Nach den Wortkaskaden von Arno Holz und Robert Reß soll mein Nachwort dürr werden und kurz, wenns geht. Kann ich den Vorsatz durchhalten? Ich will nichts Sekundäres zitieren. Wenns geht. Der hier vorgelegte Text von Arno Holz (1863 bis 1929) ist als kleineres Manuskript von 5 Blättern im Nachlaß enthalten, den die Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin, im Jahre 1969 von Anita Holz, der Witwe des Dichters, erwarb. Das Manuskript bietet eine monologische Passage aus dem 5. Akt der Künstlertragödie »Sonnenfinsternis« mit den charakteristischen Merkmalen der Phantasus-Gedichte das betrifft schon mal die Zeilenanordnung mit der Mittelachse. Der Text ist damit ein guter Beleg für den Zusammenhang zwischen der lyrischen und der dramatischen Produktion von Arno Holz. Darüber hinaus finde ich darin Hinweise, wie der poetische Sprechakt (Pardon für die simplifizierende Idealisierung!) bei Arno Holz bezogen und intendiert ist. Der Augenzeugenbericht von Robert Reß (1871 bis 1935) entstammt einem unveröffentlichten Manuskript im Arno-Holz-Archiv (Amerika-Gedenkbibliothek, Berlin): Die deutsche Form der Wortkunst und ihre Schöpfung durch Arno Holz. Der Grund für den Abdruck liegt wohl auf der Hand: So detailreich und hautnah wird Dichtungstechnik kaum je geschildert. Erwogen hatte ich, ein Foto der »Dachkammer« als Illustration zum Text von Robert Reß wiederzugeben. Das ist unterblieben. Ich geb jetzt aber doch noch Illustration zu, und zwar ein von Erich Büttner lithographiertes Plakat von 1922 mit der Ankündigung einer Phantasus-Rezitation. Es lief mir erst kürzlich über den Weg. Die Wiedergabe hier ist mir dreifach plausibel: Einmal ist das Porträt (mit der unvermeidlichen Felix Brasil) bisher unbekannt, sodann ist die halb gefrozzelte Darstellung als etwas prädatorisches Fabeltier keine so ganz abwegige Interpretation des Phantasus-Dichters, und schließlich illustriert das Plakat doch auch die Vorstellungen von einer Bühnendarbietung des Phantasus, wie Arno Holz sie grade 1922 veröffentlichte. Von Erich Büttner, 1889 bis 1936, Schüler von Emil Orlik und Mitglied der Berliner Sezession, weiß ich grad nur, daß er als Maler, Graphiker und Illustrator hervorgetreten ist. Es gibt Arno-Holz-Porträts von ihm, so auf dem Titelblatt der »Blechschmiede« von 1917 und auf dem Umschlag für »Das ausgewählte Werk« von 1919.
Hier keine »Inhaltswiedergabe« des Sechspersonenstücks mit seinen kompliziert verknoteten Handlungs- und Problemsträngen, angesiedelt in der Berliner Kunstszene der Jahrhundertwende. Ebenso nichts über die verschiedenen Grade von Fiktionalität bis Porträtähnlichkeit bei den Dramenfiguren. Über solche Fragen hat besonders Walter Beimdick gearbeitet. Die Erstfassung der »Sonnenfinsternis« entstand in den Jahren 1906 bis 1908. Das Stück erschien 1919 in einer stark eingreifenden Neubearbeitung, Arno Holz war nach Veröffentlichung seines großen Phantasus im Insel-Verlag (1916) darangegangen. Ein bißchen sind die beiden Protagonisten Hollrieder und Beatrice (La bella Cenci am Stückanfang) anzusehen. Sie sind wichtig fürs Verständnis der Textpassage »Berg des Lebens«.
