DIE SYNKOPE
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Lang ausgestreckt und leer von allen Dingen |
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Diese Frage muß ich endlich einmal stellen, nachdem die Synkope in unserer Sonettkorrespondenz schon so oft ein Streitpunkt gewesen ist. Ich erinnere mich, daß Dir schon in meiner deutschen Fassung von Petrarcas »Canzoniere« die Synkope ein Dorn im Auge war , |
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Irrender Vogel, der du singend ziehest |
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obwohl oder weil? sich meine Fassung rhythmisch der italienischen Urform anschmiegte: |
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Vago augeletto, che cantando vai. |
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Zu diesem Beispiel bemerkt ja das Nachwort zum »Canzoniere«: |
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Der Zeilenbeginn »Irrender Vogel« scheint der Auftaktigkeit des fünffüßigen Jambus so zuwiderzulaufen, daß um den Synkopenreichtum der vorliegenden Übersetzung in der darüber mit Kennern, Liebhabern und Meistern des Sonetts geführten Korrespondenz immer wieder Kontroversen entbrannten. |
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»Meister des Sonetts« damit warest vordringlich Du gemeint, und Dein Gegenargument gegen meine Lösungen war hauptsächlich die Andersartigkeit der italienischen Verstradition. In der Tat ist der italienische Endecasillabo von einer ganz anderen Versatilität als der deutsche Elf- bzw. Zehnsilber: seine Betonungen können sich vom jambischen Grundmuster ( u u u u u u ) über jede Art Verschiebung nahezu bis zum Daktylos umgruppieren ( u u u u u u u ), und zwar in den Zeilen ein und desselben Gedichts. Ein berühmtes Beispiel solch quasi-daktylischer Gruppierung ist folgender Sonett-Anfang ebenfalls aus Petrarcas »Canzoniere«: |
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Se la mia vita da laspro tormento / ( ) |
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So weit bin ich dem Original denn auch nicht gefolgt die Synkope ( u u ) habe ich aber auch hier nicht verschmäht: |
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Kann sich mein Leben von den harten Qualen/ ( ) |
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Aber nicht allein Petrarcas Synkopen gaben Anlaß zu Meinungsverschiedenheiten, sondern zum Beispiel auch die Betonungen Gottfried Benns, von dem ich Dir einmal Nr. III des Gedichts »V. Jahrhundert« mit Bewunderung zitierte: |
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Leuké die weiße Insel des Achill! |
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Besonders bewunderte ich die Zeilen 3/4, deren letzte exakt das Betonungsmuster aller bisher zitierten Verse wiederholt. Zu meiner Überraschung begründetest Du Benns Synkopen mit dem »unmusikalischen Ohr« des Dichters. Du sagtest sinngemäß, manche hörten den Mißklang eben einfach nicht (Du wirst den Wortlaut anhand Deiner Briefkopien genauer verifizieren können). In diesem Urteil sehe ich ein grundsätzliches Mißverständnis der Synkope, die doch in der Dichtung genau so unverzichtbar ist wie in der Musik, wo die »Verlagerung der Betonungen« laut Musiklexikon »einen spannungsvollen Konflikt zwischen Metrum und Rhythmus« erzielt. In den Versen Benns korrespondiert die Synkope darüber hinaus aufs feinste mit dem poetischen Bild: Kann man die Verse 1/2 mit ihren Gräkismen »Leuké«, »Achill« und »Päan« der starren Tempelarchitektur vergleichen, so kommen die Möwen der Verse 3/4 deren Metrik zu nahe: sie »streifen die Tempelwand«; sie verletzen rhythmisch (das heißt »fließend«, wie ja auch das Meer und die Bewegung der benetzten Schwingen »fließend« sind) die starren Abstände des Metrums. (Diesem »Fließen« griechisch »rhein«, dem Wurzelwort auch des Begriffs »Rhythmus« werden wir im »Römischen Brunnen« von Conrad Ferdinand Meyer wiederbegegnen.) Aber ich erlebte im Briefwechsel mit Dir noch ganz andere Überraschungen. So hieß es ursprünglich in Deinem »Prolog zum Abendland«: |
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Stall des Augias, nicht mehr auszumisten. |
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Auch diese Durchbrechung Deiner Auftakte habe ich Dir einmal mit naiver Begeisterung gepriesen. Ich hätte es besser unterlassen; denn statt einzustimmen, danktest Du mir überschwenglich dafür, daß ich Dich auf einen Dir bis dato entgangenen Makel aufmerksam gemacht hätte, und revidiertest die Zeile wie folgt: |
