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Ultimismus:

Ultimistischer Almanach, Umschlag

Vier + 4 = ?


Detlev E. Otto über den Ultimistischen Almanach:

«Natürlich», sagt der alte Literatur-Revolutionär Richard Huelsenbeck, «bin ich Ultimist, was kann man sonst in dieser Zeit sein? Ich denke in der Tat, daß der Ultimismus der natürliche Erbe Dadas ist.»

Der Mitbegründer des Dadaismus gilt als Kronzeuge eines Literaten-Zirkels, der sich vor zehn Jahren aus zwei Freundeskreisen zusammenschloß und fortan als «Gruppe der Vier + 4» figurierte. Klaus M. Rarisch und Dieter Volkmann, die Häupter der beiden Quartette, sind auch heute noch die Wortführer der Gruppe und Propheten des «Ultimismus». Was ist das?

Der Ultimismus versteht sich als Fortsetzung von Dada, jener von Hugo Ball, Tristan Tzara, Richard Huelsenbeck und Hans Arp 1916 in Zürich eröffneten Bewegung. Als Protest gegen die Zerstörungswelt des Krieges wollte sie die gesamte «bürgerliche» Kultur der Lächerlichkeit übergeben; die Mittel dazu kamen sowohl aus der bildenden Kunst – Collagen aus allerlei gefundenen Gegenständen – wie aus der Literatur: In «simultaner» Dichtung wurden Wortfetzen und sinnlose Laute deklamiert, künstliches, kunstreiches Gestammel.

«Der Unterschied zwischen Dadaisten und Ultimisten liegt zunächst darin», definiert Rarisch als Herausgeber eines «Ultimistischen Almanachs» *, «daß jene die bewußtesten Vertreter einer Nachkriegsgeneration waren, diese aber – gleich Georg Heym, Jacob van Hoddis und Alfred Lichtenstein – sich als Zwangsvisionäre einer unmittelbar bevorstehenden Katastrophe fühlen. Da der nächste Krieg aber der letzte wäre, muß jetzt jedenfalls von einer Ars ultima, einer – wie auch immer beschaffenen – letzten Kunst gesprochen werden.»

Ein solches Unternehmen bedürfe wohl keiner Rechtfertigung in einer Weit, meint Rarisch, die «sich die Richtlinien ihrer Ästhetik von den Verwertern und Glasperlenspielern vorschreiben läßt». Und so hieß es denn, in nunmehr schwarzem Bluff Dada nachfolgend, im «Ultimistischen Manifest»: «... Unsere freiheitliche demokratische Grundordnung sollte sich – schon aus luftschutztechnischen Erwägungen – in den Untergrund des Seienden zurückziehen, wo Es sich, vom eitlen So-Sein entblößt, als das reine Wesende offenbart. Die Gleichheit, wie sie das Gesetz uns befahl, kann sich rein nur im absoluten Welteninnenraum realisieren: im Massengrab ...»

Die Vier + 4 nahmen das Massengrab wörtlich und eröffneten es im Juli 1961 in der Charlottenburger Schillerstraße in einer selbst renovierten Kohlenhandlung als «Kulturkeller». Unter dem Motto «ich vegetiere nicht mit der Kultur – Ich zelebriere nur vom Kult das Ur» eines nie in Erscheinung tretenden Mentors Dr. R. Bleich wehten grabschwarze Vorhänge, blühten Gloxinien auf Gartentischen, heulte Dracula, saugten Vampire. Wütendes Engagement auch für Mittelmäßigkeiten mischte sich mit gelegentlicher Brillanz; Hauptbestandteil wurde jedoch ein außerordentlicher Entdeckerfleiß, mit dem vergessene Texte an das düstere Kellerlicht befördert wurden. In zweieinhalb Jahren wurden 133 Soireen abgehalten; über 1600 Mitglieder zählte der Klub, als mangels wirtschaftlicher Mittel das «Massengrab» am 31. Dezember 1963 zugeschaufelt wurde. In der Liste der vorgestellten Autoren steht Liliencron neben Lukian, Strobl neben Swedenborg, Panizza neben Platen.

Die Regsamkeit im Keller sicherte der Gruppe eine leise Resonanz, die vorher fast gänzlich ausgeblieben war. Aber im Gegensatz zu Dada wollte sich – abgebrühteres Zeitalter – über die Ultimisten niemand aufregen, keiner sich provozieren lassen. Eine Besonderheit der acht kam hinzu: Ihr absolutes Unvermögen, eigenes oder als befreundet empfundenes Schriftwerk gelassen und mit Abstand vorzutragen und zu diskutieren, wirkte bisweilen bizarr.