Früheste Station von Hollrieders künstlerischem Werdegang war nach Bildhauerlehre die Tätigkeit als Hilfsarbeiter in den Ateliers des etablierten Bildhauers Lipsius. »Deutschlands größter lebender Bildhauer« wird dieser gelegentlich im Stück genannt. An Reinhold Begas etwa wäre zu denken, um für Lipsius die Dimension von Hochgeschätztheit, Staatsaufträgen, Können und Konventionalität abzuschätzen. Hollrieders Statuetten aus seiner Zeit als »Kuli« bei Lipsius weisen schon unkonventionelle, neue Züge auf, wie sein Freund Url fallen läßt. In der Folge tat Hollrieder sich mit dem Freund Musmann zusammen und malte mit ihm in Gemeinschaftsarbeit das Bild »Kameraden«: Zwei Landstreicher schleppen sich durch den Schnee auf die Großstadt in der Ferne zu. Technisch und konzeptionell ein Neuer Realismus, der nachhaltige Beachtung fand. Hollrieder setzte die naturalistische oder meinetwegen sozialrealistische Arbeit fort bis zur Perfektion: Arbeit im Dienste des Fortschritts auf diesem Gebiet. Wenn das Stück beginnt, weiß Hollrieder nicht weiter mit seiner Lösung eines Elendsnaturalismus in Opposition zu den Idealisierungen andrer Maler. Er will »ein Einzges, das alles umfaßt« (Sonnenfinsternis 1908, S. 73), also vielleicht etwas wie eine realistische Pittura Metafisica. Die Erinnerung an eine »große« Sonnenfinsternis »vor fünfzehn Jahren« (wohl die totale vom 18. 8. 1887) bringt den thematischen Ansatz zum angestrebten Überrealismus (Sonnenfinsternis 1908, S. 79). Als dies Bild schließlich in der Ausstellung der Sezession hängt, hält es für Hollrieder den Vergleich mit einem Gartenausschnitt im benachbarten Fenster nicht aus; er wertet seinen Ansatz zu einem Neuen Realismus als totalen Fehlschlag (3. Akt). Im »Berg des Lebens« ist dann Hollrieders ultimater Versuch konzipiert, über alle Realismusdiskussion hinweg das Vokabular für eine direkte Umsetzung von Erfahrung in Bildwerk zu finden.
Die Beziehung zwischen Hollrieder und Beatrice geht lange vor der Bühnenhandlung los: Hollrieder rettete sie aus dem Wasser, als sie sich nach dem Inzest mit dem Vater, eben diesem Professor Lipsius, das Leben hatte nehmen wollen. Im ersten Akt des Dramas begegnen die beiden sich wieder, ohne daß Beatrice sich zu erkennen gibt. Sie ist im Ausland als Pantomimistin (d. i. Darstellerin »lebender Statuen«) zu einem international erfolgreichen Star geworden. Genau wie Hollrieder fühlt sie sich an einem Stagnationspunkt in ihrer Kunst. Sie sitzt ihm für eine der Vordergrundgestalten im Bild »Sonnenfinsternis«. Beatrices Emotionalität und Handlungsmuster sind geprägt durch die Schuldbelastung wegen des Inzests mit dem Vater. Nach Zusammenstößen mit Lipsius und nach Hollrieders Fensterausschnitt-Fiasko reisen Beatrice und Hollrieder ab, um in Frankreich zu heiraten. Die beiden kehren dann überstürzt zurück, weil Lipsius sich erschossen hat. Bei der Rückkehr ins inzwischen leergeräumte Atelier Hollrieders entwickelt dieser gegenüber seinem Freund Url das Konzept »Berg des Lebens«. Beatrice hört zufällig mit. Wenige Szenen später stürzt sie sich vom Atelierbalkon.
Ursprünglich hatte Arno Holz ein »Stück mit vier Leichen« geplant, es blieb bei zweien. Mir scheint bedeutsam für die Psychologie des Stücks, daß durch beide Tode intensive Liebesbeziehungen abgerissen werden: die zwischen Lipsius und Beatrice und die zwischen Beatrice und Hollrieder. In diesem Stück und krasser noch im folgenden Drama »Ignorabimus« sind Liebesbeziehungen verfangen in Problemdickichten: Schuldgefühle wegen Verletzung gesellschaftlicher Regularitäten, Ängste vor Identitätsverlust, Anstrengungen des Selbstbetrugs. Signifikant gehäuft wird Liebe mit dem Tode bestraft. Das ist extrem formuliert, aber nichtsdestoweniger sehe ich diese Struktur so im Stück angelegt. Nirgendwo gibt es eine »Liebesszene«. Der Dialog zwischen Hollrieder und Beatrice im ersten Akt voll ruppiger Kurzangebundenheit, das letzte Gespräch die volle Verweigerung von Kommunikation (bös genau beobachtet). Wenn am Schluß des 3. Aktes die beiden tatsächlich aufeinander zugehen, sinds nach allen Umständen Schritte über einen dünn überfrorenen Bodensee. Hollrieders »Berg des Lebens« bringt das Thema »Liebe«, wie es in der »Sonnenfinsternis« angefaßt ist, bildnerisch auf eine deutliche Formel: Oben thront der Tod. In der »Sonnenfinsternis« hat Arno Holz nicht zuletzt ein Problemfeld erkundet, auf dem wir heute nicht weniger am Stock gehen als die damals: Liebesbeziehungen.
