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Ann Cotten

Ist Mangel an Sprachbeherrschung schon Dichtkunst?

Über
Ann Cotten:
Fremdwörterbuchsonette
edition suhrkamp Nr. 2497
Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007



Das Sonett ist eine verpflichtende Form – mit ihr reiht man sich einem gattungsspezifischen Zusammenhang ein, der von Giacomo da Lentini über Petrarca und Tasso bis zu Goethe, Platen und Gottfried Keller, ja bis zu dem heute zweiundsiebzigjährigen Klaus M. Rarisch reicht. Neue Wege sind möglich, sie sollten sich aber tunlichst nicht der Laxheit den hohen Maßstäben gegenüber verdanken. Dies ist leider bei Ann Cotten im höchsten Grade der Fall. Die Reime, wenn überhaupt vorhanden, sind unsauber wie die der Rapper und Pop-Liedermacher – Ann Cotten reimt »verschüttend« auf »verkitten«, »Stimme« auf »verrinnen« und »Fluss« / »Luft« / »versucht« (Nr. 13) oder gar »Kühlschrank« auf »Undank« (11) – bei meist isolierten Quartetten. Hängen wenigstens ihre Metren ein paar Verse weit miteinander zusammen, so stört spätestens der vierte das Metrum bis zur völligen Sprengung des Versmaßes (Nr. 3):

 

To beg the question: Deutsch: der Zirkelschluss.
Das Ziel ist gleich, das Spiel ist unterschiedlich:
Wenn du dich drehst, verlierst du nur den Kopf,
Fragebeschwörungen stören das Gegenüber.


Aber die Unzulänglichkeit von Ann Cottens Gedichten beginnt weit unterhalb der Sonett-Schwelle – sie beginnt mit Defiziten an Beherrschung der deutschen Sprache. Für diese bietet die Suhrkamp-Veröffentlichung erschütternde Beispiele. Bei Infinitivsätzen oder bei »brauchen« etc. fehlt gewöhnlich das »zu« (Nr. 2):

 

Sie nämlich, wenn ich in die Fluchten schaue
und mich vor Hoffnungen den Blick nicht senken traue.


Infinitive mit Modalverben etc. werden schlecht (Nr. 40) oder ganz falsch gebildet (Nr. 6):

 

[…] was
wir jetzt beiseite fallen lassen haben

(statt »haben beiseite fallen lassen«).

Teekesselchen werden verwechselt (Nr. 39)

 

[…] mit bloßen
Füßen schliffen sie im Sand

(statt »schleiften«) oder (in Nr. 17)

 

dein umnachtetes Gesichtsquartier
für eine Phase zum Trabant zu feilen

(also zu einem Autotyp, statt, wie gemeint, »zum Trabanten«, nämlich dem Mond) oder (siehe unten)

 

[…] türmen die Phrasen […]

(gemeint ist doch wohl, daß sie sich türmen, und nicht, daß sie weglaufen).

Syntaktische Beziehungen bleiben undurchschaut (Nr. 40):

 

Blätter, deren Wechselhaftigkeiten
genau das schien, was ich vom Wäldchen hoffte

(statt »genau das schienen«, denn das Prädikat bezieht sich nicht auf »genau das«, sondern auf »Wechselhaftigkeiten«).

Rektionen sind falsch (Nr. 41) –

 

Und doch schwappt alles, was du tust, zu mir
hinüber, kratzt an mein Begriffsvermögen

(statt »an meinem«, obwohl »schwappen« und »kratzen« eh nicht zusammenpassen) – oder (in Nr. 43)

 

bis sie die Zeit verliere, zerstiebend sie zu Sand

(statt »zerstäubend«, denn »zerstieben« ist intransitiv).

In der Frage, ob ein Verb stark oder schwach ist, fallen haarsträubende Schnitzer auf (Nr. 45):

 

an süßen Grammen mein Gehirn geneste

(statt »genas«).

Das Partizip wird verkehrt bezogen (Nr. 54):

 

Ob kiffend tippend, fickend oder schlimmer denkend,
die Welt entgleitet mir mit jedem Satz

(es ist doch wohl das »lyrische Ich«, das kiffend tippt, und nicht die Welt).

Was nicht gerade regelrecht falsch ist, ist doch stilistisch minderwertig – so bildet die Dichterin nicht nur die indirekte Rede mit dem Auxiliar »würde« (Nr. 22)

 

[…] sag allen,
ich würde schlafen

(statt »schliefe«), sondern sogar den irrealen Vergleich (Nr. 76):

 

bewegt sich leicht, als ob sie schweben würde,

(statt »schwebte«) – eine umständliche Konstruktion, die nicht gerade dem gemeinten Schweben entspricht.

Beim Wort »paar« fehlt der unentbehrliche Artikel »ein« (Nr. l):

 

einander paar von diesen Wörtern sagen

oder gar (Nr. 77:)

 

wo ich mir vor paar Tagen die Nase anhaute.


Und ein mehr als bloß stilistischer Fehler ist die Verbstellung in der Mitte statt am Ende des Nebensatzes. Schlägt hier die Muttersprache – Amerikanisch – durch?

 

(Nr. 8:) […] wie er gewinne kraft
seiner Schwäche Höhe.
(Nr. 29:) Ich liebs, wenn deine Zunge pfeift mir um die Nieren,
(Nr. 29:) Doch was mir an der Poesie bereitet Schmerzen,
(Nr. 30:) […] Texte lesen, die, das Eigene
vergessend, rein beschäftigen sich mit Pomade,
(Nr. 37:) wenn fesselt mich ein Wort dazu noch an den Mann,
(Nr. 48:) […] wenn türmen die Phrasen
und schlüpfen dir vom Mund,
(Nr. 52:) wenn andre Kinder stürzen sich von Mauern,
(Nr. 71:) Kristallen fehlt die Einsicht, wenn sie kiefeln / sich selber ab (…)


Dies alles eine Übersicht lediglich über die Standardfehler – an vielen Stellen ist das Deutsch so verdreht, daß es mehrfacher Rückdrehung bedarf, bis man heraus hat, wie die Dichterin auf eine so verkehrte Wendung gekommen sein mag. Z.B. heißt es in Nr. 46

 

das nächste, das ich deinem Schreiben je komme.

Offenbar liegt dem der Infinitiv »deinem Schreiben nahe kommen« zugrunde, der hier zu einem abstrusen Superlativ gesteigert ist … In Nr. 50 heißt es:

 

Wenn schon die Kühnsten resigniert im Sand sich lieben,
versonnen tausend Körner durch einander Haare sieben.

Statt »durch einander Haare sieben« ist doch wohl gemeint »einander durch die Haare sieben« …


Vieles ist total unverständlich – von Sätzen wie (in Nr. 7)

 

Schrot findet, was du suchst und dumm
ist es, und sich in strudelnd Flüsse gießt

bis zu dem Wortbildungs-Eigenbau »sich abkiefeln« (Nr. 71), »Flöcke« (von »Pflock«? oder »Flocke«?), »lab« (»zu laben Ufern«, Nr. 33), »bor« (»an einem dieser boren«, Nr. 44) etc. Aber hier kommen wir vielleicht in die Zone jener dichterischen Wortbildungen, wie sie z.B. August Stramm uns bescherte (»die Steine feinden«). Und wie unfreiwillig komisch auch immer, ein Alexandriner wie der folgende (aus Nr. 21) mit seiner maskulinen »Nacht« könnte doch barocke Parodie sein und aus dem »Horribilicribrifax« stammen:

 

wenn tickend sich die Uhr um Nachtes Stunden wälzt.


Geben wir über die sich wälzende Uhr und die oben zitierte um die Nieren pfeifende Zunge hinaus überhaupt ein paar von Ann Cottens schiefen Metaphern zum besten, z.B. (Nr. 48)

 

und wenn du lachst, schlitzt es uns auf wie Holz

oder (in Nr. 76)

 

Ich heulte wie ein Wurm an deinem Fenster,

so wird sich der Leser dieser Rezension dieselbe Frage stellen wie der Rezensent: Was kann den Suhrkamp Verlag bewogen haben, Ann Cottens »Fremdwörterbuchsonette« herauszubringen – als erstes Buch der fünfundzwanzigjährigen gebürtigen Amerikanerin und als Nummer 2497 der »edition suhrkamp«?

Hier erste Versuche einer Antwort:

 

1. Der Lektor der Reihe hielt die Stümpereien der 25jährigen für bedeutende Poesie und vermochte den Verlag von der Bedeutung der Dichterin zu überzeugen.
2. Der Verlag versucht mit der jungen Dichterin, deren strubbeliges Fotoporträt den Band als Frontispiz ziert, eine neue Friederike Kempner zu kreieren.
3. Der Verlag hatte Gründe anderer – sei es finanzieller, sei es »favoritistischer« Natur – was hier nicht behauptet werden soll, aber – vielleicht fälschlich – wohl bei einem Verlag mit Qualitätsgefühl immer noch eher vermutet werden darf als die Gründe l und 2.
4. Es könnte auch die Gewißheit dahinterstecken, daß weder Rezensenten noch Leser »mit Lyrik irgendwas am Hut haben«, daß man ihnen alles vorsetzen kann, ohne Widerspruch zu ernten – und tatsächlich ist ja dem Rezensenten des »Tagesspiegels« die sprachliche Indiskutabilität der »Fremdwörterbuchsonette« völlig verborgen geblieben.


Zum Indiz der Verkommenheit der gegenwärtigen deutschen Literaturszene wird eine solche Veröffentlichung im Zusammenhang der Tatsachen, daß es für »no-name«-Autoren sinnlos geworden ist, sich an Verlage zu wenden: Manuskripte werden dort weder gelesen noch zurückgesandt noch meist auch nur bestätigt – alles läuft über Agenturen. Wie es da läuft, kann jeder selbst ausprobieren –: die Agentur Graf & Graf bedankt sich bei Einsendung höflich für das »Interesse an unserer Agentur«, erklärt aber die Kapazität für erschöpft und tut das, was die Agentur Eggers und Landwehr wenigstens schon in der Homepage eingesteht: »Eingesandte Manuskripte werden weder gelesen noch zurückgesandt« – sie entsorgt sie stillschweigend in den Papiercontainer. Wie es bei Bewerbung um eine Einladung zur Klagenfurter Bachmannpreis-Lesung zugeht, kann man bei Stephan Valentin nachlesen. Für einen fünfundzwanzigjährigen Autor sind alle Wege blockiert. Wie also hat Ann Cotten den Sprung zu Suhrkamp geschafft? Welche Agentur, welcher Lektor hat den außerordentlichen Rang ihrer Dichtung entdeckt? »Vitamin B« kann doch keine Rolle gespielt haben?

Wie dem auch sei – Ann Cottens »Fremdwörterbuchsonette« als Spitze der deutschen Gegenwartspoesie auszugeben, ist ein dreifaches Vergehen. Erstens vergeht es sich an dem Vertrauen, das namentlich die ausländische Germanistik, die sich ja an irgendetwas orientieren muß, dem Verlag der Werke Brechts glaubt entgegenbringen zu dürfen. Zweitens bringt es den Standard der deutschen Sprache in Verruf, der zwar in der Tat mit atemberaubender Schnelligkeit sinkt, aber doch in ganz anderem Maße noch vorhanden ist, als die Veröffentlichung suggeriert. Und drittens ist es ein Verbrechen an der Dichterin selbst, der man hätte raten sollen, sich in der deutschen Sprache zu vervollkommnen und sich in die Weltliteratur des Sonetts zu vertiefen, statt ihr mit Entdeckerpomp ein so beschämendes Debüt zu ermöglichen. Denn wessen Ann Cotton einmal fähig sein wird, das lassen schon jetzt einzelne Verse erkennen. Der Vers

 

Geht nicht besänftigt ein in diese samtne Nacht!

(in Nr. 50) ist so ein Vorbote, und zuweilen wirken, der diffusen Grammatik zum Trotz, schon Zusammenhänge als Keimzellen der Zukunft (Nr. 5):

 


[…] Erhoben wurde aber, dass,

als oder wie, der beiden Mädchen Brüste
nicht gleicher Höhe sind. Als ob sies wüsste
dreht sich die eine leicht im Wasser hin

zur andern, welche auf der linken Seite
sich krummer wölbt, verlangt entlang der Breite
die gleiche Gischt der andern Schwimmerin.


Zu verstehen ist das zwar nicht, aber es klingt doch schön.

Johannes Morio



 

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