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Deutschlands schönstes Eiland
Verlegerische Leistung des Jahres: Die »Insel Felsenburg« – endlich komplett! / Von Willi Winkler

Ausgerechnet der so wenig vaterländische Arno Schmidt strichelte sich mitten in den Fünfzigern ein lustiges See-Abentheuer zu sammen, wie wir nämlich nicht Helgoland oder die Saar oder derlei Kleinigkeiten, sondern die Insel Tristan da Cunha, im Südatlantik ziemlich genau in der Mitte zwischen Kapstadt und Buenos Aires gelegen, heim ins Reich holen könnten: »Ich stelle mir die Bundeswehr vor, adenauergetrieben, in siegendenwiegenden Schnellbooten, ›Blaue Jungens‹; nun, John Bull, nimm Dich in acht! –« Uralter deutscher Boden sei das Zwillingseiland, »von Deutschen besiedelt (wenn auch nur ›im Geiste‹)«, und zwar nach der Vorlage eines einst mals weltberühmten und dennoch grunddeutschen Buches, der »Insel Felsenburg«. Andererseits: besetzen? Den Engländern wegnehmen? »Nee! Also das lieber doch nicht!«

Zufrieden hätte er sich schon gegeben, immer noch Arno Schmidt, wenn sich ein Verleger ermannt hätte (»Es handelt sich um eine nationale Aufgabe!«) und das Werk, das unser Anrecht auf das Stückelchen Südsee belegt, wieder heraus brächte, in einem Band möglichst, Lexikonformat, doppelspaltig.

Der Verleger für dieses Nationaldenkmal hat sich inzwischen gefunden. Er heißt Lutz Kroth, leitet das Versandhaus Zweitausendeins und ist sonst mit Büchern beschäftigt, in denen er ein langsameres Denken (aber bitte mit Bionen!) propagiert oder Homöopathie für Hunde. Ausgerechnet bei Zweitausendeins und auch noch zum Schnäppchenpreis ist die größte verlegerische Leistung des Jahres zu haben: die erste vollständige Ausgabe der »Wunderlichen Fata«, der »Insel Felsenburg«, seit zweihundert Jahren. Wo die Germanistik versagt, beziehungsweise die ihr angeschlossenen Subventionsverlage, ist es die Privatwirtschaft, welche die deutsche Philologie rettet. Aber man muß gerecht sein: Bei Zweitausendeins ist schon manch schönes Monument der Literatur erschienen, Kraus’ Fackel zum Beispiel oder die kolossale Max-Herrmann-Neiße-Ausgabe und die »Haidnischen Alterthümer« natürlich, Wezel und Fouqué und Tieck und Oppermann (und auch mancher Quark dabei), lauter Neben-Klassiker, Bestseller ihrer Zeit und zum Glück noch nicht in jedem Kanon. Und jetzt, nach fast zehnjähriger Unterbrechung, diese Fortsetzung, die »Insel Felsenburg«.

Und was soll das sein?

Bitte sehr, das Werk und sein Inhalt (tiiiieeef Luft holen): »Wunderliche / FATA / einiger / See=Fahrer, / absonderlich / ALBERTI JULII, / eines gebohrnen Sachsens, / Welcher in seinem 18den Jahre zu Schiffe / gegangen, durch Schiff=Bruch selb 4te an eine / grausame Klippe geworffen worden, nach deren Ubersteigung / das schönste Land entdeckt, sich daselbst mit seiner Gefährtin / verheyrathet, aus solcher Ehe eine Familie von mehr als / 300. Seelen erzeuget, das Land vortrefflich angebauet, / durch besondere Zufälle erstaunens=würdige Schätze ge= / samm let, seine in Teuschschland ausgekundschafften Freunde / glücklich gemacht, am Ende des 1728sten Jahres, als in / seinem Hunderten Jahre annoch frisch und gesund gelebt, / und vermuthlich noch zu dato lebt, / entworffen / Von dessen Bruders=Sohnes=Sohnes=Sohne, / Mons. Eberhard Julio, / Curieusen Lesern aber zum vermuthlichen / Gemüths=Vergnügen ausgefertiget, auch par Commission / dem Drucke übergeben / Von / GISANDERN.«

Für nicht mal achtzig Mark gibt es jetzt das Buch, von dem Lessing, Goethe und Tieck schwärmten, aus dem sich ungezählte Nachahmer bedienten, darunter auch Edgar Allan Poe für seinen »Arthur Gordon Pym«. Im »Anton Reiser« bekennt sich Karl Philipp Moritz zu seiner sündigen Leidenschaft und wie sich ihm mit Schnabel die Welt öffnete: »Die Erzählung von der Insel Felsenburg tat auf Anton eine sehr starke Wirkung, denn nun gingen eine Zeitlang seine Ideen auf nichts geringers, als einmal eine große Rolle in der Welt zu spielen ...«

Jugendlicher Größenwahn natürlich, doch eine schöne Idee: ein Gemeinwesen, einer für alle und alle für einen, Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit, wenn auch im Auslande nur, auf einem fernen Inselchen, aber eine deutsche Erfindung. »Utopie«? Ist das nicht schwer totalitär und sowieso von gestern, und hatte nicht Arno Schmidt schon zugeben müssen: »Ein leichter Geruch nach DDR erhebt sich«? Kann ja sein, aber welches teutsche Buch hätte sich sonst so weit vorgewagt wie dieser hemmungslos robinsonierende Unterhaltungsroman?

Dieses Kraut-&-Rüben-Werk erschien in vier Bänden von 1731 an, Verlagsort Nordhausen, und der »Gisander«, der dem curieusen Leser so großzügig Mitteilung machte von den absonderlichen Fata, existiert kaum in der Literaturgeschichte. Wie der Hamburger Germanist Günter Dammann in seinem alles ausschürfenden »Nachwort« darlegt – das zu einem eigenen Meta-Roman (und Ergänzungsband) ausgewachsen ist –, verbirgt sich unter »Gisander« der 1692 in Sandersdorf bei Bitterfeld geborene Johann Gottfried Schnabel. Als Sohn eines Pfarrers kommt er zur Welt, lernt Feldscher beim Heer, macht einige der reichlich verworrenen mitteleuropäischen Kampagnen mit und läßt sich schließlich in Stolberg im Harz als Barbier nieder. Obwohl er sich bald als Kammerdiener dem duodezimalen Hofe attachieren kann, drängt es ihn höher hinaus: Schnabel wird »Agent« und darf mit durchlauchtem Permeß das »gantz in Decadençe gekommene Stolbergische Zeitungs-Wesen wieder empor bringen und fort setzen«. Dazu fängt er an, Romane zu schreiben, pseudo- und anonym, neben der »Insel Felsenburg« noch nennenswert der leicht frivole »Im Irr=Garten der Liebe herum taumelnde Cavalier« (1738). Nach 1744 verliert sich Schnabels Spur. Zwischen 1750 und 1760 wird er gestorben sein, irgendwo im mittleren Deutschland. Kein Kirchbuch verzeichnet seinen Namen, kein Geistlicher, der ihn ausgesegnet hätte. Vielleicht ist er dann selber ausgewandert, irgendwo in die Südsee, und hat endlich seinen Staat gegründet.

Tristan da Cunha besetzen, unsere Insel Felsenburg? Nee! Aber lesen. Hier, bitte. Volker Rühe, übernehmen Sie!

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