Auszüge aus dem Nur wenige Städte haben im Lauf der Zeit ihr Antlitz so verändert wie Altona. Wer heute nach Spuren der Altstadt sucht, findet nicht viele: die katholische Kirche in der Großen Freiheit, der portugiesische Judenfriedhof und die evangelische Hauptkirche zählen dazu. Sie erinnern an die Bedeutung einer Stadt, die in ihrer einstigen Gestalt nicht mehr existiert. Das Areal ist heute ohne urbanes Leben, eine Wohngegend mit Grünanlagen und einem Einkaufszentrum, das sich südlich der Großen Bergstraße in Beton etabliert hat: Stadtplanung. Touristen könnten glauben, hier sei nach 1945 eine Trabantensiedlung entstanden. Quirliges nächtliches Treiben belebt nur noch die Große Freiheit, eine Attraktion St. Paulis: eine Straße, von der selbst viele Bewohner des Viertels nicht wissen, daß sie einst eine wichtige Lebensader Altonas war. Nichts verdeutlicht diesen Wandel mehr als ein Vergleich mit St. Pauli, der ehemaligen Vorstadt Hamburgs. Es gewann erst Profil, als Altona schon lange Stadtrechte besaß, und ist heute weit lebendiger als das alte Altona, das um 1800 eine bemerkenswerte und pulsierende Handelsstadt war. Die Stadt gehörte damals zum Herzogtum Holstein, das seinerseits in Personalunion mit dem Königreich Dänemark verbunden war. Nach der Niederlage der Österreicher im Preußisch-deutschen Krieg von 1866 gehörte Altona zur preußischen Provinz Schleswig-Holstein.Mit dem Großhamburg-Gesetz von 1937 wurde Altona der wirtschaftlich dominierenden Schwesterstadt als »Bezirk« zugeschlagen. Selbst das seit 1889 zu Altona gehörende Ottensen um 1800 noch ein unbedeutendes Dorf zählt längst zu den lebendigsten der 104 Stadtteile Hamburgs, so daß Altonas südliche Altstadt dagegen in vieler Hinsicht als reizlose Ödnis erscheint. Wenn sich die Hafenstadt Altona extrem veränderte, so resultiert dies aus der Industrialisierung, den massiven Zerstörungen durch den Zweiten Weltkrieg und einer radikalen Sanierung,die sehr wenig Gespür für die Bedeutung der Baudenkmale des historischen Stadtkerns besaß. Innerhalb der Reisebeschreibungen jener Zeit dürften die »Fragmente« nicht nur als Altonensie hervorzuheben sein. Allein wenn der Verfasser fast jede Straße Altonas beachtet und charakterisiert, so übertrifft er damit die meisten in Deutschland erschienenen Werke dieser Gattung. Zwar hat er nicht mit jener Sorgfalt und Prägnanz recherchiert wie Jonas Ludwig von Heß, dessen erste beide Bände »Hamburg topographisch, politisch und historisch beschrieben« (1787 und 1789) er sicher kannte. Dafür gelingt es ihm aber sehr plastisch, das Alltagsleben und die Mentalität des Ortes und der Einwohner zu veranschaulichen. Die »Fragmente« weisen einige charakteristische weltanschauliche Merkmale auf. Sehr bemerkenswert ist es, wie ausführlich und sachlich der Text über die jüdischen Einwohner der Stadt berichtet. Der Autor hat keine Vorurteile, und es ist bezeichnend, wenn er z.B. lobt, daß der Generalsuperintendent Jacob Georg Christian Adler bei einem Besuch der Stadt »dem jüdischen Oberrabbiner einen Besuch machte«. Weiterhin zeigt sich der Verfasser als dänischer Patriot, der den König preist, die gute Polizei in Altona würdigt und zudem die religiöse Toleranz hervorhebt. Verbunden ist damit eine kritische Haltung gegenüber Hamburg und der Hamburger Lebensart. Er stellt z.B. fest, daß »der Luxus, in Altona bei weitem nicht einen so ausgebreiteten Kult findet, als in Hamburg«. Schließlich ist das topographische Essay durch seine sozialkritische Grundhaltung geprägt, wie die Bemerkungen über das Lotto und den Tageslauf des Nachtwächters verdeutlichen. Heinrich Würzer wurde als Sohn eines Zuckerbäckers am 28.Januar 1751 in Hamburg geboren. 1756 starb sein Vater, und der Stiefvater von Hagen entschied, daß der Knabe Pastor werden sollte. Nach dem Besuch des Johanneums wurde er am 4. Mai 1772 als Student der Theologie in Göttingen immatrikuliert, wandte sich aber bald der Rechtswissenschaft und Philosophie zu. 1774 wirkte er als Hofmeister bei den Kindern des hannoverischen Gesandten Graf Johann Ludwig von Wallmoden in Wien und begleitete die Familie nach Lausanne. Wallmoden war ein natürlicher Sohn des englischen Königs Georg II. Anvertraut wurde Würzer die Erziehung von Ludwig Georg Thedel Graf von Wallmoden, 1769 in Wien geboren, der später eine bemerkenswerte militärische Karriere durchlief. Als er 1779 nach Göttingen zurückkehrte, erwarb er im Juli 1780 die philosophische Doktorwürde und war in der Universitätsstadt Privatdozent für romanische Philologie. Von 1782 bis 1788 verdiente er seinen Lebensunterhalt als Privatlehrer in seiner Heimatstadt Hamburg. 