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Augiasstall, der nicht mehr auszumisten. |
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Nie zuvor und nie danach habe ich es so bedauert, einen Dichter auf Schönheiten seiner Verse aufmerksam gemacht zu haben. Denn die Ersatzlösung steht m.E. der ursprünglichen Formulierung weit nach. An dem Vers, wie er ursprünglich dastand, beeindruckte (mich) nicht nur der »spannungsvolle Konflikt zwischen Metrum und Rhythmus«, wie er in allen zitierten Beispielen dem Sich-Spannen einer Feder gleicht. Sondern der Vers war auch grammatisch völlig im Lot. Die Revision glättet ihn in der Tat, aber wenn man schon die »glatte« Fassung vorzieht der Preis ist zu hoch. Die Glättung (genauer: Erschlaffung) verdankt sich der Einfügung eines schwachbetonten Füllworts, wie Du es ja (im Falle Radu Stanca) auch mir vorschlägst. Schwachbetonte Füllwörter aber sind nicht nur semantisch überflüssig; das Füllwort »der« Deiner Neufassung ist sogar schädlich. Es hebelt die »Ellipse« der ursprünglichen Fassung aus, macht aber auch keinen Relativsatz daraus. Mit einem »der« ohne finales »ist« ist die Zeile nun weder Fisch noch Fleisch. |
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Wie sich zeigen wird, kann dieser Sonderakzent über die vierte Silbe auch hinwegspringen. |
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Meine »Anthologie der Synkope« beginnt mit dem Minnesang des Kürenbergers |
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Wīp unde vederspil diu werden līchte zam |
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und den alten Volksliedern |
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All mein Gedanken, die ich han, die sind bei dir! |
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und führt über die Sinngedichte des Friedrich von Logau |
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Wie willst du weiße Lilien zu roten Rosen machen? |
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zum »Cherubinischen Wandersmann« des Angelus Silesius: |
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Mensch, was du liebst, in das wirst du verwandelt werden. |
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Zwischen Barock und Klassik steht Matthias Claudius: |
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Vorüber! Ach vorüber! |
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Goethes schönste Gedichte beginnen synkopisch, |
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Kennst du das Land wo die Zitronen blühn |
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und bitte zähle die Synkope einmal in den fünf Strophen von Goethes »Nachtgesang«! |
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O gib, vom weichen Pfühle, |
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Bei Schiller ist die Synkope schwebend allgegenwärtig im »Ring des Polykrates« so |
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»Herr, diesen Fisch, den ich gefangen, |
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und im Schauspiel (»Wilhelm Tell«): |
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Blind also! Wirklich b l i n d und g a n z geblendet? |
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In beiden Versen Melchthals (in »Wilhelm Tell«) wird der Sonderakzent auf der vierten Silbe durch den auf der sechsten, ja auf der achten bzw. zehnten noch übertroffen, weshalb Schiller auch Wörter unterstreicht, die sowieso kein Schauspieler der Welt unbetont lassen würde (»l e b e n und nicht s e h e n«). Die kinetische Energie der Synkope reicht so weit, den Sonderakzent über den ganzen Vers hüpfen zu lassen wie einen über das Wasser geschnippten Stein; und zumindest im zweiten der zitierten Verse verdankt sich die Unterstreichung nicht der Sinnverdeutlichung, sondern dem Gehorsam, mit dem der Dichter diese Schwungkraft der Synkope bestätigt. |
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Strahl, Himmelslicht! Flamm, Hölle, zu der Erden! |
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Die magischen Verse aus Brentanos »Libussa« haben die Synkope in jeder Zeile, die mit »Still« anfängt: |
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Still ist der graue Wolf, der listge Laurer; |
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Auch bei Eichendorff enthält ein Sonett »Jugendandacht« eine starke Synkope in der Mitte des zweiten Terzetts , |
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Geheimnisvoll gehn oben goldne Sterne, |