Dergleichen Schlacken sind mittlerweile von den Ultimisten gefallen, das zeigte nicht zuletzt der Abend, den die Gruppe der Vier + 4 in der Reihe der «Siegmunds Hofer Lesungen und Gespräche» in der Studentenstadt am Bahnhof Tiergarten bestritt. Fortgefallen sind auch die Schnörkel und divergierenden Kuriosa des Kulturkellers. Es geht um die Arbeiten selbst – ein schmales Œuvre kann besichtigt werden. Als herausragender Kopf erweist sich Klaus M. Rarisch – vom Diskussionsleiter Kurt Neuburger in Siegmunds Hof als «Meister der Provokation» avisiert.

Von ihm ist – außer dem «Ultimistischen Almanach» – auch ein Gedichtbändchen erschienen: «not zucht + ordnung» **. Die Arbeiten sind besser, als das Nachwort des Freundes Volkmann erwarten läßt: «Letztes – das allgemeingültige ungeheuerliche Hirnthema von der Notwendigkeit des Nichtigen ... Letztes ist Letztes, doch gottseidank nicht das Letzte.»

Gewiß nicht. Rarisch vermag die schäumenden Wortkaskaden, die sich bei den meisten Gruppenmitgliedern finden, wirklich zu bändigen, in Zucht zu nehmen. Er bevorzugt die strenge Form des Sonetts, nennt das Ganze «Romantische Verskonstruktionen» und ist im übrigen dem Expressionismus näher als Dada. Stabreime, Wortspiele und Wortklänge sind immer wieder verwendete Stilmittel. Aus einer Vielzahl von Assoziationen, zu entschlüsseln nur mit nahezu lexikalischem Wissen, entstehen überraschende Gags. Aber schockiert – um ein harmloses Beispiel auszuwählen – etwa dergleichen?

    Madonna macht den Rosenkranz mobil:
    Die Perlen Kerlen durch die Finger gleiten;
    Zur Kommunion die jungen Dinger schreiten;
    Fromm zwängt sich die Gemeinde ins Gestühl.

Rarisch schreibt ganz unmodern; von den Montagen und Objektbeschreibungen der «aktuellen Sachlichkeit» trennen ihn literarische Welten. Er ist am besten, wenn er satirisch ist; vielleicht zum eigenen Ärger führt die neue, in Siegmunds Hof vorgetragene Ballade vom «Denkmal des unbekannten Gammlers» direkt zum Kabarett. Auch die eigenen Texte im «Almanach» erweisen sich als die bemerkenswertesten Beiträge.

Der «Almanach» freilich erweist auch noch etwas anderes: Mit wenigen Ausnahmen – Arp, Mehring, Huelsenbeck – zählt das für ultimistisch, was aus Berlin, was aus der Gruppe kommt. Was kann man sonst in dieser Zeit sein – als Ultimist? Erzvater Huelsenbecks Einschätzung hat sich, so scheint es, noch nicht hinreichend herumgesprochen. Noch immer widmen die Ultimisten der Gruppe einander Schriftliches – und melancholisch klingt Dieter Volkmanns Ruf an den Freund im «Atridenlos»:

    Ach Klaus M. Rarisch, mein lieber Rarisch,
    sie sargen uns in Tannenschragen ein,
    hier stinkt man allein – doch literarisch!
    Wer uns gern riecht, mag Ultimist wohl sein.


*) «Ultimistischer Almanach». Herausgegeben von Klaus M. Rarisch, mit einem Originalholzschnitt von Hans Arp. 110 S., 1000 numerierte Exemplare, brosch. 25 DM. Wolfgang Hake Verlag, Köln.

**) Klaus M. Rarisch, «Not, Zucht und Ordnung». Ultimistische Gedichte mit einem Nachwort von D. Volkmann. 55 S., 1000 numerierte Exemplare, brosch. 5 DM. Wolfgang Hake Verlag, Köln.

