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So kam der Teufelsabbiß
zu seinem Namen

Ralf Theniors Landschaftsnotizen

Ralf Thenior: Westerwinkler Hundegras

Ralf Thenior:
Westerwinkler Hundegras
Pendragon-Verlag
Bielefeld 1989


Wie gewinnt ein Pflastertreter das irdische Vergnügen am Landleben? Er zieht aus Kaußens Etagenwohnung dahin, wo ihn die Post auf Umwegen über ein andres Nest mit vierstelliger Postleitzahl erreicht. – Für Ralf Thenior: Schloß Westerwinkel im Münsterland.

Da weht ein Dezemberwind (»blies das Fenster auf / Regentropfen auf dem Schreibblock«), sehen Hunde plötzlich seltsam fremde Tiere (solche mit zwei Rücken?), sind Beete umzugraben, zu hacken und zu wässern (»beim Umgraben / ein altes Tintenfaß / und ein Stein«), kommen die Ameisen in die Sandalen, ist Wasser anzuschauen (»Ende März / die Rotfedern springen wieder«). Ist alles so viel und kostbar … gehört wahrgenommen! Und dann aufgeschrieben: »Westerwinkler Hundegras« hat Ralf Thenior das kleine Buch genannt.

Was ist die Aussaat im Blumentopf – sorgsam in der Stadtwohnung der Stadtsonne hinterhergetragen – gegen das Umpflanzen eines Haselstrauchs?! Was die Begegnung mit Trinkern in der Stadtkneipe (»Trine – zwei Pony, ein Bier!«) gegen dies: »Kleine braune Mäuse mit hellem Brustlatz kommen durch das offene Fenster geklettert …«? Körperempfindungen sind neu zu erkunden: Wind, Kälte, Sonne auf der Haut, die verschiedenen Arten von Muskelkater, Schwitzen, Erschöpfung …

Ralf Thenior hört, sieht, spürt und hält fest: Das war schon vor dem Umzug von Hamburg nach Westerwinkel so. Geschah in Stadtlandschaften. Nachzulesen etwa in den Gedichten der »Traurigen Hurras« oder in den Geschichten von »Der Abendstern, wo ist er hin« und »Radio Hagenbeck«.

In manchen Motiven zeigt das »Westerwinkler Hundegras« unverkennbar dieselbe Handschrift. Der vorbeihuschende Mopedfahrer ohne Kopf im geisterhaften Licht der Schummerstunde von Westerwinkel sieht aus wie ein Verwandter vom plattdeutsch vor sich hin murmelnden Sioux im Dufflecoat unterm Hamburger Abendstern. In den »Traurigen Hurras« der unvergeßliche Alfons aus der Wundertütenfabrik: »wir arbeiten mit Musik, / chinesische Gongs, / sagt Alfons, / Flöten, Gebrüll / und lauter so Sachen …« In Westerwinkel tritt ihm zur Seite der mit jedem redende Franz: »keine Musik mehr, kein Gelächter …«

Also wiedererkennbar. Und doch haben Kopf und Herz sich wohl so verändert, daß Ralf Thenior nicht erbleichen muß. »Stellen« sind im Buch, da ist Schmerz in ein paar Worten (»das Krötenbein / am Spatenblatt«). Woanders wird Pathos nicht vermieden (»unerhörtes Knistern / der windlosen Feuerzungen / des Nachmittags«) … das pfeift auf Ironie. – In früheren Veröffentlichungen wars doch mehr so, daß der Leser die Anrührung auf seine Kappe zu nehmen hatte.

Vor der Fülle der Wahrnehmungen scheint die Scheu vor Wie-Vergleichen abhanden zu kommen: »Herbst liegt wie eine glänzende Kastanie vor der Tür.« – Ja: Es ist seine Kastanie und sein gutes Recht also. Er darf das!

Wie die »Grassamen in Filzverpackung mit Hafthärchen« sich aussäen, kommen Ralf Theniors Bilderschnipsel angeweht. Das ist Windtreibsel von vielerlei Gestalt und Farbe. Sich so und wieder so drehend und wendend, kommt es durchs Blickfeld gesegelt (»die Avione der Disteln«). Nein, es ist kein Puzzle, das sich nach den Stichworten einer Geschichte zum geschlossenen Bild verzahnen will. Die Folge der Bilder und Einfälle sieht vielmehr nach Zufall aus. Insoweit bildet sie ab, wie der Zeitstrom sich wälzt, Wirbel bildend. Die Notizen zu lesen wird selbstverständlich und leicht wie Zufall … wenn’s den denn geben sollte.

Beim Lesen hier und da zum xten Mal dämmerts: Zufall mag am Werk sein – und doch stellen Wellenmuster sich ein, überlagern sich. Von der Autobahn her läßt der nicht endende Treck sein Rauschen hören, schmerzhaftes Tieffliegerdonnern, Regen nach dem Tschernobyl-Grauen in grauer Vorzeit (geschah’s nicht einst am 26. April 1986?) – in der Gegenschwingung Anspielungen auf verschollene Schlichtheit (vielleicht nie gewesen), als Adam grub und Eva spann …

Ein andrer Wellenschlag zwischen Literaturen. Klar: Nachschlagewerke und ihre Naturbeschreibung nach scheckigen Namenslisten müssen ran, wo alles so neu ist: Kletten-Labkraut, Zottelwicke, Gilbweiderich, Pfaffenhütchen, Teufelsabbiß, Ackersenf und Knoblauchrauke. Gekontert sind sie mit epigrammatischen Formen japanischer Dichtung … aus dem andächtigen Verwundern gespeist übers Leben der vom Menschen unabhängigen Wesen und Dinge. Bashō, der große Haiku-Dichter aus dem 17. Jahrhundert, wird zitiert.

Und da ist es ein so perfid gelungener Trick, wenn Ralf Thenior im Fließtext und ohne irgendwelche Kennzeichnung ein perfektes Haiku (3 Zeilen: 5 Silben – 7 Silben – 5 Silben) einschmuggelt: »Quietschendes Fahrrad, das sich von hinten nähert: ein kleiner Vogel.« – Aber bevor sie auffliegt, gesteht der Rezensent die Fälschung, die ihm Spaß gemacht hat: Im Buch steht nämlich: »Das quietschende Fahrrad, das sich von hinten nähert, ist ein kleiner Vogel.«

Und dann ist da noch die schmerzhaft schöne Erlösungs-Legende, wie der Teufelsabbiß zu seinem Namen kam … alles selbst nachlesen!

Robert Wohlleben

Park
14. Jg., Nr. 37/38 (1990)

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