Robert Wohlleben über Dirk von Petersdorff: Nimm den langen Weg nach Haus

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Dirk von Petersdorff

Memory and Desire

Über
Dirk von Petersdorff:
Nimm den langen Weg nach Haus
Gedichte
C. H. Beck
München 2010



Ein Schock Gedichte hat Dirk von Petersdorff hier versammelt, ein Dutzend davon sind Sonette. Er hat sie zur Abteilung »Die Vierzigjährigen« gebündelt. Ich meine daraus lesen zu dürfen, daß er als 1966 Geborener sich diesem Kohortenjahrzehnt zuzählt. Also – direkt oder auch auf Umwegen – von sich spricht. Da ist das Ich:

 

Man trifft sich im Flur

Mein Sohn trägt gelbe Shirts mit Zackenschrift,
wo Ritter ihre Laserschwerter heben
und eine Schlange einen Panther trifft –
das ist für mich vorbei in diesem Leben.
Doch bin ich im Besitz von frühen Siegen
als Fahrradfahrer, der dem Glück erlag,
denn sie, oh Gott, ist hinten aufgestiegen,
fasst meine Hüfte an, Elektroschlag.
Das steht dem Jungen alles noch bevor:
das feine, ungewisse Zukunfts-Brennen,
die heiße Röte bis hinauf zum Ohr
und Ungeduld, der Puls will immer rennen.

 

Der Mann macht langsam die Krawatte frei,
der Junge schiebt sein Mountainbike vorbei. (S. 51)


Ohne daß so etwas gesagt wäre, stellt sich eine Bildskizze ein. Ort: Wohnungs- oder doch mehr Hausflur. Zeit: später Nachmittag. »Ich«, von beruflicher Betätigung heimkehrend (»Job« oder »Arbeit« wollen nicht so recht passen), befreie mich vom Schlips, gleich auch vom Sakko; »meinen Sohn«, mit den Schularbeiten (hoffentlich!) fertig, ziehts zu seinesgleichen. Das Mountainbike läßt fast auf mittelgebirgige Ländlichkeit schließen, mit halbunwegsamem, halbabenteuerlichem Rauf und Runter.

So ist es Notat eines Lebens- und Gedankenmoments nach überschrittener Mitte der statistisch zu erwartenden Spanne des Erdenwallens … für Männer hierzulande und für 2009 mit 77,1 Jahren berechnet: Zukunftsschau aus der Vergangenheit, Seherspruch mit vorsichtigem Blick auf die »schwarzen und die heitern Lose« für – mal angenommen – »Den Zehnjährigen«. Nicht als flüchtige Reflexion kurz aufblinkend und vorbeiwehend, sondern angehalten, abgetastet, bewahrt und zum Gedicht verwebt. Um es vorzuzeigen: Im statuarischen Reimpaar des Gedichtschlusses werden überindividuell das Ich »der Mann« und sein Sohn »der Junge«.

Mit ihrem dreimaligen Kreuzreim und dem abschließenden Reimpaar, dem »heroic couplet«, erweisen sich von Petersdorffs zwölf Sonette als solche, wie sie Shakespeare schrieb. Am Beispiel zu sehn (zu hören eigentlich): »sauber« gereimt, das Versmaß mit seinen fünf Hebungen pro Zeile »sauber« im Sinne eines unangestrengten Parlandos gefüllt. Also ohne – dem Reim oder dem Metrum zuliebe – den Wörtern oder dem Satzbau Gewalt anzutun. So gehört es sich.

Die andren elf »Shakespeare-Sonette« halten sich ebenfalls, ebenso und wie durch die Bank auch die weiteren Gedichte des Bandes im Rahmen einer persönlichen Biographie. Was nicht sagen muß oder soll, daß es sich dabei um die des Dichters handelt. Empathie fürs Leben andrer reicht. »Alter Freund, alte Freundin« ist das erste der Sonette überschrieben. Andre Titel: »Sonntagabend«, »Freitagabend«, »Morgens durch die Stadt«. Das zwölfte, »Zweifel im Mai«, mit dem schönen, aber durchaus nicht fröhlichen Schlußreimpaar

 

Ich sitze mit den Spöttern an den Tischen
und rauche Wehmut mit den Träumerischen. (S. 60)

Mal abgesehn von der Assoziationsballung in der verrauchenden, veraschenden Wehmut, klingt hier auch der unmittelbare Beginn des Psalters an: »Wohl dem, der nicht […] sitzt, wo die Spötter sitzen.« Kein Segen über dem Wehmutsraucher. –