1784 trat er in die Freimaurerloge »Ferdinande Caroline« ein. Im selben Jahr gründete er die Zeitschrift »Deutsche Annalen«. Bereits in dieser Veröffentlichung kritisierte er die Judenfeindlichkeit seiner Hamburger Mitbürger und wurde zum Anwalt für die bürgerliche Gleichstellung der Juden. Er empörte sich darüber, daß jüdischen Kindern selbst ein Recht auf Bildung verwehrt wurde: Sogar der Unterricht, der zur Aufklärung führt, wird der jüdischen Jugend in unsern Schulen untersagt. Nur vor vierzehn Tagen gaben sich einige reiche Juden, die ihre Kinder zur Arbeitsamkeit, zum vernünftigen Denken und zu guten Sitten anzuführen suchen, von gutgesinnten Christen unterstüzt, vergebliche Mühe, diese Wohlthat für ihre Familien zu erhalten. Nach dem Tod Friedrich II. begab sich Würzer im Februar 1788 nach Berlin und veröffentlichte eine Schrift gegen das preußische Religionsedikt. Das »Edikt, die Religionsverfassung in den preußischen Staaten betreffend«, vom 9. Juli 1788 datiert, entstammte der Feder von Johann Christoph Wöllner, der am 3. Juli zum Justizminister ernannt und mit der Leitung der geistlichen Angelegenheiten betraut wurde. Es pochte auf die Rechtgläubigkeit von Geistlichen und drohte mit Sanktionen für jene Prediger und Schullehrer, die davon abwichen. Es war zudem der Beginn einer konservativen Kulturpolitik in Preußen. So heißt es u. a.: Man entblödet sich nicht, die elenden, längst widerlegten Irrthümer der Socinianer, Deisten, Naturalisten und anderer Secten mehr wiederum aufzuwärmen, und solche mit vieler Dreistigkeit und Unverschämtheit durch den äußerst gemißbrauchten Namen: Aufklärung unter das Volk auszubreiten. Das publizistische Echo auf diesen »Radikalenerlaß« war beträchtlich. Würzer selbst appellierte an den König und andere Fürsten, indem er schrieb: Fürsten, überlaßt die Religion völlig dem Gewissen eurer Untertanen; laßt jede Religionspartei gleichen Schutz und gleiche Rechte genießen; befördert wahre Aufklärung, besonders durch Anstalten zum gründlichen Unterricht der Jugend in nützlichen Dingen, und durch Entfernung der Geistlichen von den Schulen; schätzt und braucht den rechtschaffenen und geschickten Mann, ohne Rücksicht auf sein kirchliches System; verachtet das Geschrei der Orthodoxen, und erlaubt ihnen nie, anderer Gewissensfreiheit zu verletzen; verachtet alle Schwärmerei und alle Bemühungen der Proselytenmacher. Würzers Kritik hatte zur Folge, daß er zu sechs Wochen Gefängnis abzüglich der Untersuchungshaft und einer Geldstrafe verurteilt wurde. Der Prozeß, in dem er sich selbst verteidigte, und seine Verurteilung führte dazu, daß er, der nicht zu den literarischen Größen der Zeit zählte, recht bekannt wurde. 1790 eröffnete er in Berlin eine Privatschule und heiratete mit39 Jahren am 17. Januar 1790 in der Französischen Kirche Anne Marie Ponge (1761-1820), eine Hugenottin, die ihm zwei Töchter gebar. Am 15. Februar 1792 wurde Antoinette Wilhelmine Würtzer geboren. Als 1792 der preußische Kultus- und Erziehungsminister Johann Christoph Wöllner den Lehrern einen orthodoxen Katechismus aufzwang, weigerte sich Würzer, ihn einzuführen. Seine Schule wurde geschlossen. Mitte 1793 verließ er Berlin und wohnte bis zum Jahre 1802 in der Großen Bergstraße 145 in Altona. Er selbst wählte bewußt Altona als Wohnort, weil er dort unter dem Schutz Dänemarks seine Ideen ungehindert veröffentlichen konnte. So stellte er über die dänischen Staaten fest, sie seien fast die einzige Zuflucht der Preßfreiheit, indeß sie selbst aus dem vormals so freien England verbannt ist; ein Umstand, der vor ohngefehr anderthalb Jahren in Berlin so sehr auffiel, daß man sich dort die Staaten des Königs von Dännemark als den Aufenthalt aller aus dem deutschen Reiche vertriebenen Jakobiner vorstellte, und sich mit dem Gerüchte trug, es wäre vor dem Comödienhause in Altona ein Freiheitsbaum gepflanzt worden. Über seine persönlichen Lebensumstände ist sehr wenig bekannt. Man darf vermuten, daß er Ende des Jahres 1795 den bedeutenden radikalen Publizisten Georg Friedrich Rebmann kennenlernte, der nach einer abenteuerlichen Flucht aus Erfurt ein knappes Jahr in Altona lebte. In einem Hilferuf, den der verfolgte Rebmann am 15. Dezember 1795 an den Publizisten Andreas Riem nach Berlin sandte und der von der Postbehörde abgefangen, geöffnet und dem preußischen Ministerium übergeben wurde, liest man: Man will meinen Kopf. Nackt und bloß bin ich den Henkern entsprungen, die mich mit Cavallerie und Infanterie suchen. Mein Verbrechen nennt man Hochverrat, weil ich frei und kühn sprach. Ich schreibe Ihnen dies unter dem Altar einer Dorfkirche, wo ich mich verkrochen habe. Ich habe nichts gerettet als die Münze, die ich bei mir trug. Vollmer sitzt auf der Zitadelle. Die Husaren sprengen meilenweit nach mir. Jetzt bitte ich Sie, Ihre Freundschaft zu bewähren. Ich kann nicht zu Ihnen, denn man hat die Route dahin scharf besetzt. Aber ich bitte um alles Geld, was Sie auftreiben können. Meine Adresse ist: An Herrn Schmidt, Handlungsdiener in Altona, abzugeben bei H. D. Würzer. Ein weiteres Thema Würzers ist der übertriebene Luxus vor allem in Hamburg. So heißt es in unseren »Fragmenten« u. a.: Auch der großen Häuser gibt es verhältnismäßig nicht viele, die Equipage halten. Wie sehr diese überhaupt sich einschränken, zeigt sich in allen Stükken. Livree und jenen in Hamburg so gewöhnlichen Überfluß an allerlei Dienstboten, findet man hier nur selten. Die großen sogenannten Abfütterungen sind ebenfalls hier bei weitem nicht so zahlreich. Man ziehet denselben die kleinen freundschaftlichen Kreise vor, in welchen man bei einigen Schüsseln und einer Sorte guten Tischweins recht vergnügt zu seyn versteht. Überlegungen zur einfachen Geselligkeit wiederholen sich in einer späteren Abhandlung: Die Einstellung so vieler großen Gastereien bei den jetzigen Conjuncturen ist wahrlich keine von den unglücklichen Folgen derselben; ja sie kann mit Recht zu den glücklichsten Ereignissen gezählt werden, wenn sie denen, die sich gegenwärtig zu einer frugalern Lebensart gezwungen sehen, Veranlassung giebt, zu lernen, daß ein bescheidenes Mahl, unter dem traulichen Geschwätze guter Freunde und Bekannte mehr wahren Genuß gewährt, als die prachtvollste und künstliche Tafel in einer glänzenden Gesellschaft. Und in demselben Text geißelt er die Gewinnsucht von Kaufleuten: Der Kaufmannsgeist, ein Geist des Eigennutzes und der Ungerechtigkeit, ist ein abgesagter Feind aller liberalen und edlen Gesinnungen, erstickt in einem Staate, wo er herrschend wird, alles Gefühl für das Edle und Schöne, und lehrt den Werth des Menschen nach seinem Gelde schätzen. Speziell die genaue Beschreibung der Juden in Altona ermöglicht es, Würzer einen weiteren Beitrag in der Zeitschrift »Hamburg und Altona« zuzuschreiben. Es handelt sich um die Abhandlung »Ueber den Zustand unsrer Judenschaft«. In einigen Passagen liest sich dieses Essay wie eine Fortsetzung seiner »Fragmente« und als eine Zusammenfassung seiner Kritik an Hamburgs Einstellung den Juden gegenüber,die er wie schon erwähnt in früheren Schriften wiederholt angeprangert hatte. Die Verfasserschaft Würzers wird besonders deutlich, wenn er auf das »Museum« und die Stellung des neuen Oberrabbiners eingeht. Inhaltlich, stilistisch und diesmal auch orthographisch sind diese Teile der Texte fast identisch. Ein zusätzlicher Beleg für Würzers Verfasserschaft ist ein Angriff auf die Hamburger Freimaurerlogen: Die Sache ist nemlich die, daß die Hamburger Maurerlogen, die doch alle der echten brittischen Maurerei zugethan sind, welche nicht erlaubt, daß man der Religion halber unter den Menschen einen Unterschied mache, die Juden weder aufnehmen noch als Gäste zu ihren Logen zulassen; und daß daher die jüdische Nation genöthiget ist, ihre eigne besondre Loge zu bilden. Im übrigen finden sich auch hier die Anknüpfungen an seinerzeit aktuelle Diskurse: Zweimal fertigt Würzer kurz, doch mit entschiedenem Dégoût den geifernden, also dümmlichen und entsprechend einflußreichen Judenhasser Carl Wilhelm Friedrich Grattenauer (1771-1838) ab einen Berliner Juristen, der 1803 sein Pamphlet »Wider die Juden. Ein Wort der Warnung an alle unsere christlichen Mitbürger« hatte erscheinen lassen. Rechte bei fulgura frango |