Zu www.fulgura.de mit Navigations-Kolumne

Berlin in Meyers Großem Konversations-Lexikon, 6. Auflage
Meyers Großes Konversations-Lexikon, 6. Aufl., 2. Bd. (Astilbe bis Bismarck), Neuer Abdruck, 1905: Karte »Berlin mit den Vororten«

Berlin wächst

Im Tiergarten hatten Arno Holz und Paul Ernst einen Leutnant reiten sehen und verabredet, daß jeder für sich die Beobachtung in einem Gedicht behandeln solle. Die Ergebnisse sind besonders luzides Beispiel für »Parkbankdichtung«. [1] Georg Stolzenberg erinnerte sich an ein ähnliches Erlebnis mit Arno Holz:

    Wir plauderten über die untere Grenze der noch möglichen Gedichtstoffe und stellten fest: Diese bestimmt jedesmal die Gabe des Gestalters.
    Das geschah in trostlos öder Landschaft. Links langweilte das kahle Rund einer Gasanstalt, in der Ferne blinzelten im Abendrot die Fensterchen einer Mietskaserne wie entzündete Augen, und vor uns hügelte sich ein Abladehaufen. Aus Müll und Mull, Schlick und Scherben, Schmutzklumpen und Kleiderlumpen stachen verrostete Bratpfannen und blänkerte zerbogenes Blechgerät; zwischen regenverschwollenen Resten eines Buches und Gipsstücken eines zerklackerten Griechengottes, schimmelte, streckte die Pfoten und glotzte mit übergroßen Augen eine Katze.
    Da starrte, stäubte, stank ja solch ein Gegenstand. Und wir gaben uns auf, ihn zuhause, in aller Ruhe und je nach Eigenart, zu behandeln.
    Ich – verzichtete. [2]

»Holz jedoch leistete höchstes mit seinem Stimmung atmenden« Gedicht »Wie verwunschenes Abseitsgelände«, fährt Stolzenberg fort und zitiert Überschrift und Text aus der Phantasus-Nachlaßfassung, wie sie 1961 bei Luchterhand im Druck erschien. [3] Holz hatte das Gedicht – wie in der Ausgabe letzter Hand von 1924/25 noch ohne Überschrift – zuerst in die Folioausgabe des Phantasus von 1916 aufgenommen. Der ursprünglichen Fassung zeitlich näher als die umfänglicheren späteren, ist die dortige noch relativ kurz:

Hinter verrosteten Drahtzäunen, wo die Dachpappen faulen,
zwischen zerbröckelnden Ziegeln und altem Gerüll,
blühen die seltsamsten Blumen.

Blaue, winzige, die wie Topfscherben blinken,
bunte, die wie Schlangen schillern, purpurne aus Schmetterlingsflügeln,
hohe, steile aus kaiserlich chinesischem Drachengelb,
schwarze, silbrige wie auf Sarkophagen!

Durch das vermickerte Gezweig
eines sonderbaren Bäumchens,
aus den Fenstern eines fernen Häuserrands,
funkelt
die Abendsonne.

Ein kleiner Vogel, den ich noch nie gehört habe,
singt.

Schweigt – singt. [4]

1896 waren Arno Holz und Paul Ernst nach Deutsch-Wilmersdorf gezogen, damals noch nicht zu Berlin gehörend, sondern Dorf im Regierungsbezirk Potsdam. Pariser Straße 52, Hinterhaus, 3. Stock. Paul Ernst dazu:

    Wir beschlossen, zwei kleine Wohnungen, jede von drei Zimmern mit Küche und Baderaum zu mieten, die in demselben Hause lagen, und ich sollte mich zu Holz für einen festen Preis in die Kost geben. […] Wir fanden Wohnungen von der gewünschten Art, die nur durch den Flur getrennt sich gegenüberlagen, in der Pariser Straße in Wilmersdorf. Die Wohnungen lagen im Hof, dort »Garten« genannt; aber sie hatten von der Rückseite einen stundenweiten Blick, denn unsere Straße war damals die äußerste an der Stadtgrenze; aber schon waren in die sandige Ebene hinaus neue Straßen gepflastert und mit Wasserleitung und Abzügen versehen, und Laternen standen an den Straßenrändern und wurden abends angesteckt. [5]

Das Haus liegt am nordöstlichen Rand des damals noch unbebauten spitzwinkligen Dreiecks mit den Bahnhöfen Halensee im Westen, Savigny-Platz im Norden und Schmargendorf im Süden als Eckpunkten. Da war das stadtquartiergroße Bauterrain, über das Arno Holz und Paul Ernst aus ihren Wohnungen hinsehen konnten, Holz bis Ende 1901. [6] Der Stadtplan in Band 2 (1905) von Meyers Großem Konversations-Lexikon, 6. Auflage, zeigt es noch ohne Baulichkeiten. Von diesem Gelände aus war die Städtische Gasanstalt an der Ringbahnstraße zu sehen, die Mietskaserne mit den vom Abendrot entzündeten Fenstern mag in der – die Pariser Straße kreuzenden – Emser Straße gestanden haben.