Gegen meinen anfänglichen Vorsatz spekuliere ich, daß Hollrieders Entwicklung als Künstler derjenigen von Holz selbst parallel gesetzt ist: die frühen Statuetten: das »Buch der Zeit«, die zusammen mit Musmann oder allein geschaffenen naturalistischen Bilder: die Compagnie-Arbeiten mit Johannes Schlaf und die eigenen Arbeiten bis zu den »Socialaristokraten« (1896), der im Bild »Sonnenfinsternis« angesetzte Neue Realismus: sein Phantasus der ausgehenden 90er Jahre, der »Berg des Lebens« entspricht den Steigerungen, die vom Drama »Sonnenfinsternis« an im Holzschen Werk sich durchsetzen.
Hermann Schreiber hätte hier ein schneidend exakt präpariertes Material für seine demgegenüber eher verwaschene »Spiegel«-Serie über die midlife crisis gehabt. Exakt präpariert ist die Sekunde, in der ein Kreativitätspotential vom Leitsystem der abfragbar und einklagbar ausgepegelten Gesellschaft abreißt.
Ich möcht dereinst mal ausführlicher darstellen, wie bei Arno Holz die Entwicklung der Texterarbeitung stufenweise verlief. Am Anfang, bis zum »Buch der Zeit« von 1885 produzierte Arno Holz die Merkmale der sozusagen öffentlich ausgeschriebenen Position »junger Poet«: Er gab Proben seines Talents. Mit der »Sonnenfinsternis« erreichte er schließlich das kompromißlose »Leckt mich doch alle!«*). Endlich temperierte er seine Selbstdarstellungs- und Kommunikationsbedürfnisse nicht mehr nach den ausgehandelten »Maß-und-Wert«-Standards. Woanders hab ich gezeigt (die horen 116/1979), wie bei Arno Holz die Prinzipien der Texterzeugung radikal umschlugen: Suchte er noch in den Phantasus-Gedichten von 1898/99 den Set der jeweils angesprochenen Bilder mit einem Minimum an Wörtern einzukreisen, ist von der »Sonnenfinsternis« an die dicht vernetzte Freisetzung von Wortschwärmen sinnfälligstes Ziel der Texterzeugung; die freigesetzten Wörter führen zu immer neuen Bildern. Ich spreche dabei von den großen Dramen »Sonnenfinsternis« und »Ignorabimus« so gut wie vom großen Phantasus (zuerst 1916).
In bezüglichen Stellungnahmen in literarischer Kritik und Literaturwissenschaft kehren bis heute konstant die Verdammungsurteile »formlos«, »maßlos«, »sinnlos« wieder, wenn von der Phantasus-Sprache die Rede ist. Offen geschiehts vielfach, aber auch (und da kann man nur grinsen) wertfrei verklausuliert. Diese Verdammungen sind mir nie begreiflich geworden. Die vieldimensionale Strukturierung des wirklich sehr breiten Angebots an Items in den Holzschen Texten kann doch nicht ganz unvertraut sein. Ähnlich Geartetes gibts schon genug: Béjart-Ballette, Grand Magic Circus, King Crimson, Migofs, Rauschenberg. Und das Palais Idéal vom Facteur Cheval! Es sieht so aus, als gäbs vielfach und verbreitet eine Sperre, sensuelle Erfahrungen über die klassischen Fünf hinaus zuzulassen.Vielleicht ist da aber auch ein Knoten im System der Literaturvermittlung, so daß Arno-Holz-Texte nicht zu allen ihren rechtlichen Adressaten durchdringen.