Colloquium, Berliner Studentenzeitschrift, Nr. 2/3, 1967


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Dr. R. Bleich über den Ultimistischen Almanach

Als Brecht 1918 in meinem Augsburger Lazarett die groteske Rolle des Hilfssanitäters spielte, sagte er mir auf die Frage nach seinen literarischen Plänen: »Einmal den grossen Dada nach dem Verlust seines Monokels auf die Bühne stellen!« Das sollte ihm bald darauf mit dem »Baal« gelingen. Dieselbe Tendenz finde ich jetzt – fast 50 Jahre später! – bei den Ultimisten verschärft wieder: äussersten, auf die letzte (ultimistische) Spitze getriebenen Dégout, der uns mit der Wildeschen Verlegenheitsgebärde des Pseudodandys durch das gesprungene Einglas seiner solipsistischen Weltanschauung ironisch beglotzt. Nicht zufällig endet in dem kürzlich erschienenen ULTIMISTISCHEN ALMANACH Dieter Volkmanns Totengespräch für Lebendige (»Auf der Suche nach Medusa«) damit, dass Oscar Wilde mit ausgebreiteten Armen in die Schatten geht, wie sein Schüler im Geiste – ein Zeitgenosse von Guernica, Auschwitz und Hiroshima – schliesslich begreift.

Eine ganze Reihe weiterer Gestalten in dem Buche zeichnet sich durch die geradezu Martin Luthersche Unerschütterlichkeit aus, lieber alle erreichbaren Tintenfässer zu zertrümmern, als einmal zu begreifen. Da tritt uns in einem Kollektivzyklus der Ultimisten der deutschnationale Schulhausmeister Feuerhermel mit dem Willen zur Macht entgegen; Nietzsche lacht dazu Tränen aus den lyrischen Kulissen. Da springen in Manfred A. Knorrs dramatischem Capriccio »Metathese oder mort en apparence« die Fakultäten einer ehrwürdigen Alma mater, die progressive Paralyse im Kreuz, zu dumpfer Klaviermusik von Rachmaninoff gemeinsam aus dem Fenster. Da vollführt der von Gottvater betrogene Zimmermann Joseph in Klaus M. Rarischs Einaktern seine metaphysischen Schmerzenstänze, wogegen Dieter Volkmanns Michael Nihil zehn hochkarätige Gedichte lang versucht, seinerseits Gott übers Ohr zu hauen, bis er endlich merkt, dass gasförmige Wirbeltiere in der Regel auf den Besitz von Ohren nicht den geringsten Wert legen. Schliesslich präsentiert uns der Prosabeitrag »Jongleure« von Richard Klaus den Weltzirkus in seiner Quiddität: dergestalt, dass der planetenbalancierende Halbgot Rastelli mit einem einzigen Schulterzucken substanziellere Perversitäten aufs Publikum loslässt, als Günter Grass in drei dickleibigen Erfolgswälzern zuwege bringt. Überhaupt ist abseits vom Betrieb – zB. im »Massengrab«, dem Berliner Kulturkeller der Ultimisten – eine ganz andere Literatur entstanden, als die Schulweisheit der Gruppe 47 es sich träumen lässt. In der Einleitung zum ALMANACH, die der Herausgeber Rarisch nicht zuletzt Hans Werner Richter ins Stammbuch geschrieben hat, sind dazu einige unangenehme Wahrheiten nachzulesen. Der Pappmaché-Olymp unserer neudeutschen Literaturpäpste hat sich daraufhin in vornehmes Schweigen gehüllt. Wie pflegte schon Schiller in solchen Fällen hoheitsvoll zu bemerken? »Mut zeiget auch der Mameluck«.

Die Ultimisten lassen niemand im Zweifel, dass »am Menschen Hopfen und Malz verloren ist«, wie es Hans Arp einmal formulierte. Leider lassen sie aber auch Gott im Stich, wenn er zu entscheiden hat, ob er Hopfen und Malz oder lieber Franz den Kaiser erhalten soll. Und so muss denn dieses Problem weiter auf seine Lösung warten. Schade! – Der ULTIMISTISCHE ALMANACH, der nur Erstveröffentlichungen enthält, bringt dank geschickter Raumaufteilung die Substanz von ca. 250 normalen Buchseiten. Dies und die beigegebenen Originalholzschnitte rechtfertigen den Preis durchaus. Wer sich aber zunächst vorsichtig in den ultimistischen Stil einlesen will, sollte zu Klaus M. Rarischs Gedichtband »Not, Zucht und Ordnung« greifen. Der junge Verleger Wolfgang Hake hat sich mit diesen beiden Büchern in einen Dschungel gewagt, während die finanzstarken westdeutschen Verlage ihre Schrebergärten weiter mit tönernen Riesenzwergen bestücken.


eine macabre Zeitschrift
Nr. 11/12 (1966)

Siehe auch
Ultimistisches Manifest
Massengrab
Not, Zucht und Ordnung
Was ist Ultimismus?