Es läßt sich denken, daß Holz nicht nur einmal mit Besuchern in diesem Gelände unterwegs war. Nicht mehr unberührt, noch nicht plangemäß gestaltet, sind solche Gelände in ihrer Unfertigkeit »interessant«, je nach Sichtweise abstoßend oder begeisternd. Ich meine annehmen zu dürfen, daß Stolzenberg und Holz bei ihrem abendlich perambulatorischen Gespräch nicht allein waren, sondern mindestens Robert Reß zur Gesellschaft hatten … der nicht verzichtete:

Um Halensee rum,
im neuen Bauterrain,
kreuzen sich hundert Strassen.

Noch weht frei der Wind
über Sand, Zäune und Grasplätze.

Prustend wuchtet über die Schienen die Dampfbahn.

Zwischen mageren Stämmen,
die ängstlich an ihren Stangen kleben,
zerflattert ein letztes Dunstwölkchen.

Durch den verblassenden Abend
surrt ein Mistkäfer. [7]

Oder Reß hatte die Großbaustelle schon bei anderer Gelegenheit erkundet und konnte mit dieser Kenntnis in den »Dichterwettstreit« eintreten.

Halensee paßt zu Stolzenbergs Geländebeschreibung, Ressens prustende Dampfbahn ist dann auf der an der städtischen Gasanstalt vorbeiführenden Ringbahn unterwegs, und Paul Ernsts Beschreibung des Ausblicks über das noch unbebaute Areal läßt sich – nach Holz und Reß – dahingehend ergänzen, daß über Wasserversorgung, Kanalisation und Straßenbeleuchtung hinaus mit den Jungbäumen auch schon an Stadtbegrünung gedacht war. Reß hört am Schluß einen Mistkäfer surren, womöglich in ironischem Kontrast, in direkter Bezugnahme also, zu dem, was Holz – »poetischer« – am Schluß seines Gedichts hört.

Hans Baluschek: Neue Häuser (1895)
Hans Baluschek: Neue Häuser (1895)

Dem Parallelgedicht von Robert Reß nach zu schließen, stammt Holzens Gedicht übers »Abseitsgelände« aus den Jahren 1897 bis ’99, Zeit der regelmäßigen Arbeitssitzungen in seinem Arbeitsraum oben unterm Dach. Daß es nicht in den beiden Phantasusheften vorkommt, bedeutet nicht unbedingt, daß es später entstanden wäre. Holz hatte einiges in der Schublade belassen. Zum Beispiel ist nachweisbar, daß ein schon damals verfaßtes Gedicht erst 1916 in die Folioausgabe einging, in der Nachlaßfassung dann das erste der drei Gedichte mit der Sammelüberschrift »Herbst im Tiergarten«. [8] Es gehört zu den »Zehn Gedichten von Arno Holz«, die 1898 das Novemberheft der Wiener Kunstzeitschrift »Ver sacrum« eröffneten. Das im Januar 1898 in der »Jugend« (3. Jg., Nr. 3, 15. 1. 1898) erschienene Gedicht »Um die Venus am Goldfischteich« ging überhaupt nicht in spätere Phantasus-Fassungen ein.

Robert Wohlleben


Baluscheks Bild »Neue Häuser« wiedergegeben nach: Hans Baluschek 1873–1935. Berlin: Staatliche Kunsthalle Berlin 1991, S. 36.
1] S. RW: Der Leutnant im Tiergarten. Oder: Die Parkbank als literarische Methode.
2] Stolzenberg, Arno Holz und ich. Gedenkblätter. Berlin-Friedenau: Arno-Holz-Archiv 1937, S. 15 f.
3] Arno Holz: Werke. 7 Bde. Hg. v. Wilhelm Emrich und Anita Holz. (Neuwied, Berlin-Spandau): Luchterhand 1961–1964, Bd. 1, S. 347 f.
4] Arno Holz: Phantasus. Leipzig: Insel-Verlag 1916, S. 79.
5] Paul Ernst: Entwicklungen. Hg. v. Karl August Kutzbach. München: Claudius 1966, S. 303 f.
6] S. Klaus M. Rarisch: Die Berliner Adressen von Arno Holz. – Pariser Straße 52, wo Holz und Ernst im Hinterhaus wohnten, befindet sich im bebauten Areal, das von Uhlandstraße, Pariser Straße, Fasanenstraße und Düsseldorfer Straße begrenzt ist.
7] Robert Ress: Farben, Berlin, Johann Sassenbach 1899, S. 27.
8] Holz, Werke, Bd. 1, S. 369 f.

(Die Gedichte von Martens, Piper, Reß und Stolzenberg sämtlich enthalten in Antreten zum Dichten! Lyriker um Arno Holz. Rolf Wolfgang Martens, Reinhard Piper, Robert Ress, Georg Stolzenberg, Paul Victor. Hg. v. Robert Wohlleben. Leipzig: Reinecke & Voß 2013. Dort fortlaufend wiedergegeben, Seitenzählung der Hefte in den Randspalten.)


Rechte bei Robert Wohlleben