Zu www.fulgura.de mit Navigations-Kolumne

Hermann von Gilm
Von Klaus M. Rarisch

Hermann von 	Gilm


    Stell’ auf den Tisch die duftenden Reseden,
    Die letzten roten Astern trag’ herbei
    Und laß uns wieder von der Liebe reden,
         Wie einst im Mai. [132]

Dies ist die erste Strophe des Gedichts »Allerseelen« von Hermann von Gilm zu Rosenegg. Gottfried Benn stand unter dem Einfluß dieser Verse; Richard Strauss hat das Gedicht 1885 vertont. Der Refrain »Wie einst im Mai« hätte zum Geflügelten Wort werden können, aber Gilm fehlt in Georg Büchmanns Zitatensammlung. Auch Kindlers Literatur Lexikon verzeichnet Gilm nicht; sogar in Hans-Jürgen Schlütters verdienstvollem Studienbuch »Sonett« vermißt man seinen Namen. Und doch schrieb Gilm 129 Sonette, von denen wir einige vorstellen wollen. Das erste eröffnet einen kleinen Zyklus aus den 1840er Jahren mit dem Titel »Der Tiroler Landtag«.

    In Innsbruck tagen die Gesetzverfasser.
    Da brüllt es plötzlich laut vor dem Portale;
    Und von der Sill, der Ziller und der Passer
    Drängt Rind um Rind sich nach dem goldnen Saale:

    »Schafft uns das Salz zum kargen Mittagsmahle,
    Das sündhaft wird geworfen in das Wasser,
    Wir dulden viel, sind sonst auch keine Prasser,
    Doch täglich schlechter wird die Kost im Thale.« -

    An eure Pflüge, Stiere, Bärenhäuter,
    Schallt’s von den ersten Bänken der Leviten,
    Auf fetter Trift, ihr Kühe, füllt die Euter;

    Wir meinen, euch genügen Gras und Kräuter -
    Doch unterthänigst wollen wir erbitten
    Von seiner Majestät die Jesuiten! [73 f.]

Diese surreale Szene schlägt ein Hauptmotiv der politischen Lyrik Gilms an: Gegen Jesuiten und Ultramontane, für Gedanken- und Pressefreiheit. Ein weiteres Sonett aus dem Zyklus wendet sich gegen die Umweltzerstörung in Tirol, mit der kühnen Metapher für die abgeholzten Bergwälder: »Alpenleichen« [75]. Seine religiöse und politische Haltung komprimierte Gilm später in der Sonettzeile:

    Die Kirchen, wie die Staaten wollt’ ich frei [237]

Gilm, für den Herausgeber seiner Gesammelten Gedichte »unstreitig der größte Dichter Tirols« [5], wurde 1812 in Innsbruck geboren. An der dortigen Universität studierte er seit 1830 Jura und schrieb gleichzeitig seine ersten Gedichte. 1836 trat er als Verwaltungsjurist in den Staatsdienst, wo er die Abneigung seiner Vorgesetzten gegen die Poesie erdulden mußte und als »ewiger Praktikant« [7] galt. Erst 1847 wurde er an die Hofkanzlei nach Wien berufen; 1854 avancierte er zum Statthaltereisekretär in Linz an der Donau. Seine besten Gedichte stammen aus seiner brotberuflichen Station in Rovereto, das damals eine Provinzstadt in Südtirol war, also 1845/46. Bemerkenswert sind vor allem seine 73 »Sonette an eine Roveretanerin«, die eine Kombination von Polit- und Liebeslyrik darstellen und die sich durch Ironie und Sarkasmus vorteilhaft von den Vormärz-Sonetten des - ansonsten vergleichbaren - Friedrich Rückert abheben.

    Recht philomenenhaft trugst du ums Haupt
    Den Kranz von offnen Rosen weiß und rot,
    Solch’ heil’ger Kopfschmuck, scheint mir, ist zur Not
    Den bleichen Bräuten Gottes nur erlaubt.

    Mich schauderte, als ich die Hand dir bot
    Zum Tanz - ich wäre krank, hast du geglaubt -
    Mir war, als hätt’ ich Kirchengut geraubt
    Und hätt’ geplündert den geschmückten Tod.

    Die gleichen Rosen ohne grünes Blatt
    Trug meine Schwester, liegend am Altar,
    Mit neunzehn Lenzen schon des Lebens satt.

    Dann warf aufs Opfer sich der Nonnen Schar,
    Und auf die Erde flogen Kranz und Haar,
    Daß mir, dem Mann, das Herz gezittert hat. [222 f.]

Wer die angedichtete Roveretanerin in der Realität war, ist relativ gleichgültig (Gilms Herausgeber nennt eine Comtesse Festi); denn es handelt sich nicht um konventionelle Liebessonette. Vielmehr beklagt Gilm häufig die Koketterie und das seichte Geschwätz der Angebeteten. So tut das »Fräulein«, wie er sie abschätzig bezeichnet, seine Werbung mit einem raschen »Wie geht es Ihnen?« ab. Gilms Reaktion ist überraschend:

    Mich wundert nur, daß du den Heiland nicht,
    Des Auge hier am Kreuze sterbend bricht,
    Nicht auch schon fragtest: »Nun, wie geht es Ihnen?« [243]

Dennoch scheint Gilm eine tiefe Empfindung unter Heinrich Heinescher Ironie verborgen zu haben. Sein Problem mit der Roveretanerin lag darin, daß er die Liebe zu ihr nicht absolut setzen konnte. Er fragt sich:

    Ob ich auf Erden etwas liebe mehr
    Und inniger als dich? [226]

Aber am Schluß dieses Sonetts nimmt er das Orpheus-Motiv mit umgekehrtem Vorzeichen auf: Wenn er nur einen Menschen vor dem Tod retten könnte, so gesteht er, würde er nicht die Geliebte wählen, sondern seine Mutter. Bei alldem ist die eigenwillige Sprachbehandlung Gilms hervorzuheben. Auffällig ist seine aparte Reimtechnik. So reimt er »Havanna« auf »Hosianna« [114] - gemeint ist eine Zigarre. In den Sonetten finden sich ungewöhnliche Reimsequenzen, zum Beispiel »Schanzen / Monstranzen / Pflanzen / Assekuranzen« [165]. Eine andere Sequenz, »Kutter / Mutter / Luther«, beginnt überraschend mit dem Wort »Kanonenfutter« [158]. An Drastik ist Gilm kaum zu überbieten. In einem Sonett erörtert er, wie so oft, mit der Geliebten das Unwesen der Obskuranten. Das Schlußterzett lautet:

    Weiß Gott, sie haben schreckliche Gelüste -
    An Ketzerfeu’r gebratne Frauenbrüste,
    Gefüllt mit süßen Nachtigallenzungen. [158]

Kühne Wortprägungen fehlen nicht bei Gilm. So spricht er nicht etwa von Humanisierung, sondern viel dynamischer von »Enttierung« [164]. Des Wertes solcher Funde war er sich durchaus bewußt; denn zuweilen hat er sie wiederholt. Man kennt den »Amethystenbecher« aus dem - gleichfalls von Richard Strauss vertonten - Lied »Habe Dank« [262]. Das kostbare Wort taucht aber auch in einem der Sonette an die Roveretanerin auf. [236] Die besten Stücke aus diesem Zyklus sind, entsprechend der inneren Sonettstruktur, dialektisch angelegt. So breitet Gilm quasi eine theologische Dialektik aus und offenbart seine Auffassung vom Wesen und Ursprung der Sonettform:

    Was doch ein Jesuit kann alles wissen!
    Er predigte: Der Mensch kann nichts vollbringen;
    Wenn ich und du auf diesen Rasen springen,
    So hat es Gott gethan mit unsern Füßen.

    Und wenn wir etwas thun von bösen Dingen,
    Zum Beispiel stehlen, raufen oder küssen -
    Was wir uns aber niemals unterfingen -
    Hat Gott im Himmel mit uns stehlen müssen.

    Daraus ergab sich nun der Sünden Schwere,
    Weil Gott, der Reinste, Lob der Engelzungen,
    Vom Sünder wird zum Sündigen gezwungen.

    Der Jesuit bringt dich zu großer Ehre,
    Nicht ich, nach dieser orthodoxen Lehre:
    Gott selbst hat die Sonette dir gesungen. [223]

Gilm war Jesuitenhasser und deutsch-österreichischer Patriot, als solcher aber alles andere als borniert. Da die Roveretanerin vermutlich italienischer Herkunft war, befaßt sich Gilm mit diesem Thema sonettistisch. Er vergleicht den »deutschen Ofen« mit dem italienischen Kamin aus Marmor, bei dem er sein Mädchen küßt, und verlangt emphatisch, Deutschland müsse seine Öfen niederreißen und Kamine bauen. [229] - Den zeittypischen Weltschmerz und seine persönliche Dichtertragik formuliert Gilm am reinsten im folgenden Sonett:

    So schnell als möglich sucht man sie zu heilen,
    Die Wunden, die man selber sich geschlagen,
    Schlug man sie doch, um Narben auch zu tragen
    Und eines Kämpfers Ruhm damit zu teilen.

    Du meinst und sprichst es aus in deinen Zeilen,
    Ich sollt’ zum Schlusse meiner Liebesklagen
    Nun auch den Arzt um seine Meinung fragen
    Und dann gemütlich in den Hafen eilen.

    Doch Streiche giebt es, die so tief getroffen,
    Und Schmerzen giebt es von so wilden Gluten,
    Die nicht zu kühlen mit des Meeres Fluten;

    Und hat der Mensch nichts andres mehr zu hoffen,
    Zu beten nicht, als langsam zu verbluten,
    Dann, lieber Freund, läßt man die Wunden offen. [351]

Die letzten zehn Jahre seines Lebens verbrachte Gilm, zuletzt als Vorstand des Präsidialbüros, in Linz, wo er 1864 starb. Dreißig Jahre später, 1894, erschien die Gesamtausgabe seiner Gedichte bei Reclam in Leipzig. Eine kritische und umfassende Würdigung Gilms steht noch aus, wie Florian Sonneck, der Verfasser einer einschlägigen Dissertation an der Universität München, resümiert. Mag er, wie bereits zitiert, »der größte Dichter Tirols« sein - ihm selbst war eine solche Rangordnung im sozialdarwinistischen Literaturbetrieb wesensfremd. So schließt seine Tierfabel »Der Kater« mit den Versen:

    Ein jeder sei sich selbst genug,
    Und jeder ist der Größte. [306]
     
     

Die Seitenzahlen in Kastenklammern beziehen sich auf
Gedichte von Hermann von Gilm
Gesamtausgabe
Hrg. von Rudolf Heinrich Greinz
Leipzig: Reclam o.J. (1894)

Ausgangstext für die Sendung Bayerischer Rundfunk 16. I. 2001