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Aufbruch aus Prinzip:
Die Kreativität des Abenteurers –
Zu vier Neuerscheinungen aus dem Abenteuer-Genre

Was fasziniert am meisten in den Abenteuererzählungen, in den spannenden Berichten aus exotischen Gefilden? oft gar nicht die Schilderung dieser Exotik, sondern die Atmosphäre des Neuanfangs, die Aufbruchstimmung des Helden also, sein Auftreten als Wanderer zwischen Heimat und Fremde. Der Abenteuerheld kann sich vom Vertrauten lösen – wie Robinson, der nach seinem Schiffbruch an der den Küste in einen tiefen Schlaf fällt, aus dem er erquickt erwacht und den hellen Tag begrüßt, oder wie Eberhard Julius, die Hauptperson der »Insel Felsenburg«, der sich »vor Freuden fast nicht zu lassen« weiß, als er die Insel, jenes bessere Europa, zum ersten Mal erblickt. Die »Insel Felsenburg«, den Roman von Johann Gottfried Schnabel, hat jetzt der Verlag Zweitausendeins wieder heraus gebracht, im Urtext und vollständig in allen vier Teilen. Die Hauptarbeit hatte der Textredakteur Marcus Czerwionka, der die Erstausgabe von 1731- 43 in einen zeichengetreuen Neusatz verwandelt hat. Diese Ausgabe ist ein editorisches Meisterstück, und ihr Druckbild ist eine Augenweide.

Ein Gesamtkunstwerk

So etwas Ähnliches wie Eberhards feierliche Freude vor der Insel empfindet man, wenn man in der Ausgabe zu blättern beginnt. Doch den feierlich gestimmten Leser wollte Schnabel nicht! Denn er geht in seiner Vorrede direkt auf seine Leser zu und spricht über den Wert und die Wahrheit seines Erzählens: »einen Eyd über die pur lautere Wahrheit« seiner Geschichte könne ihm keiner abzwingen, aber »pur lautere Fictiones« liefere er auch nicht, und »zusammen geraspelte »Robinsonade-Späne« seien sein Werk ebensowenig. Über zehn Seiten lang erleben wir, wie Schnabel in aller Gelassenheit, ja coolness, sein Werk in Frage stellt und doch verteidigt und damit vor uns ein modernes Erzählertum inszeniert, wie es die ganze bürgerliche Literatur in Deutschland nicht kennt und wie es erst im 20. Jahrhundert wieder auf den Plan tritt.

Die Geschichte selbst ist heute schwerlich als Ganzes zu lesen; zu schleppend sind die Schilderungen des brüderlichen Lebens im Staate Felsenburg, wo man fleißig arbeitet, viel Gottesdienst hat und immer »reputirlich gekleidet« ist. Doch spannend sind, wir deuteten es an, die einleitenden und in Rückblenden erscheinenden Reiseepisoden, also die Momente des Aufbruchs und der Unruhe. Aufregend sind auch die Erinnerungen an die Gründungsjahre des Felsenburg-Staates; etwa die Affäre mit dem Ehepaar und den zwei Junggesellen auf der Insel, wo einer der letzteren kühn vorschlägt, die Frau solle für alle da sein, so daß man dann Kinder von drei Vätern auf der Insel habe. Noch früher hatte es sogar Unzucht mit Äffinnen auf der Insel gegeben.

Anfang und Ende der zahlreichen langen Binnenberichte sind nicht deutlich markiert; auch dies macht die Lektüre schwierig, und man hätte sich ein detailliert ausgearbeitetes Inhaltsverzeichnis gewünscht. Das fehlt, aber dafür gibt es ein umfangreiches Nachwort von Günter Dammann, das die neuere Forschung (von Stockinger, Baudach und der Schnabel-Gesellschaft) aufarbeitet und das als Extraband der Edition angefügt ist.

Dammann stellt klar, daß bei Schnabel einige literarische Traditionslinien zusammenlaufen – die des Schelmenromans, aber auch des Modells ›Robinson‹ – und daß Schnabel zusätzlich eine ›mystery story‹ schaffen wollte. Denn mit einem unerwarteten Boten und einem geheimnisvollen Brief beginnt die lebensentscheidende Verlockung für den 19jährigen Eberhard, das alte Europa der Kriege und des Untertanengeistes zu verlassen und das von seinem Vorfahren Albert gegründete andere Europa aufzusuchen. Und dieser »Sog des Mysteriösen« wirkt auch dort in der Exotik, wo sich seltsame Inschriften und Urkunden finden, die auf frühere Bewohner schließen lassen. Deren Taten wer den schließlich aufgedeckt durch geduldiges Forschen, auf empirischem Wege: »Aufklärung« im eigentlichen wie im übertragenen Sinne des Wortes. Schnabels Vorbild sind nach Dammann die französischen Feenmärchen. Das Märchenhaft-Geheimnisvolle steht am Beginn des neuzeitlichen Wunsches nach Klarheit und Erkenntnis, die Ausfahrt ins irdische Glück geschieht unter der Anleitung des Märchenzaubers. Das ist nicht überraschend, die Aufklärer Voltaire und Wieland sollten später in ihren poetischen Erzählungen genauso vorgehen.

Doch Schnabels Geheimnis-Motiv führt nicht nur in die klassische Aufklärung. Indem er eines der Geheimnisse, das der tausendjährigen Tempel auf der Inselgruppe, ausdrücklich ungelöst läßt, liefert er, so Dammann, das Zeugnis »eines geradezu bestürzend modernen literarischen Denkens«. Da sind wir wieder bei der offenen Fiktion-Wahrheit-Diskussion des Schnabelschen Vorwortes! Modern erscheinen mir auch die von Schnabel eingefügten Lagepläne, Ahnentafeln und Passagierlisten; sie stehen für naturwissenschaftliche Präzision und durchdringen dabei das Buch mit geometrischen, visuellen und notizenhaften Elementen. Die »Insel Felsenburg« nähert sich dem Gesamtkunstwerk.

Wie utopisch ist Felsenburg? In ihren Bauten und Bauplänen stellt die Insel, so Dammann, ein himmlisches Jerusalem dar, und zugleich ist sie naturrechtlich und vor allem protestantisch konzipiert, so daß ihre Existenz ein aktuelles Gegenbild zu der grausamen Eroberungspolitik der Spanier in Südamerika ist. Dies wollte Schnabel, der Lutheraner und Freund der Holländer, der Anhänger einer festen Arbeitsmoral, seinen Lesern jedenfalls mitgeben: die Bösen kommen immer aus katholischen Ländern. Der lüsterne Junggeselle, den wir erwähnt haben, ist natürlich ein Katholik, ein Franzose.

Martin Lowsky

die horen, Nr. 191, 3. Quartal 1998