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und ebenso starke Synkopen in der Mitte der Schlußstrophe zeigt seine berühmte »Mondnacht«. Schumann hat beide bewußt auskomponiert und der vierten Silbe »Flügel« (bzw.«stillen«) den oben erwähnten Akzent verliehen: |
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Und meine Seele spannte |
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Platen nutzt die Synkope im Sonett |
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Ja, der sogar, der ruhig und gelassen |
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und im Ghasel: |
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Einförmig stellt Natur sich dar, doch tausendfältig ist ihr Tod. |
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In Heines »Buch der Lieder« ist die Zahl der Synkopen Legion: |
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Ich grolle nicht, und wenn das Herz auch bricht, |
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Mörikes »September-Morgen« zieht seinen Zauber nicht zuletzt aus der synkopischen Plazierung des starken Epithetons »herbstkräftig«, das »normalerweise« im Jambus ja gar keine Stelle hätte ebensowenig wie »irrender« (Petrarca/Dreyer) oder »frühzeitig«, »einförmig« und »wollüstig« (Platen): |
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Bald siehst du, wenn der Schleier fällt, |
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Nebenbei gesagt, bestätigt die Zeile die bei Schillers »Tell«-Zitat angestellte Beobachtung: die vierte Silbe ist zwar eine Hebung des vierfüßigen Jambus, trägt aber keineswegs den behaupteten Sonderakzent. Daß dieser über die vierte Silbe hinweg auf die sechste (achte, zehnte) überspringt, ist mit nachträglich geschärftem Ohr auch anderen der zitierten Gedichtzeilen abzulauschen |
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Gott wirst du, liebst du Gott (Angelus Silesius) |
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und namentlich einer der zitierten Ghaselen-Verse Platens macht auf noch ganz andere Komponenten aufmerksam, die bei der Akzentverteilung eine Rolle spielen zum Beispiel die Alliteration: |
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Einförmig stellt Natur sich dar, doch tausendfältig ist ihr Tod. |
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Trägt in Mörikes Zeile der zweite Versfuß eine gar noch schwächere Arsis als bei Platen, so machen doch auch hier der dritte und der vierte die Schwäche wett: |
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Herbstkräftig die gedämpfte Welt ( ) |
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Mörikes Imperativ dagegen fügt sich zudem ganz dem schon bei Friedrich von Logau, bei Claudius, Brentano und Heine beobachteten Muster: |
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Sie sind erlesen schon, |
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Dies ist ein Herbsttag, wie ich keinen sah |
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mit Conrad Ferdinand Meyers synkopisch aufspringendem Wasserstrahl im Gedicht »Der römische Brunnen« |
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Aufspringt der Strahl und fallend gießt |
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und mit Stefan Georges »Totgesagtem Park«: |
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Komm in den totgesagten Park und schau ( ) |
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Veni creator spiritus, |
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dessen zweiten Vers Goethe übrigens rhythmisch ganz getreu, nämlich ebenfalls synkopisch, übersetzt: |
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Komm, deine Seelen suche heim. |
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Da haben wir sie bereits im Lateinischen und im Deutschen gleich paradigmatisch , die rhythmische Stauung des Metrums und ihre Entladung zur vierten Silbe hin, kurz, die Synkope, die Du so verabscheust. Für mein Gefühl ist sie die Seele des Jambus und selbst wenn Du mir darin nicht zustimmst, so wirst Du anderseits auch kaum einwenden wollen, meine Blütenlese sei eine Zusammenstellung stümperhafter Verse, von denen Du Dich prinzipiell nur distanzieren kannst. Dagegen nun die »so ganz andere Lyrik« Klaus M. Rarischs »metrisch (weil synkopenfrei) makellos« (wie man doch wohl schließen muß). Aber ist es denn überhaupt denkbar, zwar a) den Jambus beizubehalten, sich aber b) im Verzicht auf die Synkope radikal von der Dichtungstradition abzukoppeln aus Gründen eines skurrilen und traditionslosen Purismus? Oder weiß es Dein lyrisches Ich besser, als Dein Dogmatismus ihm zugesteht? Machen wir die Probe aufs Exempel und öffnen wir Rarischs Gedichtband »Die Geigerzähler hören auf zu ticken« (1990). Ich habe das Buch allzuoft gelesen, als daß sich mein Exemplar nicht von selbst aufschlüge sagen wir, um die Seite 60 herum : |
