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Wunderliche Fata
Johann Gottfried Schnabels «Insel Felsenburg»

Obwohl sich nun schon seit ein paar Jahren die Johann-Gottfried-Schnabel-Gesellschaft e. V. samt obligatorischer Schriftenreihe, den «Schnabeliana», seines Lebens und Werks annimmt – für eine Weile bleibt er wohl noch der grosse Unbekannte der Frühaufklärung. Was weiss man schon vom Verfasser der «Insel Felsenburg»? Dass er am 7. November 1692 in Sandersdorf (bei Bitterfeld) auf die Welt kommt, und zwar – wie so oft in der teutschen Litterär-Historie – als protestantischer Pfarrerssohn, dass er schon im zweiten Lebensjahr beide Eltern verliert, vermutlich beim Grossvater aufwächst, der ihn mit elf Jahren in Halle, dem Zentrum pietistischer Frörnmelei, in eine Lateinschule steckt; dass er danach nicht wie üblich ein Theologiestudium, sondern eine Lehre als «Balbier» beginnt, seine «Servierzeit» als Feldscher bei den wolfenbüttelschen Truppen ableistet, an den Brabanter Kampagnen des Spanischen Erbfolgekriegs teilnimmt, um sich nach acht- bis zehnjähriger Dienstzeit (zwischen 1717 und 1719) in Querfurt als Barbiermeister niederzulassen; dass er eine Gastwirtstochter heiratet, sich im Bonsai-Fürstentum Stolberg-Stolberg von dero hochgräflichen Gnaden als «Hofbalbier» bestallen lässt, zum «herrschaftlichen Cammerdiener», später zum Hofagenten avanciert und 13 Jahre lang die Provinzzeitung «Stolbergische Sammlung neuer und merckwürdiger Welt-Geschichte» redigiert, nebenbei für kärglichstes «Honorarium» die gewaltige «Insel Felsenburg» und noch zwei weitere Romane schreibt, und dass er irgendwann in den 1750er Jahren, wahrscheinlich bis zum Tod in gräflich-stolbergischen Diensten, das Zeitliche gesegnet haben muss.

Wenn alle Pastoren im Harzraum nur mal für ein Wochenende in Klausur gingen und ihre alten Kirchenbücher wälzten, dann wüssten wir bald, wann und wo man Schnabel beerdigt hat. Andererseits, was soll uns das schnöde Sterbedatum eines Höflings wider Willen, der aus materieller Bedürftigkeit unter den damastenen Morgenmantel Ihrer Durchlaucht kriechen musste, weil es da in der ersten Hälfte des Jahrhunderts immer noch am wärmsten war. Wir haben schliesslich sein Hauptwerk: «Wunderliche / FATA / einiger / See-Fahrer, / absonderlich / ALBERTI JULII, / eines gebohrnen Sachsens, / Welcher in seinem 18den Jahre zu Schiffe / gegangen, durch Schiff-Bruch selb 4te an eine / grausame Klippe geworffen worden ... » etc. etc. – seit dem 19. Jahrhundert, spätestens nach Ludwig Tiecks Bearbeitung von 1828, besser bekannt als «Insel Felsenburg».

Dieser derbe und lebenspralle Romanfindling hat nun gar nichts zu tun mit parfümierter höfischer Pläsanterie. Im Gegenteil. Wir bekommen «ein gültiges und dabei hinreissendes Vollbild der Jahre zwischen 1710 und 30» geboten: «Bevor etwa der junge Handwerksgeselle die Wanderschaft durch’s weite wirre ‹Reich› antrat, gab ihm der Meister die 2500 Seiten mahnend zu lesen: als Ersatz für noch mangelnde praktische Lebenserfahrung.» So belehrt Arno Schmidt schon in den sechziger Jahren die Zeitgenossen und traktiert auch gleich noch die hundsföttische Germanistik, die sich um die philologische Knochenarbeit einer vollständigen und vor allem unbereinigten Edition herumdrückte, nebst deutschem Verlagswesen, das für diesen gänzlich unklassischen Klassiker nichts lockermachen mochte: «seit 200 Jahren ist keine brauchbare Textausgabe mehr erschienen: wo sind unsere ‹Grossen Verleger›?: Die mit den Einnahmen nicht wissen wohin? Wo ist die Neuausgabe der ‹Insel Felsenburg›, Vor- und Nachwort von Arno Schrnidt, wo ist sie, heh?!»

