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Der Sinn des Lebens
in Marmor

Arno Holz
bei der Arbeit beobachtet

Arno Holz
Berg des Lebens

Ein Phantasusgedicht fürs Theater
Aus der Tragödie «Sonnenfinsternis»
Mit einem Augenzeugenbericht
von Robert Reß,
einer Zeichnung zum Thema
von Frank Böhm
und einem Nachwort
herausgegeben von Robert Wohlleben

Meiendorfer Druck Nr. 5

Robert Wohlleben Verlag
Hamburg 1980
48 ungezählte Seiten


Es scheint, als erlebten wir eine Arno-Holz-Renaissance. Spätestens seit der 50. Wiederkehr des Todestages des Dichters sind alle jene aufgemacht, die dabeisein wollen, wenn es gilt, die Zeichen der Zeit zu erkennen und zu bereden. Und wie es scheint, läuft die Wiederentdeckung in der umgekehrten Reihenfolge ab, in der Holz seinen Weg gemacht hat. Als Theoretiker des Naturalismus hatte er ja eigentlich immer einen festen Platz in den Literaturgeschichten, zumindest solange und als die deutsche Literaturgeschichte die deutsche Literatur historisierte. Als Dramatiker ist Arno Holz in der letzten Zeit erfreulicherweise wieder mehr gefragt – jeder schaufelt sich schließlich seinen Nachruhm selbst, je tiefer die Grube, desto länger braucht er –, und aus der widersprüchlichen Rezeption kann man immerhin entnehmen, wie modern dieser Mitbegründer der «Moderne» noch oder wieder ist. Als Lyriker wurde Holz seit dem Augenblick verkannt und vergessen, da er von der (gesamteuropäischen) synästhetischen Lyrik der Jahrhundertwende zu seiner typischen sezierenden Zerlegung des Inhalts in die «heterogensten» sprachlichen Bestandteile überging. Diese private Sezession Holz’, seine prägnante Indirektheit, die charakteristische Einengung durch immer neue Attribute, Bilder, Vergleiche, Episoden, wurde von einzelnen immer geschätzt, ja bewundert und in verschiedenen Ausformungen abgeschwächt auch tradiert, und es ist vielleicht seine persönliche Tragik, daß er sich in der zweiten Hälfte seines lyrischen Schaffens einer Kunst für Einzelgänger verschrieben hat (von der Höhe der Anforderungen her gesehen), aber den Dank der Massen erhoffte.

Alle diese drei Gattungen kommen in einem Bändchen zum Zug, das Robert Wohlleben für Arno Holz herausgegeben hat. Was ist der «Berg des Lebens»? Nach dem Untertitel zunächst einmal die einfache Erklärung «Ein Phantasusgedicht fürs Theater». Ein als Monolog konzipiertes Gedicht beziehungsweise ein als Gedicht durchgearbeiteter Monolog, was sich nicht unbedingt widersprechen muß. Ein Text von etwas über hundert Mittelachsenversen, aus dem Nachlaß des Dichters ediert und als Gedicht bisher also unveröffentlicht, das genaue Entstehüngsdatum ist nicht mehr feststellbar, irgendwann zwischen 1908 und 1919. War auch zuerst die Monologfassung da, kann man doch nicht einfach von einer Umarbeitung, einer «Repoetisierung» sprechen, da überhaupt bei Holz einige Rollen und daraus wieder einige Passagen typische Phantasusstilmerkmale besitzen.

Könnte man einen Begriff, eine Sache wie «Liebe» gegenständlich darstellen, z. B. als Marmorplastik, wie würde sie aussehen? Es wäre nicht mehr bloß eine Plastik, es wäre – ein materialisierter Biokosmos – der Berg des Lebens, ein Weltenberg, ein mystischer Berg Meru. «Denk dir / einen ... Marmorberg!» Holz gibt sich selbst das Stichwort, um dann mit der Beschreibung seines anthropomorphen Berges lozulegen, der zwischen höchster Schönheit und Verwesung – und allen Übergängen mit allen Posen, Positionen und Perversionen – in einer riesigen Metapher das versinnbildlicht, was verabsolutiert und resümierend Leben ausmacht. Und mit der äußeren Darstellung müßte dann auch der Sinn des Lebens mit eingefangen und dargestellt sein, das heißt, aus dieser Plastik müßte man ihn endlich ablesen können – und sei der ganze Sinn nur in der Darstellung der Sinnlosigkeit gelegen.

Und nun muß man dieses Gedicht noch innerhalb seiner Umgebung in der «Sonnenfinsternis» sehen. Im Schlußakt entwirft der Maler (!) Hollrieder diese Vision, er entwirft sie im Erlebnis des Auslöschens einer Liebesbeziehung durch den Tod, als Flucht in eine transzendente Nachschöpfung («Aere perennius»!). Das Kunstwerk für die Wirklichkeit, und so gesehen hat Hollrieders ureigenster Mono-Log für ihn den einen Sinn, daß sich der Künstler an dieser visionären «Lebens»hilfe aufrichtet und die Kraft findet, sich bis an sein Lebensende durch die Zeit «lebend» weitertragen zu lassen.

Anschließend an das Gedicht ist von Holz’ treuem Freund und Mitstreiter Robert Reß ein «Augenzeugenbericht» abgedruckt, der – bisher auch unveröffentlicht – tragikomisch Einblick in eine Dichterwerkstätte gibt, der äußerlich, aber nur äußerlich so viel anhaftet von Spitzwegs Dachbodenpoetenkammer. Ich halte diesen Bericht für ungeheuer wichtig, zeigt er (neben der Menschlichkeit eines Titanen) doch die Korrelation von systematischer Arbeitsmethode und manischem Sprachfluß. Und angesichts der doch eher tristen Arbeitsverhältnisse möchte man neben den Marmorberg der Liebe für Holz noch einen des Mitleids setzen.

Auf den restlichen zwei Fünfteln bringt der Herausgeber eine aufschlußreiche Untersuchung der Stellung des «Bergs des Lebens» innerhalb der Tragödie «Sonnenfinsternis». Er erleichtert damit nicht nur das Verständnis für diesen Text, das gar nicht so leicht zu gewinnen ist, sondern überhaupt auch für die Holzsche Dichtungs- und Kompositionstechnik. Er stellt heraus, wie sehr der ausgeprägte Phantasusstil auch durch die Dramensprache bedingt ist, daß der Konnex zur «Sonnenfinsternis» für den «Berg des Lebens» in mehr als nur inhaltlicher Hinsicht bedeutsam ist. Man kann Wohlleben nur wünschen, daß er seine projektierte größere Arbeit über Holz endlich realisieren kann, doch mit guten Wünschen allein ist es natürlich nicht getan.

Die Meiendorfer Drucke haben (nicht nur quadratisches) Format und Stil. Der Herausgeber schlägt einen unkonventionellen, jovialen Ton an und springt mit seinen Lesern wie mit Freunden um. Hallo, da sind wir wieder, diesmal geht’s mit Arno Holz rund. Podium vor einer imaginären Arno-Holz-Gemeinde? So schreibt eigentlich jeder, doch er hüte sich vor Feinden. Hier ist wieder einer, der es sich leisten kann, «schwache» Stellen zu zeigen. Eine bibliophile Kleinedition, deren blauer Druck mit dem braunen Papier bewußt kontrastiert. Handschriftenproben und zwei Holz-Schnitte – einer von heute von Frank Böhm und ein fantastisches Porträt des Phantasusdichters als Fabelwesen aus dem Jahr 1922 von Erich Büttner – unterstreichen die Bedeutung des Bändchens als Markstein der Holzedition.

Herbert Fussy