Arno-Holz-Parodie in der "Jugend" auf Paul Ernst gezielt?

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Siebengestirn moderner Lyriker
Jugend, 4. Jg., Nr. 7, 11. 2. 1899

Material des Parodisten

In der vom 11. 2. 1899 datierenden Nr. 7 der »Jugend« im Rahmen eines »Siebengestirns moderner Lyriker« diese auf die Phantasus-Gedichte von Arno Holz zielende Parodie:

Interieur

Ich
liege auf dem Bauche und kaue Tabak.
Ein Brimmer! ...
Scheusslich.
Hin und wieder
spitz ich die Lippen
und
pfeife auf das ganze Familienleben.

Arno Holz

Im verantwortlich zeichnenden »Otto Erich« läßt sich der »Halkyonier« Otto Erich Hartleben (1864-1905) vermuten, mit dem Eintrag »Hartleben, O., Schriftst., NW Karlstr. 32H. III.« im Berliner Adreßbuch von 1899 verzeichnet. Arno Holz hatte kollegialen Umgang mit ihm. Drei Briefe von Holz an Hartleben sind in der Briefausgabe enthalten: vom August 1885 (»Lieber Herr Hartleben!«), vom 9. Februar 1887 (»Lieber Erich Hartleben!«), vom 11. Juli 1895 (»Lieber Otto Erich!«). [1]

Die Parodie nutzt drei Motive: Tabakgenuß, eine Fliege größerer Art, Familienleben. Der Tabak – ohne die Varianten Kau- und Schnupftabak – kommt zweimal im ersten Phantasusheft [2] zur Sprache (S. 24, S. 28):

Im Thiergarten, auf einer Bank, sitz ich und rauche

–––oooOooo–––

Ich liege und rauche aus meiner Wasserpfeife

Die zweite Stelle – letzte Zeile einer knappen Wiedergabe eines wie euphorisch trancehaften Erlebens – könnte sich durchaus dem Parodisten zu Verzerrungen angeboten haben: der Liegende auf den Bauch gedreht, die exotische Wasserpfeife zum Priem vulgarisiert. Dann hörts aber schon (fast) auf.

Insekten kommen im ersten Heft viermal vor: Schmetterlinge (S. 20, S. 39), Bienen (S. 38), Maikäfer (S. 43). Eine Fliege aber erst im zweiten Heft (S. 70) und damit dem Parodisten höchstwahrscheinlich noch nicht bekannt:

Die Lampe brennt.

Von allen Wänden
schweigen um mich die dunklen Bücher.

Eine kleine Fliege, die noch munter ist,
verirrt sich in den gelben Lichtkreis.

Sie stutzt, duckt sich und tupft mit dem Rüssel auf das Wort

Inferno.

So klein, wie sie war, hörte man sie bestimmt nicht brummen. Oder – laut des Deutschen Wörterbuchs der Brüder Grimm – mittelhochdeutsch »brimmen«, was sich – ich kenne mich da nicht aus – vielleicht in Dialekten gehalten hat ...?

Ebensowenig dürften die Tabakwaren im zweiten Heft (S. 74, S. 81, S. 88, S. 104, S. 105) ins parodistische Spiel gekommen sein, weil zu spät für die Parodie erschienen:

Ich öffne ein Päckchen »Blaubienenkorb«
und stopfe die lange Pfeife

–––oooOooo–––

Rote, gewellte Madonnenscheitel,
eine lichtblaue Blouse aus Merveilleux
und im flohfarbenen Gürtel ein Veilchensträuschen,
das nach amerikanischen Cigaretten duftet

–––oooOooo–––
 

Hinter den Bahndamm, zwischen die dunklen Kuscheln,
verschwindet
eine brennende Cigarre, ein Pfingstkleid

–––oooOooo–––

Um unser rotes, irisches Oefchen, auf Feldstühlchen,
sitzen wir dann,
horchen, wie ab und zu, unsichtbar, durch die Stille auf den Rost der Coaks nachrutscht
und freuen uns, wie durchs Dunkel unsre Cigarren glühn!

–––oooOooo–––

Dann nehme ich ein Prieschen,
rücke die schwarze Hornbrille und stelle die Lampe zurecht.