In aller Abkürzung angetickt die statuspsychologischen Implikationen der midlife crisis (bei Hermann Schreiber mehr verschummert). Nach den Phasen von Statuserwerb, Statusverteidigung und -konsolidierung folgt die tendenzielle Statusgewißheit, wo dialektisch auch Statusverlust einzusetzen droht und einsetzen kann. Die Freistellungen und Entlastungen dieser Spätphase können ebensogut ein Fading bis zu organisierter Seniorenintemierung auf Mallorca einleiten wie den Ausbruch einer hartgeglühten Kreativität in dann immer rätselhaften Alterswerken an Goethe wär zu denken, nu, wie an Wehner, Grandma Moses und Arno Schmidt. Und an Arno Holz. Wahrscheinlich gehts in dieser leidigen midlife crisis um die Probe, ob die bis dato gebrachte Anpassung ihre Zerstörung der Person vollendet hat oder ob ihr noch Substanz entgangen ist. Was dann wirklich geblieben ist, braucht keine Absicherung in allgemeinen Konsensen. Ein allgemeines Schütteln des Kopfes bei den »Andern« ist noch eine harmlose Resonanz darauf, oft gibts auch Stunk. So viel, um mein Verständnis des Holzschen Spätwerks anzudeuten.
Beim Phantasus-Sprechakt, wie Hollrieder ihn vollzieht, sind mehr als die landläufigen Sprechwerkzeuge beteiligt: Das Zwerchfell zum Lachen oder Schluchzen kommt hinzu wie die gefletschten Reißzähne. Quasi Sprechwerkzeug wird der ganze Körper mit seiner Position, Haltung und Bewegung im Raum. Ebenso sind die Intentionen erweitert: Ausbruch aus den Zwangshaltungen nach den verbindlichen Backformen. Das Sprechen soll aus sich gültig sein. Die konventionalisierten Vorverständnisse lassen sich aber nur mit Kraft durchbrechen. Wer das versucht, setzt sich immer auch dem kalten Wind von Unverständnis bis krasser Verdammung aus. Einige Dramenfiguren bei Arno Holz sind ganz deutlich die Phantasus-Sprecher: Hollrieder in der »Sonnenfinsternis«, Georg Dorninger und Onkel Ludwig im »Ignorabimus«. Hollrieder will das gültige Bildwerk, Dorninger den gültigen wissenschaftlichen Befund. Den Onkel Ludwig bringe ich nicht rasch so glatt auf eine Formel. Doch er ist ja der Sucher nach spirituellen Über-Wahrheiten, in seinen Visionen wie von Morphinisten gehn die vertrauten Erfahrungsfenster in Scherben.
Das Vorgehen bei der Arbeit am Phantasus schildert Robert Reß. Sein Augenzeugenbericht ist mir aus verschiedenen Gründen wichtig. Da ist zuerst die Buntscheckigkeit biographischer Details. Sie dürfen nicht als bloß anekdotisch mißverstanden werden, da sie doch das technikorientierte Funktionieren des Werkstattbetriebs anschaulich machen. Ferner gibt der Text wichtige Hinweise zur Mache: Zur Gewinnung des Sprachmaterials zog Arno Holz systematisch Nachschlagewerke u. a. m. heran. Er sicherte sich damit Objektivierung im Sinne seiner absoluten Ansprüche an den poetischen Sprechakt. Ganz deutlich ist ihm drum zu tun, nicht in den Grenzen einer abgeschotteten Innenwelt zu bleiben. Die Montagetechnik konterkariert die Vorstellung vom dichterischen Sprechakt als eines geheimnisverschleierten Sakraments. Der Dichter nicht als Medium, sondern als Sprachmonteur oder -ingenieur. Das gilt auch fürs Folgende. Die »Zahlenarchitektonik« garantierte ihm inhaltsgerechte Rhythmisierung und Proportionierung der Texte. Der Aufwand des »Durchrechnens« war Absicherung im Sinne der Ansprüche an technoide Regulierung. Stets fortschrittlichere Vernetzung des Sprachmaterials als Ziel. Wie Arno Holz all dies »mit Kraft« ins Werk setzte und durchhielt, siehts für mich so aus wie eine Art Beschwörungsritual: Das »Ingenieurwesen« wird zitiert; es haust ja sonst in einer gründlich andren Welt.