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Blutlaugensalzbeladen ziehn die Kähne |
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S.61 Vers 1 , |
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Krank wie der Arzt, der seinen Arzt nicht fand |
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S.62 Vers 1 , |
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Zusehends dünner wird die Haut der Welt |
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S.67 Vers 2: |
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Richtend auf uns den strengen Richterstab ( ) |
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Jede dieser Zeilen gliedert sich in ihrer rhythmisch-metrischen Struktur dem Bild des deutschen Jambus ein, wie ich es entworfen und exemplifiziert habe. Womöglich wirst Du die zitierten Verse als »Jugendsünden« verurteilen. Dann gehen wir zu den Sonetten 100 und 101 über, den letzten des Buches, und zitieren aus Deinem Jahrhundertsonett MENSCHÜBER MENSCHUNTER, S.105, die Schlußverse 13/14 |
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Mordkutschertat Turin ein Geist stürzt ein: |
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Und vom Schlußgedicht GRUPPENBILD OHNE DAME, S.106, Vers 15 die das ganze Buch abschließende Coda des einzigen »Sonetto caudato« und zugleich die Selbstcharakterisierung des Dichters: |
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Nur ein poète maudit, ein Visionär. |
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Auch dies noch »Jugendsünden«? So zwingst Du mich denn, aus Deiner allerletzten Veröffentlichung zu zitieren »Entferntere Nirwanen«, Meiendorfer Druck Nr.60, Hamburg 2007 , die noch druckfrisch vor mir auf dem Tisch liegt. |
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Ein Arbeitsplatz für tausend Arbeitslose. |
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DIE TONNE, Vers 8, |
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Geh aus der Sonne mir, laß dich nicht mahnen! |
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LIEBST DU? Vers 1, |
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Liebst du? um was? Um Liebe? Nun, so wisse: |
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Vers 5 (nach Goethes Muster), |
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Kennst du das Land, das dir Gewissensbisse/ gewährt ( ) |
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und Vers 7: |
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Hältst du ein Höheres nicht hoch in Ehren? |
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SURSUM CORDA! Vers 14: |
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Längst nahm ein Knochenmann uns ins Visier. |
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WÜRDE, Vers 6: |
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Wer übersprang schon leicht die Hürde/ ( ) |
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Noch einmal also die Gretchenfrage: Was hast Du gegen die Synkope? Nach wessen Vorbild verteufelst Du sie? Als wessen Schüler kreidest Du sie Deinen Schülern an? Nach wessen Muster lobst Du sie mit einer Gleichung, die so offensichtlich nicht aufgeht? Auf Platens Marmorglätte darfst Du Dich dabei am allerwenigsten beziehen: |
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Horch! wie es säuselt in den alten Rüstern! |
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Ein jeder, es sei denn, er schreibt nur Schund, |
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Für mich jedenfalls ist es eine Synkope, denn mich zwingt der Sprachgebrauch, den Vers nahezu daktylisch zu lesen, was den (deutschen) Jambus nun allerdings sprengt: »Ein jeder, es sei denn, er schreibt nur Schund« eine solche Betonungsverteilung ist nur im italienischen Endecasillabo möglich siehe oben. Ich schlug Dir vor, stattdessen zu formulieren: »Ein jeglicher, es sei denn, er schreibt Schund«. Aber jeder muß seinem eigenen Kompaß folgen; und es sei ferne von mir, Dir meinen Nordpol aufzwingen zu wollen. |
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