Blick auf die vier Dutzend in den Abteilungen »Dezentriert in Delmenhorst«, »Embleme für flüchtige Zeiten«, »Raucherecke«, »Sommerspiele« und »Nimm den langen Weg nach Haus«. Sie versammeln Gedichte verschiedener Macharten – Strophisches und Gereimtes untermischt mit Prosagedichten –, mithin nicht in der formalen Geschlossenheit der Sonettabteilung. Auch das »Spielkind« meldet sich zu Wort, so im Gedicht »Bierlied mit Benn«:

 

»Ich bin nichts Offizielles,
ich bin ein kleines Helles« –
ein Helles soll man zischen,
logisch, zum Erfrischen. (S. 44)

Und so weiter mit Weizen, Alt, Bock und Pils. Das sieht ganz nach Neuer Frankfurter Schule aus … und ist von Benn gezapft:

 

Der Herr drüben bestellt sich noch ein Bier,
das ist mir angenehm, dann brauche ich mir keinen Vorwurf zu machen,
daß ich auch gelegentlich einen zische … (»Im Restaurant«, 1950)

Nebenwirkung: Aha, kennt Benn. (Wie auch nicht!)

Da könnte es sich fast erübrigen, von hier und da wahrzunehmenden Bennschen »Tönen« zu sprechen, dem telegrammhaft Hingetupften etwa:

 

Alles fließt, sagte Hegels Tante. Das Haus
erbte sie von ihrem Vater.
Ein Leben am Herd. Rosmarin und Salbei.
Jeden Dienstag Eier holen … (»Am Rande«, S. 14)

Motivisches gar:

 

Nimm eine schwarze Nacht und sieh –
da ist ein schwereloser Bogen,
ein heller Strom aus Energie
durch die Finsternis gezogen. (»A 7, Kasseler Berge«, S, 21)

Das läßt mich an dies von Benn denken:

 

Wir ziehn einen großen Bogen –
wie ist nun das Ende – wie?
Über die Berge gezogen
und vor allem die Monts Maudits. (1950)

(Hab schon Autofahrer die Kasseler Berge verfluchen hören … an die dürfte Benn wohl kaum gedacht haben, eher an die Dreitausender der Pyrenäen.)

Nein: Das ist jetzt nichts, von Petersdorffs Gedichte drauf »festzunageln«. Dazu sind sie viel zu viel- und eigentönig. Gehört hier zur Eigentönigkeit, daß (selten genug!) mal von woanders her Fragmentchen einschießen. So Kleists Aufsatztitel »Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden« (S. 15) und Goethe zu verdankende Redensartlichkeiten (S. 15, 39). Ob die versal gegebene Formulierung »Der April ist / der passende Monat« (S. 10) wohl dessen Vorkommen in T. S. Eliots »Waste Land« um- oder abwenden soll? Dort ist er »the cruellest month«, der scheußlichste also, und richtet ein Durcheinander an von »memory and desire« … sollte er deshalb passen, weil eben dies der Motor ist, der so manches Petersdorff-Gedicht antreibt?

Glanzstück in dieser Hinsicht ist die Wiedererweckung der kurzen Ode »Die frühen Gräber« des alten Klopstock. Dritte und letzte Strophe dort:

 

Ihr Edleren, ach, es bewächst
     Eure Male schon ernstes Moos!
         O, wie war glücklich ich, als ich noch mit euch
             Sahe sich röten den Tag, schimmern die Nacht.

Im Gedicht »Raucherecke« die Erinnerung an die gymnasialen Oberstüfler vor Unterrichtsbeginn auf dem Schulhof:

 

Ihr Langen, wo seid ihr? Ich hab
nicht mal mehr eure Nummern.

So beginnts und endet dann so:

 

Wie ihr den Rauch
ausstoßen konntet,
ihr Edlen, ach,
alles war gut, als ich mit euch
sah sich röten den Tag, viertel vor acht. (S. 33)

Der Duktus der Odensprache ist da. –

Für seine Besprechung der Petersdorffschen Gedichte (Die Zeit, Nr. 36. 2. IX. 2010) wählte Florian Illies drei der Sonette aus der Abteilung »Die Vierzigjährigen« als Beispiele. In seinem Fazit kommt er auf diese Vierziger, die »so lange an ihrer wilden Jugend hingen, bis ihr Erwachsensein mit dem Altwerden in eins fiel«. – Was wohl dabei rauskäme, schriebe ein Siebziger über seinen Sohn, den Vierziger? Das Mountainbike – gabs damals noch nicht so richtig – könnte sich in eine Tausender mit sattem Klang verwandelt haben. – Ob ichs mal versuche …?

… ich tu’s!

Altona, im September 2010

Robert Wohlleben



 

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