Bereits der oberflächliche Vergleich zwischen Erstfassung der »Sonnenfinsternis« und späterer Bearbeitung muß darauf führen, daß die Sprache in vielen Passagen der späteren Fassung mit der Sprache des großen Phantasus von 1916 identisch ist und zwar da, wo die »Wucherung« einsetzte, wie Alfred Döblin das mit dem Begriff aus der Pathologie genannt hat. Ich könnt hier leicht ein Beispiel aus dem Phantasus hersetzen, tus aber nicht, weil ich das technische Getütel mit den teils 170 und mehr Anschlägen pro Zeile nicht nochmal anfangen will. Also: Es ist dasselbe wie im »Berg des Lebens«. Angesetzt in der Erstfassung der »Sonnenfinsternis«, erbrachte diese Technik der Texterzeugung im »Ignorabimus« (erschienen 1913) und im großen Phantasus (erstmals 1916) stets weiter gesteigerte Ergebnisse. Nachdem Arno Holz bei der Arbeit am großen Phantasus die geeignete handwerkliche Organisationsform gefunden hatte (s. den Augenzeugenbericht von Robert Reß), wandte er die nun mehr hochgradig differenzierte Technik auf die »Sonnenfinsternis« an, von der sie mal ihren Ausgang genommen hatte. Der »Berg des Lebens« in der erweiterten Version, wie sie im Druck von 1919 gegeben ist, entstand als Mittelachsgedicht unter Scherengeklapper und Pelikanolverbrauch, wie sich mit guter Plausibilität behaupten läßt. Für das Druckmanuskript wurde er dann fortlaufend niedergeschrieben (Blätter 155 bis 159 in der Satzvorlage für die Ausgabe von 1919). Zur Dimensionierung: In der Buchhandelsausgabe von 1908 umfaßte der Sprechtext »Berg des Lebens« 168 Wörter. Gut über 200 Prozent erweitert, erscheint der Text in der hier interessanten erweiterten Auflage von 1919: 523 Wörter. Die Ausgabe letzter Hand in der Werkausgabe von 1924/25 ist demgegenüber wieder um rd. 11 Prozent gekürzt: 462 Wörter. An einer Reihe weiterer Stellen im Stück ist »Phantasus-Technik« zu bemerken. Sie ist dort aber nicht entfernt so raumgreifend angewandt wie im »Berg des Lebens«.
Hollrieder ist der Phantasus-Sprecher, d. h. er spricht Lyrik, wie sie auch im Phantasus-Zyklus ihren Platz hätte finden können. Sehr genaue Regievorstellungen hatte Arno Holz dafür. Aus dem »Sonnenfinstemis«-Druck von 1919 (S. 217) läßt sich zwischen die Zeilen 99 und 100 des hier vorgelegten Abdrucks folgende Regieanweisung für Hollrieder projizieren (ich bitte die Bedeutsamkeit des RAUMS für die Choreographie zu beachten): (sich von Url abdrehend nach vom; beide Hände über die wie hämmernden Kopfhälften; die Augen großauf vor sich hin; wie vor etwas langsam zurückweichend; bei dem Wort »Leben« stehngeblieben, die Arme nach unten wie von sich schleudernd und zuletzt sie wieder ganz nach oben hebend; letztes, zusammenfassendes Endurteil) Der Vergleich mit Regieanweisungen von Otto Brahm (Begründer des Vereins »Freie Bühne«), Hermann Bahr und Max Reinhardt (beide aus der Brahm-Schule) macht eine starke Verwandtschaft deutlich. Nicht überraschend bei Holzens vielfältigen Kontakten zur Freien Bühne und später zum Deutschen Theater. Als Lyrik für die Bühne hatte Arno Holz schließlich auch seinen Phantasus konzipiert, wie sich nach der 1922 veröffentlichten Einführung zum Phantasus ergibt. Dort skizziert er das Regiekonzept für die Bühnenpräsentation des ganzen großen Zyklus.
Als Hauptwerk von Arno Holz betrachte ich mal den großen Phantasus (NICHT das ganz andersartige, wenn auch gleich betitelte Werklein von 1898/99). Fast könnte ich »Die Blechschmiede« daneben setzen, wenn ich Umfang und aufgewandte Arbeitszeit ansehe. Ich sollte es! Zum Phantasus-Sprechakt fand Arno Holz über die beiden Dramen »Sonnenfinsternis« und »Ignorabimus«. Phantasus-Texte sind also nicht von ungefähr für eine Bühne konzipiert. Das bedeutet auch, diese Texte sind mit stiller Lektüre nicht adäquat reinzukriegen. Als Bühnentexte sind sie wesentlich auf die visuelle und auditive Übermittlung angewiesen. Als solche sind sie auch auf viel handfestere Weise verschieden interpretierbar als Texte ohne diese deutliche Bühnenorientierung. Ich meine damit: Interpretation kann hier nicht anhand des Drucktextes zu wie auch immer verschiedenen Statements kommen, sondern hätte tatsächlich an Inszenierungen anzusetzen, die dann je nach Regisseur grundverschieden ausfallen könnten. In einer Hinsicht ist diese Bemerkung natürlich reichlich vergeblich: Inszenierungen des Phantasus gibts nicht, wenn man absieht von der Tonband-Edition »Der längste Satz der Weltliteratur« mit Klaus M. Rarisch als registersicherem Sprecher (S Press-Tonband Nr. 11 der Edition S Press, Rochusstraße 56, D-4000 Düsseldorf). In andrer Hinsicht schnappt die Bemerkung zu: Inszenierung geschieht überwiegend nur in den Köpfen der Leser. Vielfach hab ich mithin bei abwertenden Äußerungen zum großen Phantasus das Empfinden, sie lasten dem Autor der Spielvorlage an, was als Regiefehler im Leserhirn unterlaufen ist. Meist scheint das im Text angelegte Konzept der mehrdimensionalen und mehrsträngigen Bewußtseinsverläufe nicht angenähert gepackt zu sein.
»Kein Applaus meine Sachen sind gut!!« zitier ich hier von Danny Gürtler, dem »König der Bohème«. Das soll jetzt keine Gleichsetzung im Arno-Holz-Bezug sein, sondern mal einen Extremfall von »poetischem Sprechakt« markieren: Wie dort die Elemente der Kommunikationssituation »Gedichtvortrag vor Publikum« sich vervielfältigen und in die Tiefe gestaffelt sich flirrend überlagern. Das beginnt bei den relativ simplen, nämlich tendenziell am ehesten umschreibbaren Elementen wie Sprecherperson und Ort des Sprechens: Der Sprecher wird durch die Multifunktionalität kompliziert, in die er mit der Rolle Rezitator und mit den Merkmalen der dargestellten Person gerät. Am Ort des Sprechers interferiert unser anfangs- und endloser Realitätsprozeß mit willkürlich begonnener und beendbarer Spielrealität. Noch komplizierter wird die Auffächerung für den Vorgang der Texterzeugung, der sich mit seinem Realitätsraum in die genannten anderen Räume hineinfaltet. Ich möcht nicht ausklamüsern müssen, wie es sich im besprochenen Fall mit weiteren Situationselementen verhält: Wie der Sprecher den Hörer antizipiert, welche Sprecher-Hörer-Beziehungen von der Äußerung aufgebaut, verändert oder bestätigt werden, wie die beiderseitigen Vorverständnisse beschaffen sind usw. (weiter bei Wunderlich). Die deutlichen Verdrehungen in der Äußerung Danny Gürtlers: Vorfestlegung der Hörer auf Zustimmung, Voreinschätzung der Äußerungen als unbedingt und ohne Erprobung situationsgerecht; und letztlich wird die Intention versprachlicht, Respons zu verbieten und damit die ohnehin eingeschränkte Kommunikationssituation vollends zu halbieren. Ich seh jetzt den Bühnensaal an, in dem die Phantasus-Inszenierung nach dem Konzept läuft, wie Arno Holz es in seiner Phantasus-Einführung von 1922 skizziert hat. Den Zuhörern solls beim Vortrag des Gedichts »Macht-Mythus« so gehen, daß Ihr erst wieder zu Euch selbst kommt, wenn der Vorhang [ ] sich schon längst wieder geschlossen hat Applaus ist hier unwichtig geworden. Die Äußerungen des Kommunikationspartners Publikum bestehen im massenhaften Erscheinen (»immer wieder und wieder Tausende«) und in grenzenloser Aufmerksamkeit und Aufnahmebereitschaft (»die ganz und gar nur zu Augen und Ohren gewordenen«). Passend dazu, wie für Url während Hollrieders »Berg des Lebens« vorgeschrieben ist: der in treuster Spiegelung, wie gebannt auf seinem Platz, das ganze, kommende Zukunftswerk Hollrieders schon jetzt in sich erlebt hat Hollrieder spricht dort ebenso sehr nur für sich allein wie nur für den Zuhörer Url: Für sich allein bringt er Vorstellungsbilder und voraufgegangene Erfahrung zugleich »zur Sprache«; für den Zuhörer allein gewährt er Einblick in sein Bewußtsein, sichtbar im Muster der Einfälle und Assoziationen. Die stumm widerspiegelnde Aufmerksamkeit des Zuhörers trägt den Phantasus-Sprecher weiter. Was er anstrebt und anbietet, ist eine Art Unio mystica von Zuhörer- und Sprecherbewußtsein. So tut er alles, seine UND des Zuhörers »Außengrenzen« in Information aufzulösen. Hoheluft-Ost, den 21. Dezember 1979 *) So übersetze ich mal, was er mehrfach und prononciert als Leitlinie seines Handelns benannt hat: »Lex mihi ars«.
