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Gerald Sammet
über den
»Schimmelreiter
von Finkenwerder«

Der Schimmelreiter von Finkenwerder


Die Geschichte dieser literarischen Entdeckungsreise unter geblähten Segeln fängt so an: Ein Vater mit Hang zur Schriftstellerei hat eine Tochter und ein paar Lieblingsbücher, zu denen, aus Gründen, die man nicht mitteilen muß, Theodor Storms ›Schimmelreiter‹ gehört. Das Kind Lena, sagt er sich, müsse mit seinen Obsessionen vertraut gemacht werden, bevor die Sache mit dem Deichgrafen Hauke Haien vom grauen Meer während irgendwelcher Leistungskurse für Deutsch in schlechter Gesellschaft zu purer Erziehung mißrate. Also liest er für sie aus dem Buch, bevor ihr andere die Lektüre verordnen. Bei Gelegenheit tut er dies dann auch noch aus einem anderen einmal berühmt gewesenen Roman: ›Seefahrt ist not!‹ von Gorch Fock. Lena, über soviel väterlicher Geneigtheit für Nuancen sensibel geworden, stellt dann aber eine Frage, auf die Antwort schon wegen der ansonsten brachliegenden Familieninstinkte gesucht werden muß: Hat sich da etwa eine zweite Person dazwischengeschrieben? Robert Wohlleben zeigt, daß es so gewesen sein könnte. Er gestattet sich das genauso kindliche Vergnügen, nachzuweisen, daß es eine gar nicht so besonders geheime Verbindung gibt zwischen dem Helden der ›Seefahrt‹, Klaus Mewes, und dem Hauke Haien des Theodor Storm. Und zwar vor allem wegen der Gegensätze, die die Protagonisten in irrlichternde Nähe zueinander bringen. Nicht das Plagiat will er beweisen, sondern die Wirkungen von Literatur.

Daher ist es auch, schon im Titel vorgezeichnet, ein Vexierbild, das Wohlleben in seiner brillanten Spiegelfechterei herbeizuzaubern versteht. Passagen des einen Buchs leuchten auf überaus vertrackte Weise aus dem andern hervor und finden im streng analytisch gehaltenen Erzählfluß dieses dritten wieder zu sich. Beidem wird nachgespürt: der offenkundigen Wahlverwandtschaft und der verräterischen Distanz.

Dies alles ist blitzgescheit geschrieben und vor allem gelesen, zumal Wohlleben weit davon entfernt ist, auf Germanistenart Struktur in Struktur abzubilden, bis man nur noch auf die vermeintlich signifikanten Webfehler schaut. Jede Geschichte geht ihren durchaus eigenen Gang, aber sie geht auch nicht achtlos an der andern vorbei. Man muß sich das vorstellen wie beim Traum in einem Traum: Der Träumer des zweiten kann nicht wissen, wo genau und wie vollständig er sich in seinem ersten befindet. Robert Wohlleben weiß da sehr genau, wovon er redet. Außer dem ›Schimmelreiter‹ zählen zu seinen Lieblingsbüchern auch die Wunderland- und Spiegelwelten des Lewis Carroll.

Selten genug wird man auf eine so unbeschwerte und fast nebensächlich intelligente Weise hinters Licht der einmal gesicherten Erkenntnis geführt. Der Autor versteht was von Charakteren und wie Bücher um sie herum so gebaut werden müssen, daß sie imstande sind, über sich hinaus – ganz seemännisch gesprochen in dem Fall – Fahrt aufzunehmen. Daher gewinnt der Kolportageroman ›Seefahrt ist not!‹ bei ihm für sich zurück, was die Bildungsbürgerei ihm verwehrte: die Plausibilität von mehr als einer leidlich erfolgreich erzählten Geschichte. Man schaut ins Kaleidoskop und läßt sich, manchmal geblendet und weit öfter schon überzeugt, selbst Sätze wie diesen gefallen: »Ich für mein Teil bin dessen gewiß, daß Gorch Focks ›Seefahrt ist not!‹ ein umgeschriebener Schimmelreiter ist. Ob mir nun aber auch Verklarung gelungen ist ...?«

Der Part bleibt bei den Lesern, die nun aber auch gehalten sind, noch einmal ihr geschärftes Auge auf die beiden Bücher zu werfen. Man muß dem Anstifter nicht folgen, aber man darf. So kenntnisreich und unangestrengt auf die Spur einer Obsession gelockt wird man nicht oft, und dies nicht nur nebenbei: So liebevoll ausgestattete und lesbar gemachte Bücher gibt es eigentlich auch schon nicht mehr. Lena möchte man am Ende bloß heißen und Tochter bei Robert Wohlleben sein.


Gerald Sammet


RADIO BREMEN, journal am morgen 2.5.95