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Über die typographische Mittelachse
des »Phantasus« von Arno Holz

Von Klaus M. Rarisch


Die Mittelachsenform, die Arno Holz für sein Hauptwerk »Phantasus« gewählt hat, war häufig Gegenstand von Spekulationen und groben Mißverständnissen. So definiert z.B. Karl Geisendörfer, der über »Motive und Motivgeflecht im ›Phantasus‹ von Arno Holz« promovierte (phil. Diss. Würzburg 1962), die Form sinngemäß so, daß links und rechts von der gedachten Mittelachse jeweils die gleiche Anzahl von Silben (!) stehen müßte – falscher geht’s nimmer! Denn Holz zählt natürlich die Silben nicht, sondern ordnet die Zeilen jeweils im gleichen Abstand links und rechts von der Mittelachse an; es handelt sich also um ein rein typograhisches Ordnungsprinzip. Holz wollte sich dadurch zunächst nur optisch von der gängigen Lyrik in »freien Rhythmen« absetzen, weil er diesen Begriff ablehnte und den »freien« durch den notwendigen, von der darzustellenden Sache selbst bestimmten Rhythmus ersetzen wollte. Außerdem hat aber die Mittelachse noch eine andere Funktion, die Holz in einer kurzen, bisher meines Wissens übersehenen Bemerkung andeutete (Die neue Wortkunst. Eine Zusammenfassung ihrer ersten grundlegenden Dokumente, Das Werk von Arno Holz. 10. Band, Berlin 1925, S. 574):

    ... warum sollte das Auge am Drucksatz eines Gedichts nicht seine besondere Freude haben? Jedenfalls diese Frage einmal aufgeworfen, ziehe ich eine besondere Freude einem besonderen Mißfallen entschieden vor ... ein solches Mißfallen würde durch die alte Anfangsachse bei meinen »Kreiselgedichten« unbedingt erregt werden. Denn wenn vielleicht die eine Zeile nur eine Silbe enthält, enthält vielleicht bereits die nächste Zeile zwanzig Silben und mehr. Ließe ich daher die Achse, statt in die Mitte, an den Anfang legen, so würde dadurch das Auge gezwungen sein, immer einen genau doppelt so langen Weg zurückzulegen. Nach dem unbestreitbaren Prinzip des kleinsten Kraftmaßes aber et cetera!

Überprüfen wir diese Behauptung experimentell, anhand der beigefügten Zeichnung, in der dasselbe Gedicht in zwei Versionen schematisch dargestellt wird: A. in »freien Rhythmen«, B. in Mittelachsenform. Die in beiden Fassungen identischen Verszeilen sind durch Längenangaben, in mm gemessen, bezeichnet. Der erhebliche Unterschied ergibt sich nun durch die Pfeillinien, durch welche die Distanz vom Ende der einen zum Anfang der nächsten Zeile in mm angegeben wird. Schon bei dem kurzen, siebenzeiligen Gedicht unseres Schemas muß das Auge des Lesers in der freirhythmischen Version 18 mm mehr zurücklegen als in der Mittelachsenfassung. Noch gravierender ist aber der Unterschied zwischen den jeweils längsten Distanzen: in Version A = 101/81/71 mm, in Version B = 70/67/61 mm, also stets erheblich weniger als bei A. Damit ist die Holzsche Bemerkung bestätigt: Die Mittelachsenform liest sich leichter und bequemer als die herkömmliche, weil das Auge weniger große Sprünge machen muß. So einfach ist das! Wie das Ei des Kolumbus ... Was jedoch nicht heißen soll, daß die Mittelachse nicht noch weitere Funktionen aufnehmen könnte, daß sie nicht zum Instrument einer poetischen Polyphonie werden dürfte, wie es in der Einleitung zum »Ultimistischen Almanach« (Köln 1965, S. 14 ff.) theoretisch postuliert wurde. Hier sollte nur demonstriert werden, was die Form für Holz selbst bedeutete und welche glückliche Entdeckung ihm damit gelungen war.

 

Längenangaben in mm; Zeilenabstand = 10 mm
 

Gedicht linksbündig

A
linksbündige
Anordnung



 

B
Anordnung
auf
Mittelachse

Gedicht auf Mittelachse



Blicksprünge zum Beginn der nächsten Zeile:
max. A = 101, max. B = 70
Summe A = 378
Summe B = 360


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