Arno Holz: Berg des Lebens Umschlag & Graphik von Frank Böhm Robert Wohlleben Verlag, Hamburg 1980 (Meiendorfer Druck 5) J. Dr. über BERG DES LEBENS Klaus M. Rarisch merkt an: »Unser bestes Sehnen schreit nach Gerechtigkeit!« So beginnt der Monolog aus der Tragödie »Ignorabimus«, den Arno Holz in sein lyrisches Hauptwerk, »Phantasus«, wörtlich einfügen konnte, wie er selbst berichtete, um die wiedererrungene formale Einheit von Lyrik und Drama zu zeigen, die ihm bereits zuvor bei der »Sonnenfinsternis«, dem Mittelstück seiner Dramentrilogie, aufgegangen war. Wie dieser Erkenntnisprozeß im einzelnen verlief, analysiert Robert Wohlleben im Nachwort des Bandes, in dem er eine bisher unbekannte Variante des visionären Todesmonologs aus dem Schlußakt der »Sonnenfinsternis« in Phantasus-Mittelachsenversform vorlegt. Überzeugend weist Wohlleben nach, daß mit der Arbeit an der 1913 uraufgeführten »Sonnenfinsternis« die psychisch-künstlerische Wende zum Spätwerk von Holz einsetzt, das es wiederzuentdecken gilt. Ein Augenzeugenbericht über die Holzsche Dichtungstechnik aus dem Nachlaß seines Intimus Robert Ress rundet die bibliophile Edition ab, die für das Verständnis der Avantgarde unseres Jahrhunderts und deren künftige Historiographie neue Maßstäbe setzt. Lektüre/Bücherkommentare Nr. 12, 1981
In »Die Revolution der Lyrik« [1] zitiert Arno Holz sein früheres Diktum »Die Kunst hat die Tendenz wieder die Natur zu sein; sie wird sie nach Maßgabe ihrer Mittel und deren Handhabung«, wonach ihm zufolge die Kunst kein Absolutum, sondern ein Relativum sei, sein Diktum folglich gesperrt gedruckt ein »Entwicklungssatz«. Ihre »Mittel sind aber nicht in ihrer Anzahl begrenzt, noch sind sie ewig. Ihre Wirkungen erschöpfen sich und neue Mittel, oder neue Verbindungen von alten, treten an ihre Stelle.« Beginn der im nächsten Absatz gelieferten Erläuterung: »Einen meiner Meinung nach interessanten Beleg erlebten wir alle erst kürzlich.« Holz resümiert knapp die Entwicklung des Tanzes bis hin zum Ballett als letzter Stufe, »durch die stereotype Wiederkehr seiner ewigen Konventionalismen so leer geworden, daß wir auf einen Inhalt in ihm gar nicht mehr achten. Was auf uns wirkt, sind eigentlich nur noch die Beine. Dann kam Loie Fuller und erfand den Serpentintanz. Die Freude, die Trauer, den Traum, die Nacht, die Sehnsucht, den Himmel, das Meer, die Flammen, die Sterne sie tanzt Alles! Und die seelische Wirkung, durch eine suggestive Musik noch gesteigert, ist eine elementare.« Drei Sätze weiter noch: »Erst jetzt, seit Loie Fuller, ist das Licht Hauptmittel.« Holzens Beschreibung von Loïe Fullers Serpentintanz ist ausgesprochen überschwenglich ausgefallen, offensichtlich hat er »wie wir alle« einen Auftritt selbst miterlebt. 1892 war Fuller (18621928) nach Europa gegangen und zuerst in Hamburg sowie im Berliner Wintergarten aufgetreten, bevor sie im Dezember des Jahres ein Engagement in den Pariser Folies Bergère antrat, bei denen sie bis 1899 blieb. Wenn in Holzens 1899 erschienener Schrift von »erst kürzlich« die Rede ist, bezieht er sich wohl kaum auf Loïe Fullers erstes Auftreten 1892 in Berlin. Womöglich also sehr vorsichtig vermutet auf ein späteres Gastspiel. Einigen Indizien nach war Arno Holz von Loïe Fuller derartig nachhaltig beeindruckt, daß er La bella Cenci, die weibliche Hauptfigur der »Sonnenfinsternis«, nach ihr modellierte. [2] Bald nach Anfang des ersten Akts ist zu erfahren: Der gefeierte Star La bella Cenci von »unverschämten« Photographen verfolgt und angereist mit einer französischen Zofe namens Margot (im Stück nur einmal als Stimme »aus dem Nebenraum« präsent: »Madame désire?«) war »noch den Abend vorher [ ] in den Folies Bergère aufgetreten« und ist nun »zum ersten Mal« in Berlin. Zur Gestaltung ihres bevorstehenden Bühnenauftritts im Wintergarten bemerkt sie: »Aus Licht und Leinwand läßt sich heute alles machen«. Und unmittelbar zu Anfang der »Sonnenfinsternis«, »schon bevor der Vorhang hochgeht«, ist »suggestive« Musik zu zu hören: Schuberts »Der Tod und das Mädchen«, von La bella Cenci »in Tracht und Frisur der heiligen Cäcilie auf dem van Eyckschen Altarflügel« auf einem »schön geschnitzten altgotischen Regal« gespielt. Laut dem folgenden Gespräch für ein Bühnenprogramm vorgesehen. oooOooo Holzens Musikwahl für den Anfang der »Sonnenfinsternis« entspricht ganz dem, was sein Freund Georg Stolzenberg, Komponist, in »Arno Holz und ich«, [3] seinen Erinnerungen an Holz, über dessen Verhältnis zur Musik schreibt: Arno Holz gestand lächelnd: »Ich liebe die Musik, aber die Musik liebt mich nicht wieder.« Dennoch hämmerte häufiges Wiederholen Schlichtfaßliches ihm ins Gedächtnis, Wohlgefallen. So: »La Paloma«, »Ich bete an die Macht der Liebe«, »Integer vitae«, so Schuberts Vierbogenweise »Der Tod und das Mädchen«, Schumanns »Es war, als hätt' der Himmel« und so: mein »Über die Welt hin«. In einem zuerst in die Phantasus-Ausgabe von 1916 aufgenommenen Gedicht, [4] in der Nachlaßfassung (1961/62) mit der Überschrift »Neunzehnhunderteins in meiner Hinterhauskamurke« versehen, spricht Holz von solch einem Ergriffensein, der »seelischen Wirkung« also. Beginn des Gedichts: Zu meinem fünfundzwanzigjährigen Jubiläum als deutscher Dichter Am Schluß wird Stolzenbergs Vertonung des Holzschen Gedichts »Über die Welt hin ziehen die Wolken« geboten: |
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1] Arno Holz: Die Revolution der Lyrik. Berlin: Johann Sassenbach 1899, Zitate aus S. 107 f. im Juli 2020 oooOooo Was Hollrieder als Skulptur darzustellen vorhat, ist für ihn |
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Etwas sehr Ähnliches hat sich in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts Katharina Vemen im Feld der Literatur nicht nur vorgenommen, sondern zu 200 und 2 höchst expliziten Sonetten geformt, 1928 mit dem Titel »Die fremden Zungen« als Privatdruck erschienen, 2020 Neudruck beim konkursbuch Verlag Claudia Gehrke. im August 2021
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