Drei Gedichte des ersten Hefts bieten Bilder aus dem Holzschen Familienleben (S. 43-45), in jedem spielen die zu der Zeit zwei kleinen Söhne der Holzens eine Rolle. Das dritte:

Ein mal noch,
bevor wir schlafen gehn,
zu unsern Jungens!

In beide Bettchen scheint der Mond.

Der Biela noch im Arm das Püppchen,
sein Bruder um den Hals die Perlenkette ...

Leise,
auf Spitzzehen,
tasten wir in unser Zimmer.

Sollte »Otto Erich« tatsächlich dies fraglos Idyllische zum Zwecke der Parodie ins Gegenteil verkehrt haben?

Bei müßigem Herumblättern im fast gleichzeitig mit Holzens erstem Phantasusheft erschienenen Gedichtband »Polymeter« von Paul Ernst [3] will mir scheinen, daß der Parodist besser ihn als angeblichen Urheber genannt hätte. Anlaß für meine »müßige« Annahme: Zuallererst der Brummer, der bei Ernst im zweiten Gedicht des Zyklus »Motive aus einer kleinen Stadt« herumschwirrt (S. 54):

    Es ist ganz still im Zimmer.

    Ich liege auf dem Sofa,
    Und weiss, dass sie am Fenster sitzt.

    Ein Brummer,
    Summt,
    Auf,
    Und ab,
    Klappt gegen die Scheiben.

    Ich sehe an die weissgetünchte Decke,
    Und spüre den leisen Duft vom Rosmarin, das in der Sonne steht.

Steinbömer & Lubinus
Steinbömer & Lubinus

Geraucht wird auch bei Ernst (S. 10, S. 16, S. 89, S. 90, S. 96):

    Wer sieht das nicht ein?
    Eine lange Pfeife und selbst gepfropfte Rosen,
    Das ist das Vernünftigste

–––oooOooo–––

    Ja, wir spielen Kegel mit dem Mond,
    Und an den Sternen stecken wir uns nur so unsere Cigarette an

–––oooOooo–––
 

Du bist mein kleiner Irrwisch Husselwussel,
Und wunderst dich über den Wilden auf den Tabakspacketen von Steinbömer & Lubinus.

Er hat bloss einen Blätterschurz und grosse Ohrringe,
Und raucht ganz mörderlich
 

–––oooOooo–––

    Dem guten, alten Riesen Mengelmus
    Muss sie jeden Abend ein süsses Küsschen geben,
    Aber das thut sie auch nicht gern,
    Denn er riecht so nach Tabak,
    Steinbömer & Lubinus No. 4

–––oooOooo–––

    Nun sitz ich am Fenster,
    Cigarrettengeschmack, kalter Kaffee,
    Und draussen regents

Ablehnung der Ehe – und damit ja auch des etwa sich ergebenden Familienlebens – ist bei Ernst Sache des kleinen Irrwischs Husselwussel (S. 85):

    Wer kommt hinter mir?
    Naht sich nicht eine Hand meinem Nacken?

    Der schnurgerade Weg geht durch den Wald.

    Nein, heirathen will sie nicht.
    Sie wird sich doch nicht mit einem Mann rum ärgern!
    Und dann, was fehlt ihr denn jetzt?
    Sie ist Repräsentantin beim Riesen Mengelmus.
    So ein Riese kann ganz nett sein.
    Natürlich kommts ja auch darauf an, wer man ist.

Ehelosigkeit läßt sich ahnen, wenn ein dem Anschein nach Unverheirateter einer verlorenen Liebe nachtrauert, als gäbs keine neue mehr (S. 33):
 

Ja, wo magst du jetzt sein, kleines Mädchen!
Wahrscheinlich bist du jetzt eine dicke, kleine, flinke Ehefrau,
Pastorenfrau, Doktorenfrau, Professorenfrau.
Und du hattest doch so ein nachdenkliches Kindergesichtchen!
Du standst, die Hände in den Muff gesteckt,
Und sahst uns Jungens zu, wie wir uns schneeballten.

So lieg ich nun auf dem Sofa, und der Rauch ringelt,
Und ich lüge mir allerhand Dinge vor,
Und auf dem Tisch steht eine Narcisse
In einem langen Glase.

Aber wir brauchen Lügen, wenn wir so die Zeit totschlagen,
Und auf dem Sofa Cigarretten rauchen,
Und fühlen, wie das Unglück langsam aus dem Herzen aufsteigt,
Und ein buntes chinesisches Ungeheuer vom Schrank
Vergnügt – scheusslich uns angrinst,
Wie das Steingut gewordene Schicksal.
 

Deutlicher noch die Schlußpassage einer früheren, ausführlicheren Version des Gedichts in Pauls Ernsts nachgelassenen Manuskript »Mein Verhältnis zu Arno Holz«, von Inge Zöllner mitgeteilt:
 

Das sind nun schon so sechzehn, siebzehn Jahre her
Und ich denke noch immer an den Prinzessinnenblick
Das Näschenrümpfen und das stolze Abwenden
Als dich mein Schneeball mitten auf die Brust traf.
Heute würde ich mich noch eleganter erklären
aber heute liege ich auf dem Sofa und rauche.
Ja, und denke über die Liebe nach.
Und ich bin überzeugt, daß sie eine Männerlüge ist,
Die sich an eine Weiberschürze hängt.
Noch andere Sachen denkt man, wenn man sich langweilt
Und das Leben einen angähnt
Aber man könnte doch auch sich abbürsten, Handschuhe anziehen

[ und den Hut aufsetzen

Und auf der Leipziger Straße sich ein hübsches Mädchen suchen
Sie braucht ja nicht gerade Verkäuferin zu sein bei Wertheim
Und in die »Rheinkrone« mit ihr gehen oder sonst wohin. [4]
 

Der Alleingebliebene oder -gelassene traut seinen »Herzensregungen« nicht, gewährt sich Linderung des Alleinseins mit etwas, was aussieht wie leichthinnig flüchtige Begegnung.

Erster Satz in Paul Ernst erklärendem Manuskript:

    Für die Kritik lege ich meinem Band »Polymeter« nachfolgende Auseinandersetzung bei.

Vervielfältigung und Versand scheinen unterblieben zu sein. Ob Otto Erich Hartleben – jetzt mal sicher als Parodist angenommen – Ernsts »Auseinandersetzung« dennoch gekannt hat …? Wie Holz war auch Ernst mit Hartleben in Kontakt, der von der Zusammenarbeit der beiden und damit sicher auch von der heftigen Auseinandersetzung zwischen ihnen gewußt hat. In einem Gespräch über Arno Holz hatte Hartleben – lachend – zu Ernst gesagt: »Sie haben von ihm gelernt, daß das Dichten nicht so schwer ist, wie Sie gedacht haben.« [5] Nach dem Bruch mit Holz suchte Ernst Koalitionen. Nicht auszuschließen, daß Hartleben die Polymeter zugeschickt bekam. Wie die auf Mittelachse gesetzte Parodie erkennen läßt, bezog sich »Otto Erich« auf das erste Phantasusheft, die etwa parallel erschienenen, linksbündig gesetzten Gedichte des zeitweiligen Holz-Compagnons Paul Ernst waren da eigentlich auch von Interesse. Haben sich Leseeindrücke gemischt …? War Paul Ernst nicht prominent genug, um im »Siebengestirn moderner Lyriker« mitzuleuchten …?

Robert Wohlleben


1] Arno Holz: Briefe. Hg. v. Anita Holz u. Max Wagner. München: Piper 1948, S. 71 f., S. 77, S. 101 f.
2] Die beiden Phantasushefte zitiert nach Arno Holz: Phantasus. Verkleinerter Faksimiledruck der Erstfassung. Hg. v. Gerhard Schulz. Stuttgart: Reclam 1968 u. ö. (RUB Nr. 8549).
3] Paul Ernst: Polymeter. Berlin: Sassenbach 1898.
4] Inge Zöllner: Arno Holz und Paul Ernst. Der frühe »Phantasus« und die »Polymeter« – ein Beitrag zum Vergleich. Mainz: Magisterarbeit 1983 (masch.), Bl. 84.
5] Paul Ernst: Entwicklungen. Hg. v. Karl August Kutzbach. München: Claudius 1966, S. 306.