Schon im 18. Jahrhundert nämlich fiel der kapitale Vierbänder in puristische Pädagogenhände, die sprachlich und sexuell Anstössiges gnadenlos rausstrichen, um das Buch auch für die (nur nicht zu sehr) aufzuklärende Jugend tauglich zu machen. «Insel Felsenburg» in usum Delphini! Auch Tiecks Ausgabe, die Schnabels Nachruhm erst begründete, enthält nur drei Viertel vom – noch dazu geglätteten – Originaltext. Spätere Ausgaben bringen in aller Regel nur mehr den ersten Band – «behutsam modernisiert».

Mit diesem editorischen Trauerspiel hat es nun ein Ende. In der einstmals von Arno Schmidt initiierten, viel zu lange vakanten Reihe der «Haidnischen Alterthümer» bei 2001 kann man den Roman nun wieder so lesen, wie ihn sich der Autor gedacht haben mochte: in allen vier Teilen und in dem originalen mit lateinischen und französischen Brocken apart aufgedonnerten Idiom des jungen 18. Jahrhunderts. Von «edler Einfalt, stiller Grösse» ist dieses alerte Verbal-Patchwork noch viele Dezennien entfernt.

Eberhard Julius, Ich-Erzähler der Rahmengeschichte, bekommt auf recht ominöse Weise ein Schreiben vom steinalten Bruder seines Urgrossvaters, Albert Julius, der ihn auf die Insel Felsenburg einlädt. Gerade noch rechtzeitig, denn Eberhard hat kurz zuvor durch Tod und Bankrott seine Familie verloren. So nimmt er die Einladung an und schifft sich mit anderen vom Schicksal geprügelten Emigranten ein, um Europa den Rücken zu kehren. Glücklich auf der Insel Felsenburg angelangt, offenbart sich ihm eine soziale Idylle, das «Asyl der Redlichen», in dem die Menschen ohne Hunger und Not «in aller Frömmigkeit, Liebe und Einigkeit mit einander lebten, und nach dem Exempel der ersten christl. Kirche eine treuherzige Gemeinschaft der zeitlichen Güter untereinander hielten, keinen Eigennutz, auch im allergeringsten Dinge zeigten, sondern ihren Nächsten und sich selbst zu dienen, alles mit Lust verrichteten, wozu sie sich geschickt befanden».

Ausfiihrlich wird nun dieses streng lutherische, patriarchalisch regierte Utopia beschrieben. Seine Landschaft, die einzelnen Dörfer, Gewerbe und Handwerk, gelegentliche Expeditionen (etwa zur benachbarten Insel Klein-Felsenburg), die Gründungsgeschichte, die Lebensbeschreibung des Ur-Felsenburgers Don Cyrillo de Valaro usw. In diesen erzählerischen Rahmen sind insgesamt 22 Autobiographien von Auswanderern integriert, die das süsse Leben im Insel-Eldorado aufs schärfste kontrastieren und ein Europa zeichnen, das geprägt ist von Korruption, Gier, militärischer Barbarei, der Intoleranz des Klerus und einer debilen, gänzlich amoralischen Aristokratie.

Der Roman leistet somit zweierlei: er liefert einem resignativen, noch nicht emanzipierten Bürgertum die obligate Sehnsuchtswelt und Fluchtutopie, zugleich aber übt er handfeste Gesellschaftskritik am Ancien régime. Ein politischer Herrnaphrodit also, weder wirklich affirmativ und staatskonfonn noch eigentlich aufsässig. So weit, so gut. Die nun endlich problemlos mögliche vollständige Lektüre zeigt aber noch etwas anderes: In den letzten beiden Bänden hebt sich der Dualismus zwischen dem Inselparadies und der kruden europäischen Wirklichkeit immer mehr auf. Das Paradies zersetzt sich langsam, der alte Teufel treibt nun auch in der neuen Welt sein Unwesen: auf einmal geschehen Unglücke und Missgeburten, der vorher unter die «eiteln Lüste» gezählte und völlig verdrängte «Vorwitz», die wissenschaftliche Neugierde, bricht sich Bahn, und schliesslich kommt es sogar zu einem veritablen Krieg, als portugiesische Kriegsschiffe vor der Küste auftauchen und das Eiland unterwerfen wollen. Ob der altersweise Schnabel wohl am Ende seinem eigenen felsenburgischen Traum nicht mehr traute? Und die «Schnabeliana» ziehen ins Land ...

Frank Schäfer

Johann Gottfried Schnabel: Insel Felsenburg. Wunderliche Fata einiger Seefahrer. Herausgegeben von Günter Dammann. Verlag Zweitausendeins, Frankfurt a. M. 1997. 2 Bde. und ein Kommentarbd., zus. 2692 S., Fr. 79,–.

© Neue Zürcher Zeitung
20. November 1997