere. Gesicht über Hand und Papier gebeugt, beobachtet er stumm das zunehmende Zittern von Hand und Schatten (kein Blick für die Umgebung, die nicht einmal mehr Peripherie ist). Da verklirrt das Cembalo, versiegt in ein leeres Rauschen, mit trockenem Knacken schaltet sich der Plattenspieler aus.

Ein kleines Zucken läuft durch Aldringers Gesicht: ausgehend vom Mund, teilt es sich über die Oberlippe den Nasenflügeln mit, verschwindet gleichzeitig aus den Mundwinkeln heraus (irgendwo) in den Randgebieten Kinn und Kiefer, läuft von den Nasenflügeln aufwärts den Augen zu und wellt das schweißglänzende Wangenfleisch zu Zähflüssigem, kreist dann um die Augen herum in scheuen Fältchen, wird durch einmaliges Brauenzucken eingefangen und von dort in echohaftes Stirnrunzeln versenkt.

Doch Aldringer gibt nicht auf. Wieder Moll und Cembaloklirren, encore und da capo. Als Aldringer über seine feuchte Stirn wischt und langsam sein Gesicht gegen das Blatt neigt, zucken wieder die unsichtbaren Trommeln (die Trommelfelle in Schwere abziehender und Schwere sammelnder Vibration). Schon wechselt das Licht, wird zäh und raumabstoßend, doch noch zucken Ein- und Ausstrahlungen gegeneinander im Kreis herum, sich steigernd in Stärke und Wucht. Aldringers zitternde Hand ist der Seismograph, der anzeigt, wann hier alles zurück- und abgedrängt ist (Sanftes versunken, Flüchtiges verflogen). Aldringers Hand erstarrt im Licht, verharrt an der Stelle wie der emporgeworfene Stein am Umkehrpunkt der Bewegung, senkt sich dann auf das gelbliche Blatt. (Senkt ihren Schatten darüber als eine neue Götterdämmerung). Durch seine leere Hand strömt jetzt Fülle ein: Gegenstände neuer Physiognomie, beispiellosen Schattenwurfs, verschlungener Gänge von Perspektiven). Der Unterarm preßt den Block gegen die Tischkante. Aldringers Profil gegen das rötliche Licht ist eine gewichtslose Kräuselung aus Licht und Dunkelheit. Seine Hand folgt auf dem Blatt ihren Kursen und baut daraus ihren Raum.

Zwischen zwei Grenzen an pyramidenzersplitterten Gewitterdrohungen spaltet ein Abgrund (unbestimmt). Unbestimmt durch die Massen hier und dort. Aldringer spinnt einen Faden über den Abgrund und noch einen und noch einen, er webt ein Netz von Fäden über den Abgrund (die Lockung und der Schrecken scheinbarer Sicherheit). Dann ein Vorstoß und eine Flucht: eine diffuse Spur hinein in eine Wüste von Anfangslosigkeit. Die Feder kratzt übers Papier und stemmt sich gegen diese Raumlosigkeit. (Aldringer weiß: wo keine Echowand steht, liegt die Möglichkeit, die raumlose Wüste zum Raum zu machen), indem er kühn dorthinein aufbricht: sich einen Raum schafft und zum Sklaven macht. Die Feder wölkt eine graue Struktur um einen galaktischen Strudel und schwingt vor und zurück (und kreist und rotiert) zu einer verlorenen Sarabande. Hat hier einen Pol (und dort einen), sich zu wenden, in eine andre Richtung anzugreifen. Durchschweift den Raum in Bögen und Schleifen und Kurven (ergreift und verbraucht ihn).

Kein Vorbild und Beispiel für diesen Raum, weil er gerade deshalb entstand. Die Feder scharrt an einer scharfen, doppelten Bahn entlang und schafft ihr ein Glacis von festen Blöcken. Entfesselt: ein Gewirr von Durchschnitten, Diagrammen, Fluchtlinien. Dann schnellt sich eine Lawine von schwarzen und grauen Vermischungen zurück in jene anfänglichen Gewitterdrohungen, stürzt ab in den übersponnenen Abgrund, zieht noch zuletzt in diese Spurlosigkeit ihre Marken hinein. Bleibt jetzt verschwunden, läßt nur noch (tief versunken) eine Ahnung von Bewegung, die dann und wann sich rührt, aufwellt und unter dem sperrenden Netz hochdrängen will, dann aber doch wieder fällt, tiefer und tiefer, bis sie nur noch eine Täuschung ist.

Aldringer lächelt. (Die Schamanentrommeln hinter dem Cembalo somnambul im Ohr). Er schaut sich um zum Plattenspieler, der wie irr den Plattenteller rotieren läßt. (Der Blick hinter der Horde her, die nach der Beschwörung zur Jagd in den Schattenwald hineintorkelt). Der Blick (unter hängenden Lidern heraus) zurückgewendet, die Arme leicht erhoben. (Die Bewegung, die an den Armen das Gewand aufstreift: ich wasche meine Hände in Unschuld). Aldringer reißt das Blatt vom Zeichenblock los und hängt es ins Licht. (Dieser Doppelsinn: Zeichen-Block). Steht vom Stuhl auf, geht einen verkrümmten Kurs zur Tür, löst aus ihren Brettern drei Reißzwecken und heftet das Blatt (zwei oben, links rechts, eine unten, Mitte) an das Holz der Tür. (Doch ist das alles schon Abbruch).

Fragmentarisch erschienen in
Student + Gesellschaft (Hamburg), 1960

Rechte am Text bei mir, an der Zeichnung